Beiträge von Flavia Nigrina

    Und von einem Moment auf den anderen war das Chaos in ihrem Kopf wie weggefegt. Da war nichts mehr von all den Gedanken und Fragen und Überlegungen. Es gab, für sie zumindest, kaum ein besseres Ventil für Frust, Ärger oder sonst etwas, was sie aufregte, als sich mit ihrem Mann zu vereinigen, auf genau die animalische Art, die jetzt aus ihnen herausbrach und für nichts mehr Raum ließ außer Leidenschaft. Das einzige was blieb war die Lust, das Feuer, das Sextus in ihr entfachte, der heiß lodernde Wunsch nach Rache und das noch heißer lodernde Begehren nach ihm. Ihr war völlig gleich, dass sie sich im Atrium befanden. In diesem Augenblick hätten sie sich sonst wo befinden können, und sie hätte sich trotzdem bereitwillig von ihm nehmen lassen. Ohne Rücksicht auf Verluste zerrte sie an seiner Kleidung, genügte doch auch ihr nicht das bisschen freie Haut, das sein Hals bot, umschlang ihn mit ihren Beinen, kaum dass er das möglich gemacht hatte, trieb ihn an, mit unartikulierten Geräuschen, Berührungen, Bewegungen. Und sie zerbarst in Flammen unter seinen Forderungen, seiner Rohheit, jedenfalls hatte sie das Gefühl, während sie alles gab und alles nahm.


    Sie hielt ihn immer noch umklammert, während sie langsam wieder zu Atem kam, genoss die fortdauernde Nähe, die abklingende Hitze, sogar den vagen Schmerz, der in Teilen ihres Körpers aufgeblüht war bei der groben Behandlung... was sie auch dann nicht bereit war aufzugeben, als ein Räuspern erklang und anzeigte, dass sie nicht mehr allein waren – und keineswegs irgendwelche Sklaven da waren, die es mit Sicherheit nicht gewagt hätten, sie jetzt zu stören. Die einzige Reaktion allerdings, die von Nigrina kam, war ein leichtes Drehen ihres Kopfes, der an Sextus' Schulter ruhte, so dass sie den Störenfried betrachten konnte. Bei der Gelegenheit fiel ihr auf, dass ihr Mann rote Abdrücke auf seiner Schulter hatte... oh. Musste sie ihn wohl im Eifer des Gefechts gebissen haben, ohne es überhaupt zu merken. Während ihr Blick immer noch auf dem Kerl haftete, seine Reaktion, seinen Blick in sich aufsog, senkte sie ihren Mund auf das Mal und liebkoste das Stück Haut mit Lippen und Zunge. Sie stellte fest, dass ihr der Gedanke beinahe gefiel, dass der Störenfried möglicherweise schon länger da gewesen war... und gesehen hatte, was er nicht bekommen würde. Erst als der Fremde ging und ihr Mann sich nun ihrer Haut widmete, ließ sie ab von ihm, lehnte ihren Kopf an die Säule und streckte ihren Hals.


    Was ihr Mann dann von sich gab, drang nur langsam in ihr Bewusstsein vor, aber als es das tat, war es durchaus dazu angetan, einen Teil dieser herrlich satten Zufriedenheit verfliegen zu lassen. Da war ja noch was. Tarquinia. Sie wollte nicht nach Tarquinia. Jetzt noch viel weniger, wo ihr gerade erst massiv vor Augen geführt worden war, auf was sie verzichten musste, wenn sie von Sextus getrennt wurde – und das womöglich für lange, lange Zeit. Sie wollte einfach nicht! Sie stöhnte leise auf, als Sextus sie ein letztes Mal gegen die Säule presste, lustvoll, aber auch ein wenig schmerzerfüllt, weil ihr Rücken protestierte gegen die neuerliche harte Behandlung. Als er sie dann hinunter ließ, blieb sie dennoch an ihn gelehnt weiter da stehen, ohne sich um ihre Blöße zu scheren, die durch das zerrissene Oberteil ihres Kleids zustande kam, das nur noch von dem schmalen Gürtel gehalten wurde. Mit jetzt wieder zärtlichen Fingern strich sie an einem Riss in seiner Tunika entlang, schob den Stoff beiseite und presste ihre Lippen auf die Haut darunter, knabberte daran. „Nimm mich mit. Nach Mantua.“ Ihre Stimme klang nicht nach einer Frage, obwohl es im Grunde eine war – selbst wenn er zuließ, dass sie ihre eigene Entscheidung über ihren Aufenthaltsort traf, hieß das noch lange nicht, dass er zuließ, dass sie ihn begleitete. Noch ein Kuss, dann sah sie auf zu ihm. „Mit Ursus als Teil eurer Verschwörung haben wir in Mantua die ganze Legio I um uns herum. Klingt für mich sicherer als Tarquinia... jedenfalls für mich.“ Der Fratz konnte gern zu den Cilnii geschickt werden. Irgendwann würde er sowieso dahin kommen, und sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich irgendjemand für ein Kleinkind interessieren würde. Darüber hinaus... „Für Lucius wäre es auch sicherer. Wenn nur er nach Tarquinia gebracht wird, kann dein Lehrer mit etwas Glück ganz verschleiern, wem er Unterschlupf gewährt. Bin ich dabei, dürfte das schwer werden.“ Schon allein, weil sie gar nicht einsehen würde, sich für jemand anderen auszugeben als sie war. Und wem wollte sie schon etwas vormachen? Sie war eine Flavia. Sie stammte von Kaisern ab! Blut wie dieses ließ sich einfach nicht verleugnen! Und auch wenn die Wahrscheinlichkeit gering sein mochte, dass der Vescularius sich auf den Weg nach Tarquinia machte, um sich zwei wertvolle Geiseln zu krallen, die er bei gleich zwei Familien als Druckmittel einsetzen konnte... ganz von der Hand zu weisen war es eben doch nicht, dass er das tat. Nein, je länger sie darüber nachdachte, desto besser fand sie eigentlich ihre Idee. Auch wenn die zunächst nur daraus geboren worden war, dass sie nicht nach Tarquinia wollte. „Und wenn es in Mantua zu gefährlich wird, steht mir der Weg nach Tarquinia oder an einen anderen Ort immer noch offen.“

    Nigrina presste die Lippen aufeinander, als ihr Mann jetzt zur Abwechslung wieder er selbst wurde und es für nötig hielt, auf irgendwelche logischen oder sprachlichen Ungenauigkeiten bei ihr einzugehen. Natürlich war sie nicht davon ausgegangen, Gracchus oder sonst einer von ihnen wäre selbst mit dem Dolch in der Hand zum Kaiser marschiert, oder dass die Praetorianer jetztsofortgleich hier auftauchten, wie konnte er ihre Formulierung dahingehend nur wörtlich nehmen? Aber das tat er irgendwie jedes Mal, und Nigrina wusste nicht, ob er sie damit nur ärgern wollte oder tatsächlich nach wie vor glaubte, sie würde so was in so einer Situation wörtlich meinen. Wo über das eigentliche Gesprächsthema in ihr immer noch Fassungslosigkeit vorherrschte, so sehr, dass sie ihre Gedanken bei weitem noch nicht genug geordnet hatte um das wirklich in seiner ganzen Tragweite zu fassen, konnte sie sich durchaus über diese Kleinigkeit aufregen. Ganz wie gewöhnlich. Mehr noch: diese Kleinigkeit war ein, wenn auch nur winziges, Ventil für diese Fassungslosigkeit, unter der in ihr alles zu zittern und zu beben schien. Ihre Miene verfinsterte sich. Natürlich nicht ihr persönlich“, zischte sie zurück – als sie dann aber hörte, dass der Kontakt zum eigentlichen Mörder über ihre Familie zustande gekommen war, war sie erst mal wieder sprachlos. Wurde ja alles immer besser, immer schöner. Nigrina fuhr sich über den Mund und ging ein paar Schritte hin und her, während Sextus weiter sprach.
    „Nein, Rom ist keine Alternative“, murmelte sie abwesend, während ihre Gedanken erneut rasten, die verschiedenen Anwesen ihrer Familie durchgingen, die verschiedenen Orte, wo sie hin könnte. Rom war da definitiv nicht dabei. Sextus faselte derweil irgendwas von Scheidung, und Nigrina sah kurz zu ihm. Scheidung? Auch nein. Das war ungünstig, wo ihre eigene Familie so tief verstrickt war, tiefer als ihr Mann, wie es schien. Da war es vermutlich doch erst mal besser abzuwarten, was aus dieser ganzen Geschichte überhaupt werden würde. Andererseits, was sollte schon großartig daraus werden, wenn der Praefectus Urbi tatsächlich – wie Sextus anzunehmen schien – so oder so auf ihre Vetter kommen würde? Das war... zu vertrackt. Zu... zu ausweglos! Wie hatte das nur so schief gehen können, hatte da keiner der Kerle mit gerechnet? Keiner irgendwelche Vorkehrungen getroffen? War das zu schlecht geplant gewesen oder hatten die Götter ihre Finger im Spiel gehabt? Nigrina presste die Lippen aufeinander und hörte weiter zu, und so sehr ihr das missfiel, sie musste Sextus Recht geben. Die Landgüter ihrer Familie kamen nicht in Frage, keines davon, eben aus jenem Grund, den er anführte: der Vescularius würde dort nach ihren Verwandten suchen. Verdammt. Verdammtverdammtverdammt! Hieß das tatsächlich, dass Tarquinia als einziger Ort übrig blieb? Abgesehen von seinen Eltern, aber dahin wollte sie aus unterschiedlichsten Gründen nun wirklich nicht, und die Sorge wo sich der Marius hinwenden könnte rangierte bei ihr nur unter ferner liefen – angefangen damit, dass es seine Eltern waren und sie nicht die geringste Lust darauf hatte, die liebe Schwiegertochter zu spielen, bis hin zu dem Fakt, dass die Reise dahin viel zu lange dauerte für ihren Geschmack. Tarquinia war eindeutig das kleinere Übel. Aber sie verfluchte den Umstand, dass sie nicht einfach nach Ravenna zu ihrem Vater gehen konnte. „Tarquinia also“, stellte sie unzufrieden fest. Warum? Warum? Warum jetzt, warum so, warum sie?


    Ihr Kopf schien immer noch ein rasendes Gedankenchaos zu sein, in dem sie nur bestimmte Wege klar und vernünftig betrachten zu können schien – nämlich die, die für die jetzige Situation unabdingbar nötig waren. Alles andere... tobte wild durcheinander, aber immerhin, immerhin konnte sie das erst mal ignorieren, wenn sie sich konzentrierte. Sie sah wieder zu ihrem Mann, der nun ihre letzte Frage beantwortete. Und diesmal lief ihr beim Klang seiner Stimme ein Schauer über den Rücken, der intensiver wurde, je länger er sprach. Sie konnte nicht anders, als ihn weiterhin anzusehen, hatte das Gefühl, dass sein Blick den ihren gefangen nahm, ebenso wie seine Worte sie fesselten. Das war das, was sie hatte hören wollen. Dass er sich das nicht gefallen lassen würde. Dass er Rache üben würde für das, was hier gerade passierte, für das, wozu dieser Homo novus sie zwang. Und als er sein Versprechen mit einem Kuss auf ihre Fingerspitzen besiegelte, war es mal wieder um sie geschehen. Das war genau der Grund, warum sie diese Ehe als Glücksfall betrachtete, warum sie trotz all seiner Fehler und Macken und unendlich nervigen Angewohnheiten trotzdem gern an seiner Seite war, und nicht nur weil ihr Vater das so wollte – warum sie sich sogar angepasst hatte an ihn, an seine Wünsche und Erwartungen. Weil er ein Mann war, der es fertig brachte, ihr zu schwören Rache zu üben, blutige Rache, so wie er klang, während er sich gleichzeitig so charmant gab, als würde er ihr ein Kompliment machen. Götter, sie wollte ihn, am liebsten hier und jetzt. Sie überbrückte auch noch den letzten kleinen Abstand zwischen ihnen, presste ihren Körper an seinen, stellte sich auf die Zehenspitzen, legte eine Hand an seine Wange und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. „Lass ihn bluten. Und heb eine Trophäe auf“, murmelte sie an seinen Lippen.

    Nigrinas Lächeln wurde geschmeichelt. Nur ein Händler, ja. Aber einer, der sich vorzüglich zu benehmen wusste... Sie nickte ihm huldvoll zu und nahm Platz auf einem der bereit gestellten Sessel, ließ sich ihr bevorzugtes Weinwassergemisch reichen – dass der Händler bereits etwas erhalten hatte, fiel ihr gar nicht wirklich auf, weil sie das für selbstverständlich hielt –, und machte dann eine auffordernde Geste, die Pharasmanes bedeuten sollte zu beginnen. „Zeig mir, was du dabei hast...“ Durchaus mit Kennerblick musterte sie den ersten Sklaven, den der Mann vorstellte. Die schwarze Haut schien im Licht zu glänzen, und eine flavische Augenbraue wölbte sich leicht nach oben, als die Tunika fiel und sie einen freien Blick auf den Körperbau hatte. Sie selbst allerdings winkte ab, als Pharasmanes anbot, dass sie ihn eigenhändig würde begutachten können. Wer war sie, dass sie selbst Hand anlegte an Sklaven? Mit einem Wink bedeutete sie ihrem Parther, der nebst ein paar anderen Sklaven ebenfalls anwesend war, das zu übernehmen, und gehorsam trat der vor, betrachtete den Schwarzen von nahem, ging um ihn herum und tastete über verschiedene Muskelpartien. Mit einem Nicken machte er wieder einen Schritt zurück, aber Nigrina... hatte trotzdem ihre Zweifel.


    „Tatsächlich...“ kommentierte sie die Bemerkung, dass der Sklave keine... unangenehmen Folgen bei gewissen Vergnügungen hinterließ. War für sie allerdings ohnehin uninteressant, denn von den Vergnügen, von denen der Händler sprach, würde sie nicht viel haben. Sie gedachte nicht, sich von Sklaven auf diese Art anfassen zu lassen, von männlichen Sklaven hieß das. Sklaven waren... zu sehr unter ihrer Würde, um mit ihnen ins Bett zu steigen. SklavINNEN waren was völlig anderes. Eine Frau war einfach nicht so... so... animalisch wie ein Mann. Und eine Frau hatte auch nicht unbedingt ihren Spaß dabei, einer anderen Frau Befriedigung zu verschaffen. Ganz im Gegensatz zu Männern, bei denen es ja nun leider im Regelfall nicht anders ging, und Nigrina würde einen Dreck tun und sich und ihren Körper einem Sklaven derart zur Verfügung zu stellen. Das war... das ging gar nicht. Allein die Vorstellung war schon gruselig. Neinein, ihr Mann – der zum Glück seinen Pflichten in dieser Hinsicht sehr zufriedenstellend nachkam, sie wollte sich gar nicht vorstellen worauf sie hätte ausweichen müssen, wenn es anders gewesen wäre – reichte ihr da völlig, und wenn Sextus mal keine Zeit hatte oder sie selbst keine Lust auf einen Mann, sondern einfach nur darauf, sich verwöhnen zu lassen, dann war da immer eine Sklavin, die dafür herhalten konnte.
    Und davon mal ganz abgesehen: sie hatte muskulöse Sklaven. Sie hatte ja sogar einen Gladiator, auch wenn der als Dimachaerus nun nicht zu den Muskelpaketen gehörte. Gut, sie hatte noch keinen Schwarzen, keinen von dieser tiefdunklen Farbe, der Ianitor war ja nicht ihrer... aber irgendwie... zündete es nicht so recht. Nigrina bezweifelte einfach, dass der Kerl ihr wirklich die Abwechslung würde bringen können, die sie wollte. Nein, der sah zwar so aus als ob er sehr nützlich sein könnte – aber hätte sie einen nützlichen gewollt, hätte sie sich eben einen flavischen geholt. Nützlich also vielleicht, aber mit Sicherheit würde der schon nach ein paar Tagen langweilig werden. „Nun...“ Sie schenkte Pharasmanes ein Lächeln. „Sicher ein interessantes Exemplar... was hast du noch?“

    „Danke“, antwortete Nigrina und erwiderte sein Nicken. Nicht allerdings das Lächeln. Danach war ihr nicht im Mindesten zumute, und sie hatte auch keinen Nerv dafür im Augenblick, so zu tun als ob. Sie folgte dem Sklaven, den Gracchus herbei geordert hatte, folgte ihm in die Eingeweiden der flavischen Villa, hieß ihn einen weiteren Sklaven losschicken zur Villa Aurelia, um andere Kleidung von ihr zu holen, hieß ihn das Balneum vorzubereiten, weil sie das dringende Bedürfnis hatte sich zu waschen, zu baden, das Blut und den Schmutz und die ganze Unreinheit, die mit dem Tod einherging, wegzubekommen von ihrem Körper, und es war ihr völlig gleichgültig, dass das hier nicht mehr ihr Zuhause war. Sie war eine Flavia, sie würde hier immer willkommen sein, davon ging sie fest aus. Sie musste den Tod los werden. Und sich das Leben in Erinnerung rufen...

    Nigrina gefiel nicht, wie ihr Mann auf sie wirkte. Sein Tonfall gefiel ihr noch weniger... aber wo sie ihm sonst wenigstens einen scharfen Blick zugeworfen hätte, wirkte es für den Moment eher... noch beunruhigender. Sextus machte nie etwas ohne Grund. Nie. Auch nicht einen solchen Ton ihr gegenüber anschlagen. Natürlich gefiel ihr das deswegen keinen Deut besser, aber das Wissen darum, dass er nichts ohne Grund tat, oder jedenfalls ohne etwas, was er für einen Grund hielt, half ihr mittlerweile, sich zu beherrschen. Meistens.
    Sie kam also langsam näher, und dann geschah etwas, was ihre Unruhe noch steigerte: er fügte ein Bitte hinzu. Im Nachhinein. Das war... das klang so, als sei ihm diesmal der harte Ton tatsächlich einfach so passiert, und das war, angesichts eben jener nichts-ohne-Grund-Angewohnheit, nicht mehr einfach nur beunruhigend – es war alarmierend. „Was ist los?“ fragte sie, während sie sich setzte, aber ihr Mann ließ sich noch ein wenig Zeit, trank einen Schluck... bevor er dann schließlich das Wort ergriff. Und als Nigrina hörte, was er zu sagen hatte, da war sie... fassungslos. Notstand. Weil der Kaiser tot war. Das hieß Randale in den Straßen. Wütender Mob. Kein normales Leben mehr möglich, nicht auf absehbare Zeit. Fragen brannten ihr auf den Lippen, aber keine davon war wirklich vollständig, und so sprach sie keine davon aus. Sextus hätte ohnehin nicht positiv darauf reagiert, das hatte er noch nie, wenn sie ihn unterbrach, und im Moment... wenn sie einfach herum stotterte... Sextus allerdings schickte erst mal die Sklaven fort, und währenddessen atmete sie tief ein. In Ordnung. Kaiser tot. Notstand verhängt. Das war alles... das war kein Weltuntergang. Sie würden da irgendwie durch kommen, Sextus hatte sicher einen Plan, was sie als nächstes tun sollten. Sextus hatte immer einen Plan. Darauf hatte sie sich bisher noch stets verlassen können, darin war er ihrem Vater so herrlich ähnlich.


    Gerade als sie jedoch glaubte, dass er sie über seinen Plan für die nächsten Tage und Wochen in Kenntnis setzen wollte, um ihn anschließend – wie üblich ohne sie überhaupt erst zu fragen – in die Tat umzusetzen, hörte sie diese vier kleinen Worte, die in dieser Situation, mit der gerade erst verkündeten Neuigkeit, unglaublich bedrohlich klangen: da ist noch mehr. Und Nigrina wurde kalt. Mehr. Mehr? Mehr als: der Kaiser ist tot, der Notstand wurde ausgerufen, der Vescularius reißt die Kontrolle an sich? Das allein war doch schon übel genug, und ihr Mann kam mit noch mehr an? Das konnte nichts Gutes bedeuten. Konnte es einfach nicht.
    Tat es auch nicht. Und jetzt war Nigrina... wenn sie zuvor fassungslos gewesen war, dann gab es wohl kein Wort, das hätte beschreiben, was sie jetzt empfand. Ihre Gedanken rasten, und trotzdem fühlte sich ihr Kopf seltsam... leer an, weil sie keinen einzigen davon zu fassen imstande war. Während Sextus sprach und noch für Momente danach war es schlichtweg zu viel, was er ihr da präsentierte. Und dabei fing es nach dieser unheilschwangeren Einleitung ja noch so harmlos an: nämlich in der Tat mit einem Plan. Ihren Sohn wollte er nach Tarquinia schicken. Wunderbar. Das war völlig zweitrangig, irgendwann wäre der Fratz sowieso fortgeschickt worden, und es war ja nur vernünftig, ihn in der augenblicklichen Lage aus Rom fortzuschaffen. Wenn Nigrina ehrlich war, war sie selbst auch nicht unbedingt scharf darauf, hier zu bleiben, aber das wiederum war Sextus' Entscheidung. So eigensinnig Nigrina sonst manchmal auch war – in wichtigen Dingen stand für sie überhaupt nicht zur Debatte, wer das Sagen hatte.
    Aber was dann kam, war kein Plan mehr. Das war ein Geständnis... der übelsten Sorte. Und Nigrina saß da und starrte ihren Mann erst mal nur mit offenem Mund an. Und einem Kopf, in dem es tobte. Verschwörung. Er sprach von einer Verschwörung. Um den Kaiser zu ermorden. In der er die Finger drin gehabt hatte. Und sein Patron. Und IHR Vetter! Und noch einer ihrer Verwandten, und zwei weitere von seinen... An diesem Punkt konnte Nigrina nicht mehr. Es ging nicht. Sie brachte es nicht fertig, ruhig sitzen zu bleiben und sich das alles in aller Seelenruhe anzuhören, und so stand sie auf, gar nicht mal hektisch, im Gegenteil sogar äußerlich recht ruhig, und ging ein paar Schritte. Als sie stehen blieb, leicht seitlich zu ihrem Mann, stützte sie eine Hand an der Hüfte ab, während sie die andere gegen ihre Stirn presste. „Du... hast...“ Sie waren verloren. Allesamt. Sie eingeschlossen. Nigrina machte sich nichts vor – sie war die Frau eines und die Verwandte zweier Verräter. Wenn das herauskam, war ihr Schicksal genauso besiegelt wie das der Männer, die ihre Finger da im Spiel gehabt hatten. Und sie hatte noch nicht einmal etwas davon gewusst!


    An dieser Stelle versuchte Nigrina, die Raserei hinter ihrer Stirn irgendwie zu stoppen. Ein wenig Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Was gar nicht so einfach war... nicht bei dieser Ungeheuerlichkeit, die sie gerade eben erfahren hatte. Den Kaiser ermorden! Den Vescularius, ja, aber warum um alles in der Welt den Kaiser, das war doch... das war... das... war... genial, begriff sie, als weitere Worte schließlich zu ihrem bewussten Verstehen durchsickerten. Genial, wenn es so funktioniert hätte, wie ihr Mann angedeutet hatte. Bessere Machtverteilung, und eine Klinge an der Kehle des Fettsacks. Sie hatten ihm die Schuld in die Schuhe schieben wollen, und das hätte sogar funktionieren können, der Vescularius hatte sich immerhin Feinde genug gemacht. Es hätte sie mit einem Schlag von einem kränkelnden Kaiser befreit und von einem Homo novus, der schon viel zu lange die Geschicke Roms in seiner Hand hielt. Götter... warum hatte das schief gehen müssen? Sie wandte sich zu Sextus um und sah ihn an. „Du... sagst mir also grade, dass ihr den Kaiser umgebracht habt. Du. Gracchus. Flaccus“, fasste sie zusammen. „Und noch ein paar. Das... Ist das bekannt? Tauchen hier bald die Praetorianer auf?“ Sie war immer noch fassungslos, hatte immer noch das Gefühl, irgendwie neben sich zu stehen. Hatte das Gefühl, dass immer noch Chaos in ihrem Kopf herrschte. Sie musste Schritt für Schritt vorgehen, musste irgendwie ihr Hirn wieder vernünftig zum Funktionieren bringen. Eins nach dem anderen. Er wollte sie auch wegschicken, aus Rom, was aber fast danach klang, als ließe er ihr die Wahl... jedenfalls die Wahl des Ortes. „Was wenn nicht? Welche Orte bieten sich noch an?“ Nigrina war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie in Tarquinia bei der Familie seines alten Lehrers Unterschlupf finden wollte. „Und... was ist mit dir? Was wirst du tun?“ fragte sie schließlich.

    Nigrina war übel. Konnte das wirklich sein? War ihr in dieser Schwangerschaft tatsächlich mehr und länger übel als in der letzten – oder war das nur Einbildung? Sie konnte sich nicht so recht entscheiden, aber im Grunde war es auch egal. Es war nun mal so... und die Sklaven waren die Hauptleidtragenden.
    Wenigstens hatte Sextus sie diesmal nicht so bescheuert zur Rede stellen können wie bei der ersten Schwangerschaft, denn diesmal hatte sie nicht so lange gewartet, bis irgendwer hatte petzen können. Sie hatte ihm schon vor ein paar Wochen gesagt, dass sie wohl wieder ein Kind erwartete, gleich nachdem sie die Hebamme hatte kommen lassen und die ihr gesagt hatte, dass ihr Verdacht wohl richtig war. Und: für diesen Tag schien die Übelkeit auch vorbei zu sein. Oder wenigstens für den Moment. Und in diesen Wochen lebte Nigrina quasi nur von Tag zu Tag... oder von Moment zu übelkeitsfreiem Moment. Die, die sie hatte, musste sie genießen – ohne an den nächsten Moment, den nächsten Tag zu denken, weil ihr das nur komplett die Laune vermiesen würde.


    Entsprechend war sie gerade also recht gut gelaunt und genoss es, dass es ihr zur Abwechslung gut ging. Jeglicher Versuch der Sklaven, mit ihr zu sprechen, hatte sie abgeblockt. Sie wollte einfach nichts hören jetzt, nichts, was ihr die Stimmung verderben könnte, und Nigrina war gut darin auszuklammern, was sie nicht hören wollte. Vor allem wenn es von irgendwelchen Sklaven kam. Als allerdings dann einer wie ein aufgeschrecktes Huhn hereinplatzte und stammelnd – und bevor sie ihn zurecht weisen konnte – ausstieß, dass ihr Mann sie gleichsofortganzfurchtbardringend im Atrium sehen wollte, wurde sie dann doch ein wenig... nun ja. Wachsam. Ohne dem Sklaven zu antworten stand sie auf und machte sich auf den Weg ins Atrium – wo Sextus tatsächlich auf sie wartete. Und... unruhig wirkte. Sie kannte ihren Mann. Irgendwas war ganz und gar nicht in Ordnung, nicht, wenn sie ihm anmerken konnte, dass er unruhig war. Zum ersten Mal schwante ihr, dass sie den Sklaven zuvor vielleicht doch hätte zuhören sollen... aber das ließ sich nicht ändern. Wichtig war nur, sich vor ihrem Mann nicht ahnungslos zu geben. Das rächte sich irgendwie immer, wenn der spitzbekam, dass sie nicht so gut informiert war wie sie vielleicht sein sollte. „Da bin ich“, sagte sie also schlicht und musterte ihn, aufmerksam, wachsam – und ebenfalls unruhig. Wie schon gesagt: wenn man ihrem Mann anmerken konnte, das etwas nicht in Ordnung war, dann musste schon irgendwas wirklich Wichtiges los sein... und deshalb wirkte seine Unruhe auf sie ziemlich ansteckend.

    Nigrina nickte langsam. Irgendwie fühlte sich das alles so... so unwirklich an. Was tat sie eigentlich hier? Oder besser: warum gab es nichts, nichts, was sie tun konnte? Es war zum Haareraufen, dieses Gefühl der Hilflosigkeit, das sie angesichts Aulus' Tods um so vieles stärker überfiel als bei Vera. Sie war am Leben. Sie war am Leben, das musste sie sich vorhalten, daran musste sie sich erinnern. Dieses Gefühl war es, das ihr helfen, das sie antreiben würde. Nur: bei Veras Tod hatte sich das wie von selbst eingestellt. Da hatte sie sich nicht extra daran erinnern müssen...


    „Werde ich?“ Ein wenig überrascht sah sie Gracchus an, nickte aber dann – sie würde einen Dreck tun und das ablehnen, wo sie gar nicht damit gerechnet hatte, dass er ihr das zusicherte. Auch hier Blick flog wieder zu ihrem Bruder, als ihr Vetter dorthin sah... und unwillkürlich ballten sich ihre Hände zu Fäusten. „Ja“, murmelte sie auf seine weiteren Worte hin, ohne ihn anzusehen. Und dann, als ihr bewusst wurde, dass Gracchus mehr gesagt hatte, als dass ein einfaches ja als Antwort ausreichen würde, beschloss sie, dass es genug war. Genug. Wie konnte sie sich so aus der Fassung bringen lassen? Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Kurz sah sie sich im Atrium um, aber Sextus war nirgends zu sehen, und irgendwie konnte sie sich nicht ganz entsinnen, ob er etwas gesagt hatte wo er hingehen wollte.
    Einen Augenblick zögerte sie, dann beschloss sie, dass das letztlich auch egal war. „Ich würde gern hier bleiben“, konkretisierte sie gegenüber Gracchus. „Ich würde mich gerne frisch machen... und einen Sklaven zur Villa Aurelia schicken, der mir andere Kleidung bringen soll.“

    Herausfinden. Sie würden es herausfinden. Obwohl Gracchus' Sprachfehler sich verstärkt zu haben schien, klang er dabei doch irgendwie... sicher, jedenfalls in Nigrinas Ohren. Oder vielleicht wollte sie auch nur, dass er sicher klang. Sie war beileibe niemand, der unsicher oder unselbständig war – aber zugleich war sie es im Grunde auch gewohnt, immer jemanden zu haben, der wusste, wo es lang ging. Und der keine Scheu hatte, das auch zu sagen und zu verfolgen. Ihr Leben lang hatte ihr Vater immer gewusst, was zu tun war... und ihr Mann war da nicht großartig anders. Häufig genug ging ihr das auf die Nerven, aber es gab eben auch die Situationen, in denen es unglaublich angenehm war, sich genau darauf verlassen zu können. Und da sie, als Frau, sowieso nie wirklich die Gelegenheit bekam, wichtige Dinge selbst zu entscheiden – sah man ja jetzt, wie man sie mal wieder außen vor ließ –, was war da falsch daran, auch die Vorteilen davon anzunehmen? Ja, sie wollte, dass Gracchus sicher klang, so sicher wie ihr Vater immer war – was ein wenig absurd war, weil gerade ihr Vater herzlich wenig von Gracchus hielt, aber das hinderte Nigrina in diesem Moment nicht daran, sich genau das von Gracchus zu wünschen –, sie wollte, dass er die ganze Sache in die Hand nahm und dafür sorgte, dass der Tod ihres Bruders gerächt wurde. Selbst wenn es tatsächlich nur ein herabstürzendes Haus gewesen war... irgendwer sollte dafür bezahlen.


    Sie sah ihren Vetter an, und ihre mittlerweile an ihrer Seite herabhängenden Hände öffneten und schlossen sich unwillkürlich ein paar Mal. Als er erneut betonte, dass sie das nichts anging, sah Nigrina zur Seite, zum bedeckten Leichnam ihres Bruders, und presste die Lippen aufeinander, was ihr einen harten Zug um die Mundwinkel gab. Nein, sie würde da nichts erfahren. Es war immer das gleiche. Da konnte sie sich noch so sehr bemühen, ihrer Familie ein gutes Mitglied, ihrem Mann eine gute Gattin zu sein, Kontakte zu knüpfen, ein Netzwerk aufzubauen, das sie für sich und die ihren spielen lassen konnte... wenn es darauf ankam, wurde sie ausgeschlossen. Nicht dass sie selbst etwas hätte tun wollen, sie war ja im Gegenteil froh darum, dass Gracchus sich der Sache annahm – trotzdem hätte sie gern einfach Bescheid gewusst. Es ging immerhin um ihren Bruder. Aber Männer waren wohl alle gleich. Sie wandte ihren Blick wieder ihrem Vetter zu. „Vertrauen“, wiederholte sie langsam, fast als wollte sie das Wort schmecken. Eine Wahl hatte sie nicht. Aber fiel ihr das schwer? Einen Moment lang musterte sie Gracchus eingehend... da war ihr Vater und was er immer über ihren Vetter erzählt hatte. Nigrina wusste, wie wenig Aetius von seinem Neffen hielt. Und Nigrina wiederum hielt große Stücke auf ihren Vater. Andererseits... ihr Vater war nicht hier, konnte hier nichts tun, und würde auch nicht rasch genug kommen können. Gracchus hingegen war da und bereit, etwas zu tun, jedenfalls wirkte er so. Und dann war da noch Leontia... und auf ihre große Schwester hatte Nigrina auch immer viel gehalten. Mehr noch, sie hatte sie bewundert, mit all der Energie, wie eine kleine Schwester die große nur bewundern konnte, gerade bei einem größeren Altersunterschied... und gerade, wenn die Ältere zu früh aus dem Leben der Jüngeren verschwand, bevor sich diese kindliche Bewunderung hätte relativieren können im täglichen Miteinander während des Erwachsenwerdens. Und Leontia hatte Gracchus vertraut. Das war unumstößlich. „Leontia...“, antwortete sie schließlich. „Leontia hat dir vertraut. Aulus auch.“ Sie ließ unerwähnt, dass ihr Vater es nicht tat. „Also... in Ordnung. Aber ich möchte wissen, wenn sich was tut. Wenn du etwas herausgefunden hast. Wenn...“ Sie rieb sich erneut über die Stirn und biss auf die Lippen, während sie wieder zu ihrem Bruder sah. Ihrem toten Bruder. „Wenn jemand bezahlt hat“, fügte sie tonlos an.

    Nigrina war... genervt. Gelangweilt. Gereizt. Der Tod ihres Bruders zehrte an ihren Nerven, mehr, als es der Tod ihrer Schwestern getan hatte – Leontias, weil sie da noch zu klein gewesen war, Veras, weil sie mit Vera nie wirklich verbunden hatte. Aulus hingegen... Aulus' Tod hatte sie getroffen. Mehr, als sie erwartet hätte. Und das wiederum ließ sie unleidlich werden, weil sie damit nicht gut umgehen konnte. Dazu kam, dass ihr in letzter Zeit vermehrt übel war... was in ihr einen gewissen Verdacht auslöste, mit dem sie sich momentan allerdings nicht beschäftigen wollte. Dafür war noch Zeit... wenn auch nicht mehr allzu viel, aber immerhin etwas.


    So oder so brauchte sie Ablenkung, hatte sie beschlossen. Sie brauchte sie. Und sie hatte sie verdient. Die Hochzeit der Iunia war so eine willkommene Ablenkung gewesen, das Kleid, das sie extra für diesen Zweck sich hatte machen lassen, fast noch mehr, dazu kamen noch einige andere Einkäufe... und weil das alles aber noch nicht genug war, hatte sie sich entschieden sich einen neuen Sklaven anzuschaffen. Damit schlug sie gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe – sie kaufte sich etwas Hübsches, zugleich etwas Nützliches, und es war etwas, wovon sie länger als nur ein paar Tage etwas haben würde, bevor es langweilig werden würde... wenn alles gut lief, jedenfalls. Natürlich konnte auch ein Sklave recht schnell langweilig werden, aber allein die Tatsache, dass ein solcher zwar – wie viele andere Besitztümer – definitiv einfach stumm in der Gegend rumstehen können sollte, sondern mehr konnte als nur das, machte ihn interessant. Und diesmal wollte Nigrina etwas zum Spielen. Weswegen sie sich dagegen entschieden hatte, sich einen Sklaven aus der flavischen Zucht zu holen, wo sie wusste, was sie hatte. Sie wollte etwas wirklich Neues, etwas, wo sie eben nicht genau wusste, worauf sie sich einließ... wenigstens ansatzweise. So weit, dass sie sich auf dem Sklavenmarkt von irgendeinem Händler was ausgesucht hätte, ging sie freilich nicht... es musste schon auch was Exklusives sein.


    Deswegen hatte sie Pharasmanes kommen lassen. Und deswegen kam sie nun – nach einer in ihren Augen angemessenen Wartezeit für einen Händler diesen Formats – leichtfüßigen Schrittes ins Tablinum, nachdem ihr gesagt worden war, dass er mitsamt einer Auswahl seiner Ware gekommen war. „Pharasmanes! Es freut mich, dass du die Zeit gefunden hast, mich zu besuchen“, begrüßte sie ihn mit einem lieblichen Lächeln. War nur ein Händler, das ja... aber eben einer mit exklusiver Ware. So exklusiv, dass ihm da nur wenige das Wasser reichen konnten, wenn überhaupt. Nigrina kaufte schließlich nicht bei irgendwem, wenn sie sich schon außerhalb der flavischen Zucht umsah.

    Nigrina musterte ihren Cousin aufmerksam, während der zurücksah, schweigend zunächst, bevor er zu einer Antwort ansetzte. Und gleich der erste Satz führte dazu, dass sie sich fragte ob sie jetzt lachen sollte oder die Augenbraue hochziehen. Wann war Politik denn je unverfänglich? Glaubte Gracchus tatsächlich daran oder hielt er sie nur für blöd? Sicher mochte es die geben, die zum ominösen Wohl des Staates agierten... aber es gab genauso gut auch die, die zum eigenen Wohl agierten, und gegen die hieß es doch ständig gewappnet zu sein.
    Was Nigrina allerdings aus dem Wortgewusel heraushörte, das Gracchus auf seine unnachahmliche Weise von sich gab, war folgendes: irgendwas war im Gange, das ihn offenbar glauben ließ, dass... wie hatte er gesagt? ... Moral und Sitte die Biege machten. Weswegen sie in Gefahr waren. Und nachdem ihr Mann schon in ähnlich kryptischer Weise geäußert hatte, dass da irgendwas im Busch war... wurde Nigrina langsam wirklich neugierig, was los war. Konnte es sein, dass Gracchus das gleiche meinte? Es klang jedenfalls recht ähnlich, die versteckte Warnung, die Andeutung, dass da irgendetwas war, was zumindest potentiell ein Risiko darstellte... und wie schon bei Sextus ödete es sie an, dass Gracchus nicht deutlicher wurde. Warum konnten die Kerle nicht mal Tacheles reden? Sie fand, dass sie das durchaus verdient hatte – erst recht, wenn nun ihr Bruder ein Opfer von wasauchimmer geworden war. Wenn das denn stimmte. Und wenn Gracchus das gleiche meinte. Vielleicht meinte der auch nur allgemein dass Politik gefährlich war. Mit zusammengepressten Lippen sah sie nach unten... auf ihre Hände. Die blutig waren, genauso wie ihre Tunika. Ihr war gar nicht aufgefallen, dass sie zuvor bei Aulus' Leiche so gar nicht darauf geachtet hatte, dass sie sich schmutzig machte... und das wiederum führte ihr mit einem Schlag wieder die Erkenntnis vor Augen, dass ihr Bruder tot war. Tot. Und erst diese abermalige Realisierung der Tatsachen brachte sie dazu zu sehen, wie... ungeheuerlich Gracchus' Vermutung war, wenn sie denn der Wahrheit entsprach. Sie sah kurz zu der Leiche, die jetzt verdeckt war, und dann wieder, nun mit erstarrter Miene zu Gracchus. „Glaubst du ernsthaft, dass das... gezielt war? Dass ihn jemand...“ Nigrina hob eine Hand und strich sich über ihre Stirn, und verschmierte dabei ungewollt und unbewusst schwache Streifen von Blut und Schmutz. „Wir müssen das rausfinden. Wenn das Absicht war, müssen wir das rausfinden, und wer dahinter gesteckt hat.“ Wie konnte es sein, dass irgendjemand einen Flavier umbrachte? Wer würde das wagen? Nicht viele, es konnten nicht viele sein, aber irgendwie... wenn jemand Aulus umgebracht hatte, dann musste das gerächt werden, unbedingt. Nigrina war da kompromisslos. Sie ballte eine Hand zur Faust und presste sie vor den Mund, ließ sie aber gleich wieder sinken, weil der Geruch langsam, aber sicher Übelkeit bei ihr auslöste. „Wir können das doch nicht einfach so... hinnehmen, dass Aulus tot ist.“

    Zitat

    Original von Iunia Axilla
    Als der Strom der Besucher schließlich zu Nigrina und ihrem Mann gelangt war, tat Axilla allmählich das Lächeln schon weh. Sie hätte nicht gedacht, dass so viele kommen würden, wenngleich nicht alle gekommen waren. Vor allem die Iulii und die Germanici fehlten, andererseits waren diese Einladungen auch nicht so herzlich und persönlich ausgefallen, da sie erstere eigentlich nicht wirklich kannte und letztere eher weniger kennen wollte. Axilla war sehr nachtragend, was das anging, und Germanica Calvena hatte mit ihren Worten vor Urzeiten in den Thermen einfach viel zu viel aus Axillas Sicht falsch gemacht, als dass sie das wohl jemals vergessen könnte.


    Nichts desto trotz, das hier waren erst einmal eine Flavia und ein Aurelius, und auch die bekamen ein Lächeln und eine nette Floskel als Begrüßung, wie die meisten anderen auch. “Aurelius. Flavia Nigrina. Es ist mir eine große Ehre und eine Freude obendrein, dass ich euch als Gäste hier begrüßen darf. Ihr ehrt mein Haus mit eurer Anwesenheit, und ich – wir! - freuen uns sehr, dass ihr diesen Tag mit uns feiert.“


    Nigrina sah... blendend aus. Das musste sie selbst – in aller Bescheiden selbstverständlich – sagen, anders ging es einfach nicht. Ihr Körper war gehüllt in ein zartes Seidengewebe, das von einem zarten Hellblau war und ihre Gestalt umschmeichelte. In ihre komplizierte Hochsteckfrisur, aus der sich mehrere Strähnen ihrer schwarzen Haare ihren Rücken hinunter schlängelten, war versehen mit dunkelblauen, länglichen, sehr schmalen Nadeln, die aufschimmerten, wenn sie ihren Kopf bewegte, und um ihren Hals hing an einer schmalen Silberkette ein einzelner, dunkelblauer Saphir in Tropfenform. Teuer war noch gar kein Ausdruck für das, was sie gerade anhatte... aber das war es ihr wert gewesen. In letzter Zeit hatten sich irgendwie Gegebenheiten aneinander gereiht, die sie wütend machten – dass sie selbst möglicherweise launischer war als sonst, der Gedanke kam ihr freilich nicht –, und da hatte frau es sich einfach verdient, sich mal was zu leisten. Und die Hochzeit der Iunia war ein einfach ein zu guter Anlass dafür.


    Als sie an Sextus' Seite die Casa Iunia betrat, stellte sie fest, dass es sich sogar tatsächlich lohnte, hier zu erscheinen, weil einige hochrangige Gäste da waren, und das führte dazu, sie noch zufriedener war als ohnehin schon. Mit einem fröhlichen Lächeln also trat sie auf das Brautpaar zu, als sie an der Reihe waren. „Axilla!“ begrüßte Nigrina die Iunia und ging dabei schmerzfrei sowohl darüber hinweg, dass sie sie schon ziemlich lange nicht mehr gesehen hatte, als auch darüber, dass die Iunia zumindest ihren Gensnamen noch genannt hatte. Sie überging genauso die Floskel und neigte sich nach vorn, um die Iunia zu umarmen. Aber allein schon wegen der absolut fantastischen Einladung – Nigrina hatte lachen müssen, als sie die gelesen hatte, und sich danach tatsächlich darauf gefreut, die Iunia wieder zu sehen. Ehrlich gefreut, nicht nur auf die Art, auf die sie sich eben freute, wenn es um gesellschaftliche Anlässe ging. „Vielen Dank für deine Einladung, die war einmalig... vermutlich haben wir heute kaum Gelegenheit uns zu unterhalten, aber wir sollten uns definitiv ein andermal wieder treffen.“ Nigrina war stolz auf sich, immerhin hatte sie sich tatsächlich jede Spitze über den ersten Mann der Iunia verkniffen und diese unsägliche Geschichte. War sie nicht gut heute? „Ich wünsche dir alles Gute und Iunos Segen für deine Ehe. Und, Pompeius, dir natürlich auch – verzeih mir, dass ich deiner Braut den Vorzug gab“, begrüßte sie dann mit einem Zwinkern und einem lieblichen Lächeln auch den Bräutigam.

    Jap. Das Ding war ganz eindeutig nicht der hellste Stern am Himmel. Und wenn man schon bei diesem Bild bleiben wollte: es war so unterbelichtet, dass es vermutlich gar nicht gesehen wurde. Nigrina war durchaus klar, dass Thalia genau dadurch für manche Männer umso attraktiver wurde. Aber auch nur für eine ganz bestimmte Sache – und nach ein paar Jahren war das spätestens vorbei. Und wenn man aus der Gosse kam, dann mochte das vielleicht ganz erstrebenswert erscheinen, ein paar Jahre auf der Sonnenseite leben zu können, als Konkubine eines reichen Mannes... für eine wie Thalia war das sicher das große Los. Allerdings war das nichts im Vergleich zu, sein ganzes Leben auf der Sonnenseite zu verbringen, und dazu gehörte deutlich mehr als Jugend und gutes Aussehen. Und so sehr Nigrina beides an ihr selbst schätzte und es festzuhalten gedachte, so lange es ihr möglich war, war ihr ihre Abstammung und ihr Stand deutlich wichtiger.
    Wie auch immer: Nigrina konnte es nur recht sein, dass das Dingelchen eine Hohlbirne war – auch wenn es das Essen für sie freilich ungleich langweiliger machte. Sie plauderte oberflächlich mit Thalia, hörte den Männern zu, lächelte, machte Witze und versuchte dem Fettsack auf charmante Art zu schmeicheln, wann immer sich eine günstige Gelegenheit dazu bot.


    Und so verging der Abend – bis Sextus schließlich, nach dem etwas missglückten ersten Versuch, erneut das eigentliche Thema des Abends zur Sprache brachte. Indirekt, das verstand sich bei ihrem Mann von selbst. „Ein Mann mit deinem Geschmack findet sicherlich etwas hervorragendes“, warf sie lächelnd ein, als der Praefect Sextus wie geplant zustimmte. Dann allerdings machte er recht schnell klar, dass er offenbar nicht viel davon hielt, das Ding nicht beim Namen zu nennen. Jedenfalls wurde er nach einer kurzen Überleitung sehr konkret. Nigrina hielt sich mustergültig zurück, als die Phrase arrogante Patrizierschnösel fiel, und ihr war nicht anzusehen, wie sie das empörte, und dass sie nun am liebsten aufgefahren wäre, was diesem Homo novus eigentlich einfiel…
    Dabei half freilich, dass er diese Beleidigung so schön umrahmt hatte. Den Anfang machte ein Kompliment an sie. Geschmeichelt lächelte sie und wollte an dieser Stelle gerade ein weiteres Mal einhaken, um einen passenden Kommentar zu erwidern, der wiederum dem Vescularius schmeicheln sollte. Der allerdings sprach gleich weiter, und jetzt kam der Moment, wo er direkt wurde – so direkt, dass Nigrina spontan beschloss, lieber die Klappe zu halten und das Reden ihrem Mann zu überlassen. Schon allein, weil sie dann vielleicht doch etwas zu den arroganten Patrizierschnöseln zu sagen gehabt hätte. Was auch gut so war, denn der Praefect vollendete jetzt den Rahmen für seine Beleidigung, und das ließ Nigrinas Haut kribbeln vor Vorfreude. Das klang doch tatsächlich danach, als hätte ihr Mann gute Chancen, Senator zu werden...

    Nigrina überließ es ihrem Mann, die übrigen Gäste in aller Ausführlichkeit zu begrüßen, und beschränkte sich auf ein freundliches und zuvorkommendes Lächeln. Das selbst dann nicht flackerte, als sie hörte, wie ihr Mann das Ding begrüßte. Oh ja, sie kannte seine charmante Art. Ab und zu kam sie auch in diesen Genuss, wenn auch freilich nicht ständig… was auf Dauer ja auch langweilig werden würde. Sie kannte also seine Art. Und sie wusste sehr genau, dass er sie auch vorzugsweise bei der ein oder anderen Frau einsetzte, wenn er eine rumkriegen wollte, die halt nicht Sklavin oder Lupa war. Und im Großen und Ganzen machte ihr das überhaupt nichts aus, mit wem Sextus sich sonst noch so vergnügte, solange er sie dabei nicht vernachlässigte – und solange er nicht eine Frau in sein Bett holte, die tatsächlich eine Konkurrenz für sie sein könnte, sprich: eine hochgestellte Römerin. Oder irgendwelche Bälger als seine anerkannte, die dann seinen rechtmäßig geborenen Kindern – also ihren – den Rang streitig machen könnten. Das alles hieß allerdings nicht, dass es ihr sonderlich gefiel, wenn Sextus vor ihrer Nase eine andere Frau mit seinem Charme einlullte…
    Allerdings wusste sie auch, welchem Zweck das hier diente, und so ging sie auch darüber spielend hinweg. Und sie wurde tatsächlich belohnt: das Ding war entweder dumm oder ziemlich maulfaul, jedenfalls brachte sie nicht wirklich viel als Antwort hervor. Und die Stimme war auch nicht gerade das, was man als lieblich bezeichnen könnte. Ganz im Gegensatz zu ihrer Figur und ihrer Art, sich zu bewegen, wie Nigrina feststellte… aber es war definitiv besser, sich auf die negativen Aspekte zu konzentrieren als die positiven, besser für ihren Seelenfrieden und damit besser für den Verlauf dieses Abends.


    Den Gästen den Vortritt lassend, ging dann auch Nigrina mit ihrem Mann zu der Gruppe mit den Klinen und setzte sich als einzige in einen der beiden bereit gestellten Korbstühle, ihre Miene sorgsam kontrollierend. Diesmal schwankte sie zwischen Genugtuung, weil das Ding neben ihrer Kleidung nun auch in ihrem Tun bewies, dass sie eine Schlampe war – andererseits war sie fast ein wenig neidisch. Es gab zu viele Regeln, zu viele Vorschriften, die der Anstand gebot, die sie am liebsten über den Haufen geworfen hätte, wenn sie gekonnt hätte. Konnte sie allerdings nicht, und sie wusste genau, was Sextus tun würde, würde sie sich zu ihm auf die Kline liegen. Ihr das Fell über die Ohren ziehen… egal. So wie der Anstand es verlangte setzte sie sich brav auf den Sessel, bemühte sich, sich dabei nicht allzu dämlich vorzukommen, die Einzige zu sein, die sitzen musste, und spielte weiter vorbildlich ihre Rolle. Eine leichte Bewegung ihres Kopfes gab den Sklavinnen zu verstehen, dass sie Wein ausschenken sollten, und im nächsten Moment hatten zunächst die Gäste und dann Sextus und sie selbst einen gefüllten Kelch. Gleich darauf trugen weitere Sklavinnen die Vorspeisen herein und begannen beim Praefecten, diese anzubieten. „Ich hoffe, der Wein sagt euch zu“, lächelte Nigrina in die Runde, bevor sie sich an das Ding wandte und den Versuch startete, es in ein Gespräch zu verwickeln. „Woher stammst du, wenn ich fragen darf, Thalia?“

    Eine flavische Augenbraue – die linke, um genau zu sein – wölbte sich nach oben, als der Peregrinus sein Fehlverhalten einzusehen begann. Das war das Verhalten, das ein Peregrinus an den Tag zu legen hatte, wenn er mit Römern und erst recht mit Patriziern sprach. Der Umschwung war zwar doch recht extrem, und natürlich fiel Nigrina das auf. Aber sie dachte gar nicht weiter darüber nach, weil sie das, wie der Peregrinus sich nun verhielt, als viel zu selbstverständlich betrachtete ihr gegenüber. Da war ihr ziemlich egal, was der Kerl wohl wirklich denken mochte – dafür war er schlicht zu unwichtig. Nur sein Benehmen sollte passen, und nachdem sich das nun besserte, war sie doch… zufrieden. Mit einem hoheitsvollen Nicken reagierte sie auf die geäußerte Entschuldigung, schwieg aber im Übrigen weiterhin, während sie es ihrem Mann und ihrem Vetter überließ zu reden. Da allerdings kam nicht sonderlich viel. Sextus entschuldigte sich für seine Worte bei Gracchus und verschwand dann, um nach Prisca zu sehen, und ihr Vetter… reagierte zunächst gar nicht. Stand einfach nur da. Nigrina, die Gracchus so noch nicht erlebt hatte, die ihn überhaupt ziemlich schlecht kannte, runzelte ganz leicht die Stirn und fragte sich, was los war. Wenn da jetzt der nächste Flavier tot umfiel, noch dazu ohne dass ihm sozusagen der Himmel auf den Kopf fiel… nicht auszudenken.


    In Gracchus allerdings kam dann doch noch wieder Leben – und der Peregrinus verschwand, ebenso wie die Klienten, die das aus irgendeinem Grund schon mitbekommen hatten, alle, außer der Familie. Trotzdem hatte Nigrina das Gefühl, dass Gracchus immer noch nicht ganz bei sich war. Er sprach sie an, aber seine Stimme war… rau. Heiser. Er starrte sie an, dann einen Fleck hinter ihr, und Nigrina war fast versucht sich umzudrehen, um nachzusehen was da wohl sein mochte – als Gracchus ihr eine Hand auf die Schulter legte. Die Geste wirkte fast vertraulich, und sie konnte sich nicht erinnern, dass er sie je so berührt hätte. Hatte er sie eigentlich überhaupt mal berührt? War eigentlich seltsam, bedachte man, was ihr Vater von ihm erzählt hatte, in Bezug auf Leontia. „Ja…?“ fragte sie nach, als sie ihren Namen das zweite Mal hörte – und verstummte. Jetzt war sie wirklich baff. Er bat sie um Verzeihung?!? DAS war neu für sie. Ihr Mann tat das nie. Selbst wenn er falsch lag. Und schon gar nicht so, auf diese… diese… so nüchtern und ehrlich wirkende Art. Wenn dann kam er mit irgendwelchen Schmeicheleien an, die zwar wunderbar anzuhören waren und die ihr freilich auch gefielen, die aber nicht ganz so… ehrlich wirkten wie das hier. Dazu kam, dass Gracchus ihr auch noch Recht gab, womit sie erst recht nicht gerechnet hatte, und sie konnte gerade noch ein: hab ich? unterdrücken. Die Begründungen, die er aufzählte, hatte sie zwar durchaus selbst angebracht… und sie fand immer noch unlogisch, dass ein Senator und Pontifex allein durch Rom und ausgerechnet die Subura zog. Allerdings kannte sie auch Aulus. Und ihr war es weniger um den eigentlichen Verdacht, das eigentliche Misstrauen gegangen… und sie hatte schon gar keine größere Verschwörung hinter der Sache vermutet. Eigentlich hatte sie nur irgendwie um sich schlagen wollen, und der Peregrinus war mit seiner Erzählung und seiner hochgestochenen Art nicht nur der Auslöser, sondern zugleich auch das perfekte Ziel gewesen.
    Alles in allem verblüffte sie nun der Umschwung bei ihrem Vetter, und die Warnung, die aus seinen Worten klang, ließ sie den Zwischenfall mit dem Peregrinus vergessen. Und auch das, was ihn eigentlich ausgelöst hatte, trat in den Hintergrund: Aulus‘ Tod, oder besser gesagt das, was er in ihr auslöste – und was sie gar nicht wahr haben wollte. „Wir… wir sind Flavier. Wir sind stark“, antwortete sie überzeugt, als sich die Hand von ihrer Schulter löste. Sie warf einen kurzen Blick zu Flaccus, der da stand, als hätte ihn der Blitz getroffen. Naja, vielleicht nicht alle… oder nicht jederzeit. Sie sah wieder zu Gracchus. „Was meinst du mit: wir müssen vorsichtig sein?“

    Mit ein wenig Misstrauen hatte Nigrina vernommen, mit welchem Aufgebot der Praefectus Urbi vor der Tür stand. Die Zufriedenheit – die sowohl von der trotz der Kürze der Zeit hervorragend gelaufenen Organisation als auch von der letzten Nacht stammte – waberte ein wenig und drohte sich ins Elysium zu verabschieden, festigte sich allerdings wieder, als gleich darauf die Nachricht kam, dass der Vescularius keineswegs mit seinem gesamten Gefolge hereinkam, sondern mit einer recht überschaubaren Zahl von insgesamt drei Begleitern. Gemeinsam mit dieser Nachricht allerdings wurde speziell Nigrina noch etwas mitgeteilt… etwas, was ihre Zufriedenheit dann tatsächlich verpuffen ließ. „Sie sieht WAS?“ zischte sie wütend, als der Sklave ihr mitteilte, wie die Begleiterin des Praefectus Urbi aussah. Das konnte, das würde, das durfte doch wohl nicht WAHR sein!
    Für einen winzigen Moment musste Nigrina mit sich kämpfen, um dem sich anbahnenden Temperamentsausbruch nicht nachzugeben. Mühevollste Planung, insbesondere was die Auswahl der Sklavinnen betraf – und für was? Damit der Vescularius eine Schlampe anschleppte, die ihr ähnlich sah? Nigrina hätte am liebsten irgendwas zerstört, und die Weinbecher sahen äußerst verlockend aus, schrien geradezu danach, gegen die nächstbeste Wand geworfen zu werfen… Und dann war der Moment vorbei. Sie wusste, was heute Abend auf dem Spiel stand, wusste, wie wichtig dieses Essen war. Sie würde das ganz sicher nicht versauen. Nicht nur, weil ihr Mann ihr dann – zu Recht! – das Fell über die Ohren gezogen hätte, sondern auch, weil ihr selbst ja extrem daran gelegen war, dass der Abend positiv verlief. Bei all den Vorzügen, die Sextus so haben mochte, und die durchaus wettmachten, dass er zu Beginn ihrer Ehe auch noch am Beginn seiner politischen Karriere gestanden hatte… aber sie wollte endlich Gattin eines Senators sein. Und sie beide hatten es definitiv verdient, dass er nun Senator wurde.


    Als der Praefectus Urbi also mit seiner Begleitung das Triclinium betrat, hatte Nigrina den Wutanfall stumm in sich hineingefressen und sich wieder perfekt unter Kontrolle, und obwohl sie den Sklaven, seines Zeichens Überbringer der schlechten Nachricht, am liebsten hätte auspeitschen lassen, war sie ihm zugleich auch dankbar dafür, dass er sie vorgewarnt hatte. Und da ihr jetzt für eine spontane Reaktion die Zeit fehlte, kam der Sklave so davon… denn Bestrafungen dieser Art geschahen bei Nigrina immer aus der Laune des Augenblicks heraus. Sie war leicht reizbar, und sie war ganz sicher nicht zimperlich, schon gar nicht was Sklaven anging – dennoch war sie im Grunde nicht das, was man grausam nennen könnte, auch wenn ihre Untergegebenen das vielleicht anders sehen mochten. Sie hatte keinen Spaß daran, ihre Sklaven leiden zu lassen, sie erteilte ihnen nur in ihren Augen wohlverdiente Strafen, wenn sie etwas angestellt hatten – und sei es nur, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen waren, wenn Nigrina eine ihrer Launen hatte. Aber sie suchte keinen Vorwand dafür… und daher hatte besagter Sklave Glück, dass sie in diesem Moment gezwungen war, ihr Temperament im Griff zu behalten.


    Mit einem strahlenden Lächeln also, dem man nicht im Mindesten ansehen konnte, wie es in ihr aussah, empfing sie die Gäste, während sie zugleich genau registrierte, wie diese aussahen und auftraten – die pompöse Aufmachung des Ehrengasts, die schüchterne Zurückhaltung der beiden Kerle, und, natürlich, das Aussehen der Begleiterin. Die ihr tatsächlich ähnlicher sah als der Flavia lieb sein konnte… die allerdings auch gekleidet war in etwas, was Nigrinas Meinung von ihr als Schlampe nur vertiefte. Da war sie um Klassen besser gekleidet in ihrer dunkelblauen Seidentunika, die mit silberfarbenen Stickereien verziert war und sich in einem verspielten Schnitt um ihren Körper legte, der zwar Haut zeigte und noch mehr erahnen ließ, aber dabei die Grenze dessen, was eine Matrona sich gerade noch so erlauben durfte, knapp nicht überschritt. Wesentlich stilvoller, ganz eindeutig. Fand sie jedenfalls. Auch wenn sie wusste, Kerle da manchmal mit etwas anderem dachten als ihrem Kopf – aber was Mode betraf, waren Männer in der Regel nicht das, was Nigrina als von sonderlichem Sachverstand gesegnet betrachten würde.
    Äußerlich unverändert, innerlich allerdings tatsächlich wieder ein wenig besser gelaunt, begrüßte sie den Vescularius, als dieser zu ihr kam. „Du ahnst nicht, wie sehr ich mich gefreut habe, dass du die Einladung angenommen hast, Praefectus.“ Nigrina ließ nicht nur den Kuss auf die Wange über sich ergehen, sondern legte eine ihrer Hände auf seinen Oberarm und erwiderte die Geste, indem sie ein Küsschen in die Luft hauchte, als seine Lippen ihre Haut berührten. Ihr Lächeln bekam eine angemessen geschmeichelte Note, als sie sein Kompliment hörte, und sie schlug die Augenlider kurz nieder, bevor sie ihn wieder ansah. „Eine Blume aber auch nur, weil die Sonne sie mit ihrer Anwesenheit beehrt“, gab sie das Kompliment zurück. Und freute sich gleich darauf – diesmal wieder nur innerlich, sorgsam darauf bedacht, die Maske nach außen zu wahren – diebisch, als der Praefectus seine Begleiterin vorstellte. Nicht einmal eine Römerin war das Ding. Egal, wie die aussah – sie spielte einfach nicht in derselben Liga wie eine Flavia…

    Wo der Gewinn am höchsten, da ist das Recht.


    Vier Tage. Vier. Tage. VIER! Nur VIER Tage hatte Nigrina gehabt, um alles vorzubereiten! Natürlich hatte sie bereits mit den Planungen begonnen, als Sextus ihr von seinem Vorhaben erzählt hatte, den Praefectus Urbi einzuladen. Also, nicht genau in diesem Moment, auch nicht direkt danach, weil sie da einige Zeit lang mit... etwas anderem beschäftigt gewesen war, und danach dann war sie mit Schlafen beschäftigt gewesen. Aber am darauffolgenden Tag dann hatte sie angefangen – zunächst mal Erkundigungen eingezogen, was der Vescularius mochte, und erste Überlegungen angestellt. Und die Dinge, die schwer oder nur in größerem Zeitraum zu beschaffen waren, hatte sie schon mal vorsorglich geordert, auch auf die Gefahr hin, dass sie das am Ende gar nicht brauchen würde. Dennoch – VIER Tage waren einfach kurzfristig. Nicht zu kurzfristig, nicht für sie! Aber dennoch... sehr kurzfristig. Und der Sklave – der von seinem Herrn vermutlich eine Abreibung bekommen hätte, hätte er verkünden müssen, dass der Praefectus Urbi erst in zwei Wochen kommen würde – bekam nun von Nigrina eine Abreibung. Eine gehörige. Dabei interessierte sie es gar nicht, dass der Kerl nichts dafür konnte. Es musste nur irgendjemand dafür büßen, dass sie in VIER Tagen nun ein Gastmahl zu organisieren hatte, das den Ansprüchen des Praefectus Urbi nicht nur genügte, sondern ihn überwältigte, im positivsten Sinn selbstverständlich, und das am besten so, dass es nicht so wirkte als würden sie, Patrizier, vor ihm, dem Plebejer, im Staub kriechen... sondern so, dass sich hier mehr oder weniger Gleichgestellte begegneten, von denen freilich einer in der gesellschaftlichen Hierarchie weit über den anderen stand.


    Nigrina hatte also ins Rollen gebracht, was sie bereits alles vorbereitet hatte, Sklaven aufgescheucht, Händler kurzfristig zu Lieferungen gebracht – oder besser: bringen lassen – und sich selbst um Gestaltung des Abends gekümmert. Und dann war Tag Vier gekommen. Nigrina hatte noch am Nachmittag das Triclinium inspiziert, gemeinsam mit den Sklaven, die das Pech gehabt hatten, ihr in dieser Angelegenheit zur Hand gehen zu müssen, und sie war... zufrieden. Zur massiven Erleichterung aller um sie herum. Sorgfältig hatte sie das Menü zusammen gestellt, das neben einer ganzen Reihe von Köstlichkeiten Austern bot – bei der Hochzeit des Praefectus Praetorio war immerhin nicht zu überhören gewesen, dass der Vescularius Austern mochte – sowie Mostbrötchen als Beilage zu den Hauptgängen, von denen auch zu hören war, dass der Praefectus Urbi sie gern verspeiste.
    Mit derselben Sorgfalt hatte sie sich dem Raum selbst gewidmet, hatte sich erlaubt, ihn ein wenig umzudekorieren – und selbstverständlich die Gelegenheit genutzt, das ein oder andere Teil neu anzuschaffen –, und so erstrahlte das Triclinium nun in neuem Glanz. An den Wänden in regelmäßigen Abständen aufgestellte Öllampen, tauchten den Raum in ein weiches Licht, das kaum Schatten zuließ, das Holz von Klinen, Tisch und Sesseln erstrahlte poliert, feine Efeu-Zweige waren dezent zur Zierde angebracht, und wenn ihr Gatte aufmerksam war, würde er mindestens eine neue Marmorstatue entdecken können. Alles in allem strahlte der Raum eine auf hohem Niveau gemütliche Atmosphäre aus: Reichtum war ersichtlich, drängte sich dem Betrachter aber nicht zu sehr auf, nur hie und da zeigte sich Prunk – beispielsweise in den filigranen, goldverzierten Weinkelchen, oder in den aus feinster Seide bestehenden Kissen, die ausgelegt waren, um den Dinierenden Bequemlichkeit zu schaffen –, und alles war so arrangiert, dass es einladend wirkte.


    Doch, Nigrina war zufrieden. Mit einer leichten Handbewegung entließ sie die Organisationssklaven und besah sich noch kurz jene, die während des Abends anwesend sein würden, und auch mit diesen war sie zufrieden. In einer Ecke des Raums waren Lyraspielerinnen postiert – erlesene Sklavinnen mit griechischen Vorfahren, mit weicher, samtiger Haut, die im Licht bronzefarben schien, und seidigen braunen Haaren; das Essen reichen würden Sklavinnen, deren Ahnen aus dem Norden stammten: mit einer alabasterfarbenen Haut, die Haare blondglänzend wie ein reifes Ährenfeld; und zu guter Letzt gab es zwei elegante Nubierinnen, hochgewachsen, mit langen, schlanken Gliedern, deren Haut schimmerte wie poliertes Ebenholz. Allesamt waren Sklavinnen aus flavischer Zucht, die Nigrina hatte herkommen lassen – einige über ihren Vater, einige aus Baiae oder von anderen flavischen Landgütern, wo die Verwalter den Auftrag hatten, sich der Sklavenzucht zu widmen. Und bei allen hatte Nigrina darauf geachtet, das sie zwar vorzüglich waren... vorzüglich aussahen, sich vorzüglich zu benehmen und zu bewegen wussten, und im Fall der Musikerinnen vorzüglich zu spielen wussten... aber dennoch keine ihr selbst zu ähnlich sah. Es würde sich den ganzen Abend keine Sklavin in dem Raum finden, die sowohl schwarze Haare als auch strahlendblaue Augen hatte, oder eine cremefarbene Haut wie ihre. Ganz davon abgesehen, dass sie sowohl in Kleidung als auch Stil noch einmal hervorstechen würde. Sollten die Sklavinnen ruhig Blicke auf sich ziehen, dazu waren sie da, aber es würde kein Zweifel daran bestehen, dass sie, Nigrina, einzigartig war.


    So hergerichtet, wartete das Triclinium auf den hohen Gast, für den es so hergerichtet worden war.

    Nigrina hatte durchaus einiges erwartet. Schließlich stand da ein Peregrinus vor ihr, und Nigrinas Meinung von Peregrinen war so eindeutig wie simpel: abwertend. Darunter kamen nur noch Sklaven, in etwa gleichauf lagen Nutztiere, wertvolle wie beispielsweise Pferde oder exotische Wildtiere nahmen schon eine deutliche höhere Stufe ein, und Plebejer, nun, Plebejer waren etwas schwierig, weil es da so eine große Bandbreite gab... die konnten je nach Status und Familie durchaus bis knapp unter den Patriziern rangieren. So oder so: sie hatte einiges erwartet, bei einem Peregrinus. Auch und gerade, dass er respektlos wurde – und dass er respektlos wurde, war für sie eindeutig, da konnten noch so viele schön gesetzte Phrasen nicht darüber hinweg täuschen. Dass er allerdings so respektlos sein würde, dass er so im Haus und im Kreis ihrer Familie mit ihr umsprang, ließ sie dann doch für einen Moment sprachlos werden, während ihre Augen schon begannen gefährlich zu funkeln. Aber dieser eine Moment war dennoch genug.
    Noch bevor sie etwas erwidern konnte, bevor sie dazu ansetzen konnte, diesen unverschämten Barbaren verbal in Grund und Boden zu stampfen, ergriff Gracchus das Wort. Und DAS hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Ihr Vetter fiel ihr in den Rücken. VOR einem Peregrinus. Aber natürlich. So wie der Kerl sprach, musste ihr Cousin ja meinen endlich einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, einen weiteren glühenden Verehrer der umständlichen Wortphrasen, bei denen am Ende keiner mehr so wirklich kapierte, was der Sprecher damit eigentlich hatte sagen wollen. Besagter Sprecher selbst wahrscheinlich auch nicht, mutmaßte Nigrina, wenn er denn überhaupt irgendetwas damit hatte sagen und nicht nur verschleiern wollen, was dahinter steckte: dass er nämlich eigentlich nichts zu sagen hatte.
    Wütend blitzte sie nun ihren Vetter an, begegnete seinem harten Blick mit ihrem lodernden, ohne auch nur eine Winzigkeit nachzugeben bei ihrem Augenkontakt. Sie war zwar klein, aber sie hatte mehr von ihrem Vater, als man ihr auf den ersten Blick ansehen mochte. Und ungeachtet der Tatsache, dass sie gerade eben noch darüber nachgedacht hatte, mit Gracchus zu reden, ihn für sich zu vereinnahmen – sie ließ sich nicht von einem Kerl maßregeln, vor dem ihr Vater keinen Respekt hatte.


    Aber immer noch kam sie nicht dazu, selbst etwas zu sagen. Und nun wäre es ihr schwer gefallen, denn so sehr sie Gracchus in diesem Augenblick dafür verabscheute, dass er ihr gegenüber diesen Ton und dieses Verhalten vor einem Fremden an den Tag legte, so sehr weigerte sie sich, umgekehrt dasselbe zu tun. Den Peregrinus ging es einen Dreck an, wie sie über Gracchus oder sein Verhalten dachte. Und natürlich wusste Nigrina auch, dass sie letztlich den Kürzeren ziehen würde, was ein Risiko war, dass sie nicht einzugehen gedachte. Ganz ohne jeden Kommentar konnte sie das alles allerdings nicht stehen lassen... aber erneut bevor sie etwas sagen konnte, trat ihr Mann auf den Plan. Und rammte den Peregrinus ungespitzt in den Boden. Zu Nigrinas Erstaunen – und wachsendem Entzücken. Sextus war der Inbegriff der perfekten Selbstbeherrschung. Sie konnte sich nicht wirklich daran erinnern, wann sie das letzte Mal erlebt hatte, dass er das aufgab. Dass er es in diesem Moment tat – und Nigrina, die ihren Mann kannte, zweifelte nicht daran, dass er das bewusst tat –, hieß mehr, als die meisten Anwesenden auch nur ahnen konnten. Und es bedeutete ihr mehr, als die anderen wussten. Er ergriff ihre Partei. Er verteidigte sie. Und auch wenn sie wohl Worte gefunden hätte, das selbst zu tun – sie genoss es, das eben nicht tun zu müssen. Einen Mann zu haben, der das übernahm, der sich vor sie stellte, und der dafür sogar seine so kostbare Selbstbeherrschung für den Augenblick sein ließ.
    Jetzt war es Sextus, den sie ansah, und ihr Blick loderte immer noch – aber auf andere Art. Auch schwieg sie nach wie vor, mittlerweile, weil einfach keine Äußerung von ihr nun gepasst hätte, und warum auch hätte sie etwas sagen sollen? Ihr Mann erledigte das wunderbar, alles, was sie noch hätte hinzufügen können, hätte den Eindruck höchstens geschmälert. In diesem Moment war sie stolz darauf, Sextus' Frau zu sein, und wenn sie je so etwas wie wirkliche Verbundenheit mit ihm gefühlt hatte – dann war es jetzt der Fall.

    Glasige Augen.
    Hände wie Eis.
    Er ist so kalt jetzt,
    und war doch mal so heiß.


    Tot zu sein ist komisch.


    Gestern so poltrig,
    heute so still.
    Gestern noch prächtig,
    heute schon Müll.


    Tot zu sein ist komisch.
    Tot zu sein ist komisch.


    ~ aus: Tanz der Vampire ~



    Aulus. Ihr Bruder. Der, mit dem Nigrina auf eine gewisse Art noch am meisten verbunden hatte, der ihr noch am nächsten gewesen war. Leontia hatte sie bewundert und ihr nachgeeifert, aber der Altersunterschied war zu groß gewesen und sie war zu früh gegangen, als dass daraus eine innigere Beziehung unter Schwestern hätte werden können. Vera... mit Vera war sie nie klar gekommen. Vera war ihr zu... entrückt gewesen, zu kühl, zu abweisend, zu fragil, zu sensibel, zu empfindlich. In Nigrinas Augen traf das alles irgendwie auf Vera zu. Mit Aulus hingegen hatte sie streiten können, wunderbar streiten. Selten war er ihr ein Wort schuldig geblieben, nie hatte er sie auflaufen lassen, wie Sextus das so gerne tat, wenn sie – was mittlerweile nur noch selten vorkam – in seiner Gegenwart ihrer Wut freien Lauf ließ. Sicher hatte Aulus sich auch oft genug daneben benommen, sich manchmal regelrecht unmöglich aufgeführt, und das nicht nur im privaten Bereich – in dem es Nigrina völlig egal war –, sondern auch öffentlich, was nun, da sie erwachsen waren, nicht mehr tragbar war. Dennoch war und blieb Aulus derjenige, mit dem sie noch am meisten verbunden hatte, und deswegen fiel es ihr nach wie vor schwer, wirklich zu begreifen, was da los war... Sie hatte ein wenig das Gefühl, in einer gedämpften, wolkigen Umgebung zu schweben, und ihre übliche Art schaffte es noch nicht, durchzudringen, die Oberhand zu gewinnen und alles andere zu unterjochen.
    So kniete sie nach wie vor nur neben der Leiche ihres Bruders, starrte ihn weiter an, während ihre Finger sachte über ihn glitten... vom Kopf hinunter, über das Kinn, den Hals, bis zu seiner Brust, die so verunstaltet war, ungeachtet dessen, dass sie selbst dadurch Blut abbekam, auf ihren Händen, auf ihrer Kleidung. Für diesen einen Moment interessierte sie das gar nicht. Zu... seltsam war die ganze Situation hier. Zu unwirklich. Und wie als Reaktion darauf machte sich in ihr eine Art morbider Faszination breit. Das hier war anders als bei Leontia, deren Leiche sie nie gesehen hatte. Es war auch anders als bei Vera, die... einfach nur so still und kühl und zerbrechlich wie zu Lebzeiten gewirkt hatte. Aulus dagegen war... zerstört. Wie im Leben, so im Tod, dachte sie unwillkürlich. Aulus musste immer seinen besonderen Auftritt bekommen. Und dabei immer irgendwie übertreiben.


    Nigrina bekam wenig mit von dem, was um sie herum vorging – erst als jemand wiederholt danach fragte, was passiert war, und ein anderer Jemand nun zu einer Antwort ansetzte, kam sie ein Stück weit in die Realität zurück. Sie verharrte, wie sie war, rührte sich nicht, sah weiter ihren Bruder an, aber sie hörte zu, aufmerksam, gebannt. Und was sie zu hören bekam, trug nun nicht unbedingt dazu bei, ihr Gemüt zu beruhigen. Subura? Was um alles in der Welt hatte Aulus in der Subura getrieben? Selbst wenn das der schnellste Weg irgendwohin war, wer setzte denn schon freiwillig einen Fuß in die Subura, und dann noch allein? Und wie er gestorben war... begraben unter einer eingestürzten Insula. Fantastisch. Aulus hätte sich mit Sicherheit einen heldenhafteren Tod gewünscht, irgendetwas, wo er eine holde Maid – am besten Prisca – vor irgendwelchen Räubern oder Monstern rettete. Etwas in der Art wie Theseus. Mit dem kleinen Unterschied, dass Helden normalerweise nicht draufgingen. Aulus' Tod glich noch nicht einmal dem Ikarus', denn der hatte da wenigstens nach Höherem gestrebt... und... Nigrina schloss die Augen, als ihr mit plötzlich Wucht klar wurde, was Aulus' Tod noch bedeutete. Aulus. Senator und Pontifex. Mit weiteren Karrieremöglichkeiten vor ihm. Und ihr Bruder. Und jetzt? War sie die Schwester eines toten Senators und Pontifex. Und kein anderer Bruder in Sicht, dessen Macht und Einfluss auch ihren Status würde heben können. Nur ihr Cousin, den ihr Vater verabscheute. Und ihr Mann, dessen Karriere für sie freilich elementar war... von dem sie sich allerdings zugleich auch nicht zu sehr abhängig machen wollte. Ehen konnten jederzeit geschieden werden, und dann musste es irgendjemanden in ihrer näheren Familie geben, der hoch genug in der Politik angesiedelt war, dass sie davon auch profitieren konnte. Sie würde mit Gracchus reden müssen, würde sich dessen versichern müssen, dass er in einem solchen Fall für sie da sein würde. Ihr Vater würde im Quadrat springen, aber ihr Vater lebte auch nicht in dieser Schlangengrube, die sich Rom nannte, und sein Einfluss mochte in Ravenna groß sein, und in Wirtschaft und Handel auch nach Rom reichen, aber nicht, was die Politik betraf. Aulus' Tod könnte das Gleichgewicht in verschiedenen Bereichen zu ihren Ungunsten verschieben, und sie gedachte, dem entgegen zu wirken.


    Mit einem Ruck stand sie auf und trat einige Schritte zu Gracchus und dem Fremden. Was hatte der noch gleich gesagt wo er herkam? Im Grunde egal. Es war irgendein Peregrinus, der unter irgendeinem Busch hervor gekrochen gekommen war. „Ein wirklich außerordentliche Beobachtungsgabe kannst du dein eigen nennen.“ Der Sarkasmus in ihrer Stimme war zu scharf, als dass sie ihn hätte verbergen können – aber es war tatsächlich erstaunlich, welche Details der Mann gesehen hatte, obwohl er bei einer zusammenstürzenden Insula doch recht weit hatte weg sein müssen, damit er selbst unbeschadet davon hatte kommen können. Sie glaubte eher, dass er das ein oder andere Detail dazu gedichtet hatte, damit er eben nicht eingestehen musste, dass er deutlich weniger gesehen hatte... und dass er sich zudem vermutlich auch nicht mehr an alles so exakt erinnern konnte. Der kleine Bericht wirkte außerdem wie einstudiert, was der Fremde wohl auf dem Weg hierher getan hatte. Und das alles ließ Nigrina widerborstig werden... aber im Grunde war es egal, was der Fremde wie erzählte. In diesem Moment hätte wohl so ziemlich alles dazu geführt, dass sie Konfrontation bevorzugte. „Behauptest du also allen Ernstes, dass ein Senator Roms, ein Pontifex, zu Fuß durch die Subura gegangen ist? Ohne weitere Begleitung?“

    Herrin... deinem Bruder ist etwas zugestoßen. Die Worte echoten in Nigrinas Kopf, während sie steif in der Sänfte saß und die Träger am liebsten zu noch mehr Geschwindigkeit angeprügelt hätte. Deinem Bruder ist etwas zugestoßen. Es war nahe Mittag gewesen, und Sextus und sie waren gerade dabei gewesen, es sich im Triclinium für das Essen bequem zu machen, als der Bote herein gestürzt kam. Und sein Tonfall, seine Mimik waren ernst gewesen, so ernst, dass Nigrina sich nicht damit aufgehalten hatte, sich aufzuregen über sein plötzliches Eindringen, was ihre erste Reaktion gewesen war, bevor er seine Botschaft überbracht hatte. Sie hatte sich auch nicht damit aufgehalten, irgendwelche Fragen zu stellen, so bald klar wurde, dass der Mann alles gesagt hatte, was er wusste. Deinem Bruder ist etwas zugestoßen. Der Bote war zu Luft für sie geworden, kaum dass er geendet hatte... und auch Sextus hatte sie nicht mehr wirklich eines Blickes gewürdigt. Stattdessen hatte sie nach der Sänfte gerufen – nein, nicht gerufen. Ihre Stimme war sogar eher leise gewesen... mit einem eisigem Unterton, der noch weniger Widerspruch duldete als einer ihrer Wutanfälle, aber: ihre Stimme war leise gewesen. Ein kaltes Etwas schien sich um ihre Brust zu legen und zuzudrücken, während sie sich eine Palla bringen ließ und stumm nach draußen ging, ohne wirklich zu registrieren, dass ihr Mann ihr folgte. Ihre Gedanken kreisten um ihren Bruder. Aulus war etwas zugestoßen, und es musste irgendetwas Schlimmes sein, sonst würde man sie kaum sofort rufen lassen.


    Der Weg, sonst eigentlich verhältnismäßig kurz, lagen die Villen doch nicht so weit auseinander, schien ihr nun viel zu lang zu werden. Sie saß ruhig in der Sänfte, ihre Miene völlig regungslos, und nur der schmale, blutleere Strich, zu dem ihre Lippen geworden waren, sowie die Bewegungen ihrer Finger, mal auf ihr Bein klopfend, mal sich streckend, mal sich zu Faust ballend, gaben einen – dafür umso deutlicheren – Hinweis darauf, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie blieb stumm während des Wegs, und wenn Sextus sie tatsächlich angesprochen hatte, hatte sie davon nichts gemerkt – zu sehr waren ihre Gedanken gefangen in der Spirale rund um Aulus. Sie hatte keine Ahnung, was geschehen sein könnte. Sie wusste, dass Prisca eine Fehlgeburt gehabt hatte... sie hatte scheinbar lange darunter gelitten und sich extrem zurückgezogen gehabt, nach allem, was Nigrina aus dem flavischen Haushalt gehört hatte. Und auch Aulus hatte das getroffen... er hatte sich, obwohl eben erst genesen von seiner langen Krankheit, gleich wieder eingegraben und war kaum ansprechbar gewesen, für niemanden, wie es schien. Und jetzt... jetzt diese Nachricht. Etwas zugestoßen. Etwas. Etwas. Zugestoßen. Nigrina presste ihre Lippen noch mehr aufeinander... und dann waren sie endlich da. Sie verließ die Sänfte, schnell, aber dennoch darauf achtend ihre Contenance zu wahren, nicht gehetzt zu wirken. Außenwirkung war alles.
    Die Mühe, auf den Ianitor zu achten, gab sie sich allerdings dann wiederum nicht. Sie ignorierte auch ihn und rauschte nur an ihm vorbei in die Villa hinein. Ins Atrium. Und dort sah sie ihn. Er lag auf einer Bahre, die wiederum auf eine Kline gelegt worden war, die Falten seiner Toga völlig zerstört, das Blütenweiß verunstaltet durch jede Menge Staub und Dreck – und durch dunkelroten Schlieren. Und irgendetwas in Nigrina übernahm die Oberhand über ihr Handeln, ihr Denken, ihr Fühlen. Langsam ging sie auf die Kline zu, besah sich ihren Bruder dabei, wie er da lag, so... blass, so... leblos. So ganz anders, als sie ihn kannte. Tot. Ihr Bruder war tot. Nach Leontia und Vera jetzt auch Aulus... und damit der letzte, außer ihr. Die Kleine, die ihr Vater nun zu sich geholt hatte, zählte da einfach nicht wirklich. Sie war nicht mit ihnen aufgewachsen, sie... gehörte nicht dazu.
    Bei der Kline angekommen ließ Nigrina sich auf die Knie sinken, und ebenso langsam wie zuvor ihre Schritte gewesen waren, hob sie eine Hand und berührte ihren Bruder. Strich über seine Haare, seine Stirn, seine Wange. Starrte ihn an. Und wusste überhaupt nicht einzuordnen, was da überhaupt wirklich passiert war, vermochte es noch nicht wirklich zu realisieren, dass Aulus... tot war.