Nigrina ließ sich bereitwillig näher an ihn heranziehen, bis ihre Haut die seine berührte, ihre Brust an seinem Rücken lag und ihre Stirn zwischen seinen Schulterblättern zu ruhen kam. Sie legte auch noch ihren zweiten Arm um ihn, und mit geschlossenen Augen lauschte sie auf seinen Atem und wartete auf eine Antwort… die, als sie dann kam, zwar wunderbar ausführlich, aber im Grunde ziemlich nichtssagend war. Na toll. Zwei Wege. Beide mit möglichem Gewinn, beide gefährlich. Aber er sagte nichts dazu, worum es da eigentlich ging. Sie presste für Augenblicke die Lippen aufeinander, als sie irgendwo in sich ein wenig Ärger aufwallen spürte. Gleichzeitig wusste sie allerdings auch, hatte gelernt mittlerweile in ihrer Ehe, dass es nichts bringen würde, wenn sie sich jetzt aufregte oder ihn mit Fragen zu löchern begann. Wenn Sextus ihr etwas sagen wollte, sagte er es. Wenn nicht, dann nicht – und dann half auch nichts, was sie tat. Und nachdem sie das realisiert hatte, war sie auch in solchen Situationen sehr schnell dazu übergegangen, sich vornehm zurückzuhalten. Wenn keinerlei Reaktion kam, bekam fortwährende Fragerei sehr schnell entweder den Beigeschmack des Quengelns oder des Bettelns. Aber sie war eine Flavia. Sie bettelte nicht. Auch nicht darum, dass ihr Mann ihr irgendwelche Informationen gab. Nur... Verderben. Wenn er seine Worte tatsächlich so meinte und nicht übertrieb, würde das womöglich auch sie beeinflussen, wenn er eine falsche Entscheidung traf. Massiv beeinflussen... und das bereitete ihr dann zugegeben doch ein wenig Bauchschmerzen.
Dennoch: das erste, was hier zu tun war, war: eigene Rückschlüsse zu ziehen. Worum es ihm hier ging, schien also wichtig zu sein, und das einzige, was Nigrina sich da vorstellen konnte, war seine Karriere – wofür auch Ruhm und Ehre sprach. Nachdem er nun die Quaestur absolviert hatte, stand als nächstes die Erhebung in den Senatorenstand an… allerdings war bekannt, dass der Praefectus Urbi kein Freund von Patriziern war. Irgendwas würde Sextus sich da also überlegen müssen, um den Mann dazu zu bringen, ihn zum Senator zu machen – trotz der Tatsache, dass er Patrizier war, eine Patrizierin geheiratet und einen Patrizier zum Patron hatte… Alles wunderbare Beziehungen, aber nutzlos, wenn es sich um jemanden wie diesen Emporkömmling handelte, der nichts darauf gab, aber leider viel zu viel Macht hatte. Nur: das allein konnte es nicht sein. Mit ein wenig Geduld, den richtigen Fürsprechern und Bestechung dürfte sich das irgendwie regeln lassen… Was also war da noch? „Klingt alles recht neblig“, kommentierte sie trocken in seinem Rücken. Sie wollte wissen, worum es ging. Aber wer wusste schon, vielleicht ließ er sich ja so ein wenig mehr herauslocken, wenn sie auf seine Wortspielereien einging. Streiten wollte sie jetzt in jedem Fall nicht, damit würde sie nur die Atmosphäre zerstören, sie und ihn vielleicht auch sauer machen, und sich wohl der Chance berauben, ein wenig später noch einmal die letzten Stunden neu aufzulegen... aber ganz sicher nicht erreichen, dass er antwortete. „Aber wenn du mich fragst: nimm Skylla. Wenn schon untergehen, dann mit Stil… und einem hübschen Gesicht vor Augen. Wobei es freilich besser wäre, du könntest es Iason gleich tun.“
Die nächste Frage dann ließ sie ihre Augen öffnen. Er fragte sie nach ihren Wünschen? Für den Fratz? Das kam überraschend. Natürlich plante Nigrina, im Leben ihrer Kinder eine andere Position einzunehmen als ihre Mutter in ihrem – und die Chancen standen gut, schon allein aufgrund der Tatsache, dass ihr Mann dankenswerterweise nicht die Angewohnheiten ihres Vaters hatte… dazu kam, dass sie charakterstärker war als die unterschiedlichen Weiber, die ihr Vater sich immer anlachte – selbst wenn es eine von denen mal länger ausgehalten hatte, war doch nie eine dabei, die Aetius oder seinen Kindern wirklich das Wasser hätte reichen können. Ihr Vater mochte das in einer Frau an seiner Seite… aber seinen Töchtern hatte er anderes mitgegeben.
Dennoch machte sie sich nichts vor. Der Vater war wichtiger, egal welche Rolle die Mutter nun genau einnahm, und sie akzeptierte das ohne es in Frage zu stellen, ohne auch nur darüber nachzudenken. Wie auch, bei dem, was ihr eigener Vater ihr bedeutete, welchen Dreh- und Angelpunkt er ihr gesamtes bisheriges Leben für sie dargestellt hatte – was sich erst seit ihrem Umzug nach Rom und der damit verbundenen räumlichen Trennung angefangen hatte langsam zu verändern? Die Mutter konnte unterstützen, im Hintergrund lenken, insbesondere in den ersten Lebensjahren durchaus auch prägen… und sie hatte vor, in dieser Hinsicht alles auszuschöpfen, was ihr als Mutter möglich war. Aber der Vater hatte den wesentlicheren Einfluss im Leben eines Kindes. Auch wenn die Bälger das häufig erst in späteren Jahren realisierten, wenn sie älter waren.
Und Sextus sah das genauso wie sie, oder jedenfalls hatte er bislang keinerlei Anzeichen gegeben, er könnte ihr als Mutter eine größere Rolle einräumen als sie annahm. Umso mehr wunderte sie nun, dass er sie fragte, was sie wollte… ob sie sich vorstellen könnte, dass ihr Sohn ebenfalls Haruspex wurde. Die leichte Verblüffung war auch noch in ihren Augen, auf ihren Zügen zu sehen, als er sie nun nach vorne zog und sie ansah. „Ehm“, machte sie zunächst nur, weil sie tatsächlich überlegen musste. Bisher hatte sich ihr diese Frage gar nicht gestellt gehabt – weil das seine Entscheidung war. Was also hielt sie von dieser Idee? Abgesehen von dem, was die Haruspices konnten im Hinblick auf Deutung des göttlichen Willens in den unterschiedlichsten Zeichen – eine Wissenschaft, von der Nigrina kaum mehr Ahnung hatte als die meisten anderen Römer, und dieses bisschen mehr nur deshalb, weil sie mit einem Haruspex verheiratet war und dadurch das ein oder andere mitbekam, die ihr aber zweifellos nützlich erschien, auch wenn die Antworten nicht immer brauchbar oder verständlich sein mochten: die Haruspices waren ein zweischneidiges Schwert. Angesehen und respektiert, mit nicht zu verachtenden Einflussmöglichkeiten, hingen Entscheidungen doch oft an ihrer Weissagung – und gleichzeitig immer ein wenig, nun, anrüchig. Misstrauisch beäugt, von manchen vielleicht gar verachtet, gerade wegen der Macht, die ihnen zueigen war. Sie hatten also nicht den besten Ruf unter Roms religiösen Disziplinen. Allerdings: Nigrina war eine Flavia, und ihre Gens mochte zu den angesehensten überhaupt gehören – aber das hieß nicht, dass sie von allen positiv beurteilt wurden. Und mehr noch: sie war Aetius‘ Tochter – und ihr Vater hatte alles mögliche, nur nicht das, was man gemeinhin unter einem guten Ruf verstand.
Aber Rom war kein Beliebtheitswettbewerb, in dem derjenige Erfolg hatte und Macht gewann, der sich mit allen am besten verstand. In Rom kam der vorwärts, der das Zeug dazu mitbrachte und seine Vorteile zu nutzen wusste… und nicht wer Wert auf einen guten Ruf legte. Die Leute hatten Respekt vor dem, der sich Respekt verschaffte – und nicht vor dem, der darum bat. Sofern ihr Sohn also diese Lebensweisheit verinnerlichte und danach handelte, war ihr im Grunde recht gleichgültig, ob er nun Haruspex wurde oder etwas anderes, was ihm auf Dauer Macht und Einfluss bescherte. „Ich will, dass er später Karriere macht – und vorher dafür alle Voraussetzungen bekommt, die er braucht“, antwortete sie schließlich. „Die Ausbildung als Haruspex kann ihm dabei nur helfen, denke ich.“ Die war schließlich hart und umfassend genug, dass ihm das auch in der Politik von Nutzen sein würde. „Und ein möglicher Posten im Collegium später genauso.“