Foslius fackelte nicht lang, als sich die Tür öffnete und der Mann dahinter fragte, was sie wollten. Was der Soldat bei ihm davon halten mochte, war ihm herzlich egal, in erster Linie wollte er das hier einfach nur hinter sich bringen. Würde noch unangenehm genug werden... also galt: je eher, desto besser. „Salve. Mein Name ist Foslius, ich muss mit Senator Aurelius sprechen, dem Verwandten des Legaten. Ist er zu sprechen?“
Beiträge von Flavia Nigrina
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Foslius lief dem Legionär nach bis zum Praetorium, wo er sich hinstellte, um gemeinsam mit ihm zu warten. „Rom?“ machte er dann und zuckte die Achseln. „Joah. Als ich weg bin, hat's nen paar Unruhen gegeben. Wenn die Leut net wissen wie sie Essen aufn Tisch schaffen sollen, weil sie net arbeiten dürfen...“ Er zuckte die Achseln. „Aber aus Rom bin ich noch vorm Senator weg, kann sich inzwischen auch wieder geändert haben.“
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Wie angewiesen befestigte Foslius seine Waffen also am Sattel, ließ sich dann widerstandslos durchsuchen, ohne dass eine weitere Waffe hätte gefunden werden können, und nickte dann. „Danke.“
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„Selbstverständlich“, machte Foslius, gleichermaßen als Antwort auf die Frage, ob er Waffen trug – er war nicht so blöd unbewaffnet durch die Gegend zu reiten –, wie auch auf den Kommentar, dass die Legionäre sie in Verwahrung nehmen würden. Er schlug seinen Mantel zurück. „So, da... da...“ Mit diesen Worten löste er zunächst sein Schwert und einen Dolch von seinem Gürtel und drückte sie dem Legionär in die Hand, bevor er sich bückte und noch einen zweiten Dolch aus einer verborgenen Scheide in seinem Stiefel zog. „... und da. Bleibt der Gaul hier? Dann kann ich die Sachen auch am Sattel festmachen“, meinte er mit einer Kopfbewegung zu dem Pferd hin, bevor er seine Arme ausbreitete, damit der Soldat ihn durchsuchen konnte.
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„Um den Senator Aurelius“, verdeutlichte Foslius. „Er müsste vor ein paar Tagen hier angekommen sein. Als wir in Rom vor knapp anderthalb Wochen miteinander gesprochen haben, meinte er jedenfalls er würde bald nach Mantua aufbrechen.“ Genauer gesagt hatte Andronicus mit dem Aurelier gesprochen, aber das war nun nichts, was er einer Torwache erklären müsste, fand er. Andronicus hatte ihn wie all seine Männer instruiert, weshalb er Bescheid wusste, was die beiden miteinander besprochen hatten und was ihr Auftrag gewesen war. Und er wurde hier auch nur deshalb so deutlich, weil dem Legionär anzusehen war, wie misstrauisch er war – und dass er wohl ein wenig mehr Infos preisgeben musste, um durchgelassen zu werden. „Hatte von ihm nen Auftrag, muss ihm darüber Bericht erstatten, das wollte er.“
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Nigrina biss die Zähne aufeinander. Die Krämpfe hatten nachgelassen... Aber da war immer noch ein vager Schmerz, sie fühlte sich erschöpft, obwohl der Parther sie nun die ganze Zeit getragen hatte, und sie spürte, dass sie immer noch blutete, wenn auch nur leicht. Und dann kam da mittlerweile noch der Hunger dazu, der schon seit geraumer Weile in ihrem Magen nagte und sich jetzt in den Vordergrund spielte, kaum dass die Krämpfe besser geworden waren.
Und ganz so spurlos war ihr Trip durch den Wald auch an ihrem Leibwächter nicht vorbei gegangen. Er ging langsamer, seine Bewegungen waren nicht mehr so kraftvoll, er machte häufiger Pause... aber Nigrina kommentierte all das nicht. Genauso wenig wie sie über die Schmerzen gejammert hatte oder jetzt über den Hunger. So verwöhnt sie war, so sehr sie ihre Sklaven rumscheuchte und keine Verzögerungen, nicht einmal die mindeste Abweichung ihrer Wünsche duldete... sie hielt nicht viel davon zu jammern über Dinge, die sich ohnehin nicht ändern ließen. In ihrem Zuhause, früher in Ravenna und seit Jahren mittlerweile in Rom, dort war alles möglich, dort stand ihr alles zur Verfügung. So extravagant ihre Wünsche manchmal auch sein mochten, letztlich ließen sie sich immer irgendwie erfüllen. Hier allerdings... was brachte es schon großartig, hier irgendetwas zu fordern, zu verlangen? Nichts. Gar nichts. Also ließ sie es. Es wären keine Forderungen gewesen, sondern Rumgejammer, und von jammern hielt sie nicht viel. Und mehr noch als alles andere hasste sie es, schwach zu sein – und fast noch mehr, Schwäche eingestehen zu müssen. Egal vor wem. Also: schwieg sie. Sagte einfach gar nichts, sondern ertrug stumm die Schmerzen, die Kälte, den Hunger.Und dann, von einem Moment auf den anderen, spielten Schmerzen, Kälte und Hunger keine Rolle mehr. Nigrina konnte nicht einmal genau sagen, was es war, dass diese Gefühle hinweg fegte und nur noch Platz für eines ließ: Alarm. Es war einfach da, ohne Vorwarnung. Der Parther hielt inne, spannte sich urplötzlich an, Nigrina meinte zu spüren wie sein Körper vibrierte, und in nur einem Lidschlag übertrug sich die Spannung auf sie.
„Wir sind schneller, wenn du gehst, Herrin.“ Nigrina schauderte es, als sie seine Stimme hörte, leise, aber mit einem Unterton, der ihr nicht gefiel. Und sie wollte gar nicht wissen, warum um alles in der Welt sie auf einmal wieder schneller sein mussten. „Dann lass mich runter“, murmelte sie nur, und der Parther gehorchte. Und ging sofort weiter, schneller als zuvor. Nigrina setzte sich ebenfalls in Bewegung und folgte ihm, aber sie merkte schon bald, wie schwach sie wirklich auf den Beinen war. Obwohl er nicht so schnell ging wie gestern, hatte sie doch Mühe, ihm zu folgen. Sie stolperte immer häufiger, und die Schmerzen in ihrem Unterleib nahmen wieder zu... aber als sie die ersten wirklichen Geräusche hinter sich hörten, das Schnauben von Pferden, die Rufe und das Lachen von Männern, das Knallen von Gegenständen, die an Bäume geschlagen wurden, geriet das in den Hintergrund. Adrenalin schwemmte ihren Körper, reduzierte ihren Verstand und ihre Gefühle auf das Wesentliche, auf das Ursprüngliche, auf den rohen Überlebensinstinkt, und plötzlich war da nichts außer dem Impuls zu fliehen, wegzukommen, einfach nur weg, so wie es Tieren in einer ähnlichen Situation ergehen mochte. Es waren Geräusche einer Treibjagd, die da erklangen. Und es war nicht schwer sich auszudenken, wer die Beute war. -
In einem gemächlichen Schritt ließ Foslius seinen Gaul auf das Tor des Castellums zulaufen. Bis vor kurzem hatte er noch ein flottes Tempo an den Tag gelegt, aber er schätzte dass es bei den Wachen wohl kaum gut kommen würde, wenn er auf sie zupreschte wie ein Verrückter. Bei ihnen angekommen schwang er sich aus dem Sattel und grüßte. „Salve. Mein Name ist Foslius. Hab ne Botschaft für den Verwandten des Legaten, der grad bei ihm zu Besuch ist.“
Sim-Off: Das spielt ein paar Tage nachdem Aurelius Lupus angekommen ist.
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„Ich hab keine AHNUNG! Ich mach das auch zum ersten Mal, Trottel!“ fauchte Nigrina. Wütend. Denn wie so häufig war es Wut, die ihr noch am ehesten die Kraft gab einfach auszuhalten. Aber was musste der Parther auch so eine idiotische Frage stellen? Wie lange wird das dauern? Haha! War ja nicht so als ob sie das nicht selbst gern gewusst hätte! Immerhin waren die Schmerzen, die mit den Krämpfen einhergingen, weit heftiger als sie es gewohnt war einmal im Monat. Warum mussten die Götter auch ausgerechnet jetzt entscheiden, dass das Balg besser doch nicht lebte? Warum hatten sie das überhaupt so entscheiden müssen? Als ob sie nicht gestraft genug wäre, mit der Aussicht auf ein Leben in Tarquinia ohne zu wissen, wann sich das ändern würde, mit ihrer Flucht aus Rom, und mit dem Überfall, der sie zu Fuß in den Wald gejagt hatte. Da hätten ihr die Götter doch wenigstens Sextus' zweites Kind lassen können, damit es gesund und putzmunter in ein paar Monaten auf die Welt kam. Idealerweise in einer reibungslosen, möglichst schmerzfreien Geburt. Ja, das wäre doch eine perfekte Belohnung gewesen für all die Mühe, die sie hatte auf sich nehmen müssen. Aber nein, stattdessen lag sie hier herum und kämpfte sich durch eine Fehlgeburt, mit nur einem Mann an ihrer Seite – und dann auch noch einem Sklaven. Leibwächter. Gladiator. Der in dieser Hinsicht nicht die allergeringste Ahnung hatte, noch weniger als es andere Männer vielleicht hätten. Medici oder so. Da wusste sie ja noch mehr als der. Und sie wusste wirklich nicht viel – warum auch hätte sie sich mit dem Thema beschäftigen sollen? Dafür gab es Hebammen. Dafür waren die da, um ihr zu helfen. Um zu sagen, was sie noch erwartete und was zu tun war. Ob es ihr – den Umständen entsprechend – gut ging, ob alles normal lief. Welche Schmerzmittel ihr helfen könnten, und, oh ja, genau die dann auch da haben und ihr geben. Oder eben auch: einschätzen, wie lange das dauern würde.
Nur war gerade jetzt und hier leider, leider keine Hebamme greifbar. Was sie mit einem völlig deplatzierten Leibwächter zurückließ und der Erkenntnis, dass sie da wohl allein durch musste.Wäre sie selbst nicht so aufgewühlt und hätte sie nicht solche Schmerzen, wäre Nigrina vielleicht sogar aufgefallen, dass der Parther zum ersten Mal, seit sie ihn hatte, nicht nur ratlos, sondern irgendwie hilflos wirkte. Es interessierte sie allerdings einen Dreck im Moment. Sie wollte das nur hinter sich haben... hatte aber jetzt schon die Befürchtung, dass es nicht so schnell gehen würde. Die Krämpfe kamen und gingen, machten aber keine Anstalten, insgesamt besser zu werden, und genauso wenig hörte sie auf zu bluten, obwohl auch das mal mehr und mal weniger wurde. Sie knurrte, immer noch wütend. Warum musste ihr Körper sie ausgerechnet jetzt so im Stich lassen? Noch dazu wo sie die gefährlichen ersten Monate eigentlich schon hinter sich geglaubt hatte.
Mühsam und ein wenig wankend wollte sie sich schließlich aufrappeln, nur um von ihrem Leibwächter sofort abgefangen zu werden. „Was wird das?“
„Na was wohl?“ fauchte sie gereizt zurück, schlug seine Hände zuerst weg und hielt sich dann kurzerhand an ihm fest, um sich auf die Beine zu ziehen. „Ich dachte wir müssen weiter!“
„Herrin, in deinem Zustand-“
„Andere Frauen arbeiten in meinem Zustand“, behauptete Nigrina, obwohl sie davon keine Ahnung hatte. Hielt sie aber schon für möglich, dass irgendwelche Plebejerinnen das taten. Waren ja immerhin Plebejerinnen. Und das übrige Fußvolk erst recht. Und überhaupt: der Parther wusste davon doch noch weniger als sie. Ein humorloses Grinsen flog über ihr Gesicht, das mehr einem Zähnefletschen glich als einem Lächeln. „Außerdem hab ich ja nicht vor zu laufen. Heb mich hoch. So kommen wir vielleicht langsam voran, aber wir kommen voran.“ -
Während sie weiter durch den Wald liefen – oder, in ihrem Fall, sich zunehmend schleppten, jedenfalls kam es ihr so vor –, verlor Nigrina jedes Zeit- und Raumgefühl. Sie hatte überhaupt keine Ahnung mehr, wo sie war. Oder wie spät es war. Sie machte einfach nur einen Schritt nach dem anderen, noch einen, einen weiteren, versprach sich jedes Mal, dass sie nach diesem Schritt endlich aufhören und eine Pause machen würden, dass es nach dem nächsten vorbei wäre, dem nächsten, nur einen noch, einen einzigen... nur um nach diesem einen dann doch den nächsten Schritt zu tun. Und noch einen. Und noch einen. Die Furcht davor, dass die Wegelagerer sie verfolgen, sie einholen und gefangen nehmen könnten, war größer als ihre Erschöpfung. Wobei: Furcht war eigentlich zu viel gesagt. Sie befürchtete, dass diese Kerle sie einholen könnten... aber alles, was darüber hinaus ging, verdrängte sie schlichtweg, sperrte es irgendwo ganz tief in sich ein, wo es ihr Bewusstsein nicht wirklich erreichen konnte. Andernfalls wäre sie in Panik geraten, und ohne tatsächlich darüber nachzudenken, rein instinktiv, wusste sie, dass sie es sich nicht leisten konnte in Panik zu geraten.
Eine Weile später erreichte sie den Punkt, an dem sie nicht einmal mehr befürchtete, sie könnten eingeholt werden... an dem die Wegelagerer einfach keine Rolle mehr spielten. Sie war zu kaputt, um irgendetwas anderes zu tun, etwas anderes zu denken, auf etwas anderes zu achten – etwas anderes als sich selbst. Die Schmerzen in ihren Füßen. Das Brennen in ihren Gliedern. Die unglaubliche Schwere in ihrem Körper. Sie konnte nicht mehr, und mittlerweile war sie dazu übergegangen, sich das mit jedem Schritt lautlos vorzusagen. Kann nicht mehr. Kann nicht mehr. Kann nicht mehr. Dem voraus gegangen war eine kurze Phase, in der sie ihren Leibwächter aufs Übelste verflucht hatte. Wenn auch nur gedanklich – und das aus zwei Gründen. Zum einen war der Fluchtreflex immer noch da, und mit ihm das Bedürfnis, wegzukommen – und trotz ihrer zunehmenden Erschöpfung und der damit einhergehenden Einengung ihrer gedanklichen Kapazitäten, ließ gleichzeitig auch der dämpfende Effekt des Schocks nach. Zum anderen wollte sie um keinen Preis erneut vor ihrem Leibwächter nachgeben müssen. Einknicken traf es noch besser. Als sie beim letzten Mal von ihrer Forderung abgewichen war, als sie eingewilligt hatte, weiterzugehen, da war unausgesprochen klar gewesen, dass sie ihm die Führung ihrer Flucht überließ. Nicht weil sie sich unterordnen wollte – sondern weil sie, wenn auch widerwillig, mit diesem ersten Nachgeben schon akzeptiert hatte, dass er die Lage besser einschätzen konnte. Bei der nächsten Konfrontation würde es also wohl genauso laufen: sie würde irgendetwas fordern, er würde – ziemlich wahrscheinlich ziemlich gut begründet – dagegen halten, und das Ende vom Lied würde sein, dass sie nachgab. Gegenüber einem Sklaven. Das würde ihr kein zweites Mal passieren. Und mit Sicherheit würde sie nicht damit anfangen, einen Sklaven anzubetteln. Eher würde sie ihm nachlaufen, bis sie irgendwann zusammenbrach, bevor sie das auch nur in Betracht zog.
Noch eine Weile später war sie so weit, dass sie irgendwie an gar nichts mehr dachte. Sie setzte einfach nur noch einen Fuß vor den anderen, taumelnd. Und als sie schließlich wirklich stolperte, nahm ihr Leibwächter sie wortlos Huckepack und trug sie weiter, und obwohl er ein Sklave war und sie darüber hinaus gerade mit männlichen Sklaven engeren Körperkontakt mied, war das einzige, was sie nun spürte, Erleichterung. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter und entspannte sich, und von da an bis der Parther endlich anhielt, war Nigrina nur in halbwachem Zustand, in dem sie nur phasenweise mitbekam, wie sie sich überhaupt fortbewegten. Und obwohl sie gar nicht mehr selbst hatte laufen müssen, war sie froh darum, endlich anzuhalten... genau so lange, wie sie brauchte, um sich zu Boden gleiten zu lassen, kaum dass ihr Sklave sie von seinem Rücken abgesetzt hatte. Oder besser: genau so lange, wie sie danach brauchte um zu realisieren, wie kalt, nass und ganz generell ungemütlich der Boden war. Ihr Sklave versuchte ihr einen halbwegs trockenen Platz herzurichten und holte sie dann zu sich, nahm sie in den Arm und hüllte seinen Mantel um sie beide, und wie schon zuvor, als er sie hochgehoben hatte, spürte sie nur Erleichterung, wo sie sich sonst wohl geekelt und aufs Heftigste widersprochen hätte. Es dauerte nicht lang, bis sie einschlief – und auch wenn es nur ein unruhiger Schlaf war, hatte sie doch wenigstens einigermaßen ihre Ruhe... bis irgendwann in der Früh, noch vor dem Morgengrauen, die Krämpfe einsetzten.
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Sie rannten. Und rannten. Und rannten. So schnell, dass Nigrina schon bald glaubte keine Luft mehr zu bekommen. Sie hatte noch nicht wirklich begriffen, was da überhaupt passiert war, nur dass es nicht gut war, gar nicht gut, überhaupt nicht gut. Schreie. Chaos. Irgendwer hatte sie beschossen. Irgendwie hatten sie davon rennen müssen. Und ihr Leibwächter zog sie so kompromisslos mit sich, dass sie gar keine andere Wahl hatte als ihm zu folgen. Aber sie wollte im Moment auch gar nichts anderes – auch wenn noch nicht wirklich in ihr Bewusstsein vorgedrungen war, was da geschehen war: die Instinkte funktionierten dennoch. Und die sagten ihr, dass es eine absolut fantastische Idee war davon zu rennen vor was auch immer das Chaos beim Karren verursacht hatte. Also folgte sie ihrem Leibwächter so gut es ging, auch wenn sie bei weitem nicht so gut zu Fuß war wie er, auch wenn sie immer wieder strauchelte und stolperte und von ihm grob weiter gezogen wurde dann, auch wenn ihr schon bald Beine und Lunge weh taten.
Wie lange sie durch das Unterholz brachen, wusste Nigrina nicht, konnte es weder in dem Moment sagen in dem sie am Rennen waren, noch im Nachhinein einschätzen. Irgendwo, irgendwann war es nur einfach so weit: sie konnte nicht mehr. Der Parther schleifte sie noch ein Stück weiter durch die Gegend, aber es dauerte nicht mehr lange, bevor auch das nicht mehr gut ging. Sie stolperte zum gefühlten hundertsten Mal, und diesmal gaben ihre Beine so sehr unter ihr nach, dass sie der Länge nach hinknallte – und als der Kerl sie erneut hoch hieven und weiter zerren wollte, hatte sie die Schnauze voll. Sie entriss ihm ihre Hand, mit so viel Energie, dass sie gleich drei Schritte zurück stolperte, und blitzte ihren Sklaven – Sklaven! – wütend an. „Es REICHT jetzt!“ fauchte sie, und ihre Stimme zitterte dabei – und das nicht nur vor Wut und Anstrengung, wie sie sich zornig eingestehen musste, sondern auch vor Tränen. „Wir machen eine Pause!“
„Herrin“, begann der Parther, in seiner unsäglich ruhigen, für die Nigrina ihm im Augenblick am liebsten hätte auspeitschen lassen. Und da sie schon wusste, was er wohl sagen würde, ließ sie ihn gar nicht weiter sprechen: „Wir. Bleiben!“
Normalerweise war der Parther ein vorbildlicher Sklave. Er war da wenn man ihn brauchte, er tat was man ihm sagte, er schwieg wenn es erwartet wurde. Deswegen machte Nigrina sich überhaupt keine Gedanken darüber, wie er wohl jetzt reagieren würde, weil sie ihm eine klare Anweisung gegeben hatte. Thema erledigt. Allein: die Betonung lag offenbar auf normalerweise. Und die Situation, in der sie sich jetzt befanden, war nicht normal. Völlig überrascht musste Nigrina nun also erleben, dass der Parther ihr zum ersten Mal, seit er in ihren Besitz gekommen war, widersprach. „Nein, Herrin“, sagte er ruhig, aber bestimmt. „Wir können hier kurz zu Atem kommen, aber wir müssen weiter.“
„WARUM?!?“ entfuhr es ihr, immer noch wütend, und schlimmer noch: näher den Tränen als zuvor. Sie hätte am liebsten geheult bei der Aussicht darauf, dass sie weiter hetzen mussten.
Der Blick, den ihr der Parther nun zuwarf, trug nicht unbedingt dazu bei ihre Laune zu heben. Irgendwie sah er gerade so aus, als zweifelte er an ihrem Verstand. „Es ist möglich, dass sie uns verfolgen, Herrin. Und wir sollten nicht hier bleiben und darauf warten, dass sie uns erwischen.“
Das saß. Nigrina starrte ihn nur für einen Moment an, aber sie sagte nichts mehr. Und nach ein paar weiteren Momenten stapfte sie los, ohne ihn anzusehen. Obwohl sie wütend war und trotzig, war ihr der Wunsch nach einer Pause ziemlich gründlich vergangen angesichts der Aussicht, dass sie womöglich verfolgt werden könnten. -
Hatte sie eigentlich schon daran gedacht, ihren Mann – und sämtliche Mitverschwörer – zu verfluchen? Nicht in den letzten paar Momenten, beantwortete Nigrina die Frage, die sie sich lautlos selbst gestellt hatte. Sie hasste es. Alles. Den Weg. Den Karren. Das Wetter. Der euphemistischerweise sogenannte Begleitschutz, der auch nur aus dreckigen Kerlen bestand, die keine Ahnung hatten, wie man eine Flavia behandelte. Und zu guter Letzt die Ochsen, vermaledeitedrecksblödeViecher... was zu einem nicht unwesentlichen Teil daran lag, dass sie bei der letzten Rast mitten in einen Haufen Scheiße getreten war, den eins dieser dreckigen Viecher losgelassen hatte, wofür Nigrina ihm am liebsten die Kehle durchgeschnitten und das Fleisch anschließend über einem Feuer gebraten hätte. Hätte den Vorteil gehabt, dass sie endlich was Vernünftiges zu essen bekommen würden. Leider hatte sich Sackgesicht nicht von den Vorteilen dieser Handlung überzeugen lassen... und der Rest der Meute hatte sich mühsam das Lachen verbissen, das hatte Nigrina wohl bemerkt.
Wie lange waren sie nun eigentlich schon unterwegs? Stunden um Stunden um Stunden sicher, auch wenn Nigrina irgendwie das Zeitgefühl verloren hatte. Aber wenn sie nicht alles täuschte, begann es schon wieder dunkler zu werden, also mussten sie ja schon Stunden unterwegs gewesen sein... Und tatsächlich, ihr Eindruck täuschte sie nicht – nach und nach setzte die Dämmerung ein, was aufgrund der Wolkenschicht am Himmel nicht sofort zu merken war, aber schließlich eben doch, und von diesem Moment an nahm das Tageslicht schnell ab. Und nur kurze Zeit später ließ Sackgesicht die Gruppe endlich halten, um ein Lager für die Nacht aufzuschlagen. In eine Raststation am Weg entlang einzukehren, wie Nigrina prompt forderte, wagte er nicht, wie er in einem seltenen Anfall von Langmut erklärte – vermutlich weil ihm mittlerweile klar war, dass Nigrina sonst wohl die ganze Nacht rumgemosert hätte deswegen. Das Risiko sei zu groß, so erklärte er, dass dort herauskam, wer die Flavia war – und davon sei es dann nur noch ein kleiner Schritt zu der Erkenntnis, dass sie sich unerlaubterweise aus Rom entfernt hatten. Es sei besser, wenn ihre Identität unbekannt bliebe, bis sie sicher Tarquinia erreicht hatten. Dass es zudem besser war, wenn Nigrina auch dort so lange wie möglich unerkannt blieb, ließ er unerwähnt. Schon allein, weil es ihn dann nichts mehr anging. Er hatte den Auftrag, die Flavia und ihren Anhang sicher nach Tarquinia zu bringen und dort bei den Cilnii abzuliefern – und genau das würde er tun. Nicht mehr und nicht weniger.
Nigrina in jedem Fall ließ sich davon, wenn auch wie üblich nur zähneknirschend, überzeugen, und das obwohl sie wieder mal den Verdacht hatte, dass Sackgesicht eine Raststation auch deswegen mied, weil er dadurch einen weiteren Batzen Geld sparte, den er so für sich einsacken konnte. Aber sie war es leid. Leid, sich mit dem Kerl herumzustreiten, und leid, regelmäßig den Kürzeren zu ziehen. Seit ihr Mann ihre Frage, sie nach Mantua mitzunehmen, derart rüde abgeschmettert hatte, hatte sie irgendwie nur noch nachgeben müssen, jedenfalls kam es ihr so vor, und sie hatte die Schnauze voll davon. Da war es irgendwie nicht ganz so entwürdigend, wenn sie von vornherein so tat, als wäre sie derselben Meinung. Und siehe da – ob es nun daran lag, dass sie diesmal nicht versucht hatte zu streiten, oder daran, dass Sackgesicht das ohnehin vorgehabt hätte, oder vielleicht daran, dass er realisiert hatte, dass es mit der Flavia leichter war wenn er wenigstens so tat als hätte sie die Möglichkeit Einfluss zu nehmen, sei mal dahin gestellt –, der Kerl kam am Abend tatsächlich noch mal zu ihr, um ihr den weiteren Plan zu erläutern. Sie hatten an diesem ersten Tag eine gute Strecke geschafft, gut dafür, dass sie mit einem langsamen Ochsenkarren unterwegs waren, hieß das. Aber Tarquinia war auch nicht allzu weit entfernt – morgen würden sie weiter reisen, und im Lauf des darauffolgenden Tages, ab Mittag ungefähr, würden sie schließlich an ihrem Ziel ankommen, wenn sich ihre Reise nicht aus irgendeinem Grund verzögerte. Und auch wenn Nigrina sich das nicht anmerken ließ, nahm sie diese Information sowohl dankbar als auch erleichtert auf. Zwei Tage. Das war auszuhalten. Dann konnte sie es sich erst mal gut gehen lassen, und parallel dazu Informationen einholen, sich auf dem Laufenden halten – und sich Gedanken machen, wie es weiter gehen sollte. Wie lange sie in Tarquinia bleiben würde. Denn dass sie da ganz sicher nicht brav warten würde, bis sich ihr Mann dazu bequemte sie irgendwann irgendwohin nachholen zu lassen, diese Entscheidung hatte sie für sich bereits getroffen. Schon aus purem Trotz würde sie das jetzt nicht mehr tun, nicht nachdem wie er sich aufgeführt hatte ihr gegenüber. Sie hatte ihren Stolz, und sie hatte ihren eigenen Willen, und sie war durchaus in der Lage selbst zu entscheiden, wo sie die Zeit verbrachte, bis Rom wieder ungefährlich zu betreten war. Nur wo, die Frage war eben noch offen, und das würde reiflicher Überlegung benötigen – denn freilich wollte sie am Ende nicht da stehen und realisieren müssen, dass Tarquinia doch die bessere Alternative gewesen wäre. Oder noch schlimmer: es sich anhören müssen von ihrem Mann. Nein, es musste schon etwas sein, wo sogar ihm klar war, dass es noch besser war als Tarquinia. Und mit diesen Gedanken – leider allerdings noch ohne eine Idee, was für ein Ort das denn sein könnte – schlief sie schließlich ein.
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In den darauffolgenden Stunden geschah nichts, was Nigrinas Stimmung auch nur annähernd gebessert hätte. Sicher, wenigstens war sie befreit aus dem Karren. Aber die Situation blieb trotzdem ätzend. Es war kalt. Der Karren war unbequem. Die Ochsen waren langsam. Es gab nichts zu tun, nichts zum Ablenken, nicht einmal die Möglichkeit, sich massieren zu lassen oder so. Schlafen ging auf dem Karren auch nicht wirklich, weil zu unbequem. Rast kam nicht in Frage, weil Sackgesicht erst mal Abstand zwischen sich und Rom bringen wollte. Der Versuch ihn und seine Männer zu überreden, doch eine Sänfte zu organisieren, mit der sie getragen werden konnte, scheiterte. Der Versuch sie zu überreden, ein anderes, besseres Gefährt zu organisieren, scheiterte ebenso. Und zu allem Überfluss setzte gegen Morgen hin auch noch Eisregen ein. Kein Wunder, dass Nigrina übellaunig war wie selten.
Als dann noch der Kleine wach wurde und anfing zu wimmern, bis es sich in ausgewachsenes Flennen steigerte, wurde es der Flavia zu viel. Mit einem Ruck stand sie auf und versetzte dem Kerl, der auf dem Kutschbock saß, mit der flachen Hand einen Hieb auf den Hinterkopf. „Halt an!“ fauchte sie, und noch bevor er reagieren konnte, sprang sie auch schon von dem Karren hinunter. Da die Ochsen fast noch gemächlicher gingen als ein Mensch, war das problemlos möglich, und es brachte ihren Begleitschutz effektiv dazu, ebenfalls anzuhalten. Kaum bemerkte Sackgesicht, was los war, riss er sein Pferd grob herum, ließ es zu ihr tänzeln und hielt erst kurz vor ihr, wo er sich zu ihr neigte. „Was soll das bitte werden?“
Sogar Halbdunkel der gerade erst aufziehenden, immer noch verregneten und wolkenverhangenen Dämmerung konnte Nigrina erkennen, dass er wütend war. Aber das war ihr reichlich egal. Ganz davon abgesehen, dass er ganz sicher nicht so wütend war wie sie. Ohne sich davon beeindrucken zu lassen, dass er auf seinem Pferd deutlich höher war als sie – sie war ja sowieso kleiner als die meisten anderen, da machte ein Kopf mehr oder weniger auch keinen Unterschied –, starrte sie ihn an, als wäre er Dreck zu ihren Füßen – das konnte sie hervorragend, egal aus welcher Position –, und wies mit einer zornigen Geste auf den Karren. „Ich hab KEINE Lust, meinem Mann irgendwann erklären zu müssen, warum sein Sohn bei dieser Flucht draufgegangen ist“, schnauzte sie ihn an. „Und falls er dir das nicht erzählt hat: ich bin mit seinem zweiten Kind schwanger. Also werden wir jetzt halten und eine vernünftige Pause machen, und DU lässt dir irgendwas einfallen, wie die Reise wenigstens ein bisschen bequemer wird!“
Sackgesicht starrte sie für Augenblicke nur grimmig an, aber Nigrina hielt seinem Blick stand – und schließlich war er es, der nachgab. Aus welchen Gründen er das tat, war ihr völlig egal, aber er tat es, nickte abgehakt, gestikulierte seinen Männern, alles für eine Pause herzurichten, und saß dann ab. -
Die Männer, die den Karren begleiteten, hatten Erfahrung in dem was sie taten. So hatten sie sich nicht alle um einen Karren geschart, sondern mehrere organisiert, die sie teils mit Händlern, teils für sie aus Rom brachten. Andere hatten bereits zuvor die Stadt verlassen, um sich später an einem verabredeten Treffpunkt wiederzusehen, mit einfachen Begründungen, hatten sich als Nichtrömer ausgegeben oder schlicht die Wachen bestochen, was auch kein großes Problem darstellte angesichts der Tatsache, dass sie offensichtlich weder Senatoren noch Ritter waren, noch nicht einmal einer hochgestellten Familie angehörten. Und auch der Weg der Karren verlief problemlos. Nicht dass Nigrina sonderlich viel mitbekam... Aber sie wurden in jedem Fall nicht aufgehalten. Der präparierte Karren tat seine Wirkung und verriet sein Geheimnis nicht, und so hatten sie ihren Weg aus der Stadt hinaus gefunden. Ihrem Naturell hatte Nigrina es dabei zu verdanken, dass sie diese Momente ihrer Flucht in erster Linie mit Ungeduld erlebte, und ihre augenblickliche Wut tat das ihrige dazu, um auch den kleinsten Funken Furcht, den sie sonst vielleicht verspürt haben mochte, auszubrennen. Sie wollte einfach nur raus hier. Raus aus diesem winzigen Drecksloch, in das sie gesperrt worden war. Und weg von Sextus, diesem Kotzbrocken, weit weg von ihm. Sie war ja vorher schon wütend auf ihn gewesen. Aber seit sie eingesperrt in den doppelten Boden des Karrens fristete, hatte sie einen ziemlichen Hass auf ihren Mann entwickelt, und sowohl Scheidung schien ihr gerade als eine sehr verlockende Variante als auch diverse Varianten sich zu rächen an ihm, die sie sich in schillerndsten Farben ausmalte. Und durch die mangelnden Möglichkeiten sich abzureagieren staute sich ihre Wut nur immer mehr auf...
Oh ja, in diesem Augenblick hasste sie ihren Mann. Sie hasste ihn mit einer Inbrunst, die sie vergessen ließ, dass sie sich keineswegs auf einem Ausflug befand.Es ließ sie hingegen nicht vergessen, wie absolut unwürdig ihre momentane Lage war. Die Zeit schien sich schier endlos zu dehnen in dem winzigen Raum, der ihr zur Verfügung stand, denn selbst nachdem sie das Stadttor hinter sich gelassen hatten, wurde sie noch nicht hinaus gelassen. Und der Weg wurde zur Marter, wegen der Enge und auch wegen der holprigen Straßen, gerade für sie, deren Rücken im Moment ohnehin über Gebühr beansprucht war. Sie spürte jeden Stein, jede Unebenheit, über die sie ratterten... und je länger das dauerte, desto mehr hätte sie am liebsten schreien und um sich schlagen wollen. Nur dass dafür kein Platz war. Fürs schlagen, jedenfalls. Und schreien kam ja auch nicht in Frage. Ihr blieb nichts anderes übrig als die Zähne aufeinander zu beißen und Sextus aufs Heftigste zu verfluchen für das, was er ihr da zumutete. Was hatte ihn überhaupt geritten, bei dieser bescheuerten Verschwörung mitzumachen? Und Gracchus erst, was war in den eigentlich gefahren? Hatte ihr Vater nicht immer behauptet, ihr Vetter sei zu unfähig und feige, um was auf die Reihe zu kriegen, irgendetwas vernünftiges jedenfalls, etwas in Richtung Wirtschaft oder Militär? Gut, die Unfähigkeit dürfte wohl hinlänglich erwiesen sein mit diesem Fehlschlag. Die Feigheit hingegen war damit jedoch wohl als widerlegt zu betrachten. Was sie persönlich allerdings einen Dreck scherte. Sie verfluchte die Mannsbilder nur, einen nach dem anderen, und am meisten davon ihren Mann, der sich doch wirklich, wirklich etwas besseres hätte einfallen lassen können als das hier. Wirklich. Angefangen damit, dass er sie nach Mantua hätte mitnehmen können. Zum einen war sie davon überzeugt, dass er für sich selbst angenehmere Mittel und Wege fand, aus der Stadt zu kommen – zum anderen hätte das Ganze völlig anders ausgesehen, wenn sie ihn hätte begleiten können, selbst wenn das Rausschmuggeln ähnlich unangenehm gewesen wäre. Und zwar schlicht und ergreifend deshalb, weil sie zufrieden gewesen wäre – zufrieden damit, ihren Willen bekommen zu haben. Und jetzt? War sie immer noch rasend vor Wut und in absolut beschissener Stimmung. Was die denkbar schlechtesten Voraussetzungen waren für eine Unternehmung wie diese.
Als sie endlich, nach Stunden, wie es ihr schien, heraus gelassen wurde, war von Rom nichts mehr zu sehen. Und ihre Laune hatte einen Tiefpunkt erreicht, den sie niemals für möglich gehalten hätte.
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Als sie erfuhr, wie Sackgesicht – Nigrina hatte kurzerhand beschlossen, es bei diesem Namen zu belassen – vorhatte sie aus der Stadt zu bringen, war sie zuerst sprachlos gewesen. Und dann hätte sie am liebsten angefangen zu toben. „Nein“, lehnte sie kategorisch ab – empört zwar, aber in gedämpftem Tonfall. „Das kommt gar nicht in Frage!“
Sackgesicht musterte sie allerdings nur kurz und zuckte dann die Achseln. „Wenn du eine bessere Idee hast aus Rom zu kommen: bitte. Wenn nicht: rein da.“
„Bestech einfach die Wachen an den Toren!“ fauchte sie wütend.
Diesmal neigte Sackgesicht sich zu ihr und fixierte sie mit seinem Blick. „Nicht alle sind bestechlich. Und ich will auf Nummer sicher gehen.“
Und wenn möglich das Geld sparen und selbst behalten, dass er dafür bekommen hatte, vermutete Nigrina. „Vergiss es. Lass dir was besseres fallen!“
„Willst du das mit deinem Mann ausdiskutieren?“ Das fragte Sackgesicht mit einem anzüglichen Grinsen.Und Nigrina blieb nichts anderes übrig, als nachzugeben. Denn abgesehen davon, dass sie keine Lust hatte Sextus zu treffen, war es auch gar nicht nötig, weil sie wusste sie, wie das ausgehen würde. Natürlich würde er dem Sackgesicht beipflichten, schon allein, weil es jetzt so spontan wohl keine Möglichkeit gab, sich noch was anderes einfallen zu lassen, und Sextus wollte, dass sie heute Nacht verschwand. Und er würde sich durchsetzen – selbst wenn sie sich weiterhin stur weigerte, die Kerle waren einfach in der Überzahl. Oh ja, und stärker waren sie auch. Sie hätte ja nicht mal gegen einen von ihnen eine Chance, wenn da einer beschließen würde sie einfach zu packen. Einen Augenblick lang stand sie mit zusammengepressten Lippen da und funkelte Sackgesicht wütend an – dann wandte sie sich mit einem Knurren ab, ohne zu antworten. Mit so viel Würde, wie in der Situation überhaupt möglich war, ging sie auf den von zwei Ochsen gezogenen Karren zu, den Sackgesicht und seine Männer mitgebracht hatten – und der mit einem doppelten Boden ausgestattet war. Über die gesamte Ladefläche hinweg konnten die Holzbretter entfernt werden, und darunter kam ein Raum zum Vorschein, der extrem flach bemessen war. Waffen oder andere Dinge darin an Kontrollen vorbei zu schmuggeln war kein Problem, und sogar Menschen fanden, lang ausgestreckt, darin... nun, Platz war eindeutig zu viel gesagt, denn es war nicht einmal genug Raum, um sich umdrehen zu können, wenn einmal der zweite Boden wieder fest installiert war. Aber es passten welche hinein, vier oder fünf nebeneinander. Und so lange die Versteckten still waren, war an dem Karren absolut nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Und da hinein sollte sie gehen. Sollte sich darin verstecken, sich einquetschen lassen, noch dazu gemeinsam mit der Amme, dem Fratz – der etwas bekommen hatte dass er auf Stunden hinaus ruhig schlafen würde – und zwei der drei Sklaven, die sie noch mitnahm. Am liebsten hätte sie ja noch viel mehr mitgenommen, aber auch das gehörte zu den Dingen, bei denen sie sich zähneknirschend hatte eingestehen müssen, dass das nicht möglich war. Die Amme, ja, die musste sowieso sein. Dazu eine Sklavin für ihre persönlichen Belange und einen weiteren für alles, was darüber hinaus ging. Und ein Leibwächter, weil sie keine Lust hatte, ihren Schutz in Tarquinia irgendeinem Wildfremden anzuvertrauen. Hier hatte sie den Parther ausgewählt. Als Gladiator machte er sich mittlerweile wohl recht gut, jedenfalls hatte sie nichts Negatives vom Ludus gehört, und auch an den Tagen, die er bei ihr verbrachte, war sein Benehmen tadellos. Hatte ihr Bruder ihr zur Abwechslung was wirklich Sinnvolles geschenkt. Der Parther stand jetzt auch schon neben dem Karren, bereit, ihr hinein zu helfen... das einzgie, was Nigrina allerdings im Augenblick für ihn übrig hatte, war ein bitterböser Blick – der Tatsache geschuldet, dass er der einzige von den Flüchtlingen war, der da nicht hinein musste. Weil er der einzige von ihnen war, der problemlos als Begleiter durchging, als Schutzbegleitung des Händlers, der in der Nacht seine leeren Fässer hinaus bringen wollte, um waswusstesieschonwohin damit zu reisen und sie irgendwo wieder aufzufüllen oder sonst was damit zu tun.
Ein böser Blick zu ihm also, aber natürlich ließ Nigrina sich trotzdem von ihm dabei helfen, in den Karren zu klettern, denn dafür waren Sklaven ja da. Sie legte sich hin, sie ertrug stumm, dass sich die anderen neben sie legten – noch nicht einmal ein bisschen was besseres als ihre Sklaven bekam sie! – , und mit zusammengepressten Zähnen ertrug sie, als die Bretter Stück für Stück über sie gelegt wurden und irgendwann komplett bedeckten. Der Hohlraum war tatsächlich so knapp bemessen, dass sie das Holz von oben nicht nur berührte, sondern beinahe einquetschte, und als rumpelnde Geräusche verkündeten, dass die Fässer aufgeladen wurden – und die Bretter daher nicht mehr so einfach würden weggestoßen werden können, falls ihr die Luft ausging –, verspürte Nigrina zum ersten Mal Klaustrophobie. Ihr Brustkorb wurde eng und ihr Magen schnürte sich zusammen, und jetzt hätte sie das Ganze noch lieber abgeblasen als zuvor. Aber sie schwieg. Sie ballte die Hände zu Fäusten und grub ihre Fingernägel in die Handflächen, sie presste die Kiefer so fest aufeinander, dass es weh tat – aber sie schwieg. Bemühte sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen, und an irgendetwas anderes zu denken, um sich abzulenken von der drückenden Enge und dem Wissen, das über ihr eine Menge zwar leere, aber nichtsdestotrotz schwere Fässer geladen waren, und sie das noch eine Weile lang würde aushalten müssen.
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Ihre Räumlichkeiten verließ Nigrina bis zum Einbruch der Nacht nicht mehr, mit einer einzigen Ausnahme: sie begab sich ins Balneum, um ausgiebig dessen Luxus zu genießen – wer wusste schon, wann sie dazu wieder die Gelegenheit haben würde. Davon abgesehen jedoch ließ sie sich nicht mehr blicken, weder beim Abendessen noch zu sonst einer Gelegenheit. Was in erster Linie daran lag, dass sie Sextus nicht mehr über den Weg laufen wollte – was sie auch nicht tat, aus einem einfachen Grund: sie ignorierte schlichtweg die Tatsache, dass es ihn überhaupt gab. Und sie wies ihre Sklaven an, niemanden, niemanden, zu ihr vorzulassen. Vor allem ihren Mann nicht. In Momenten wie diesen konnte sie ihn auf den Tod nicht ausstehen, und allein sein Anblick hätte wohl dazu geführt, dass sie erneut auf ihn losgegangen wäre, so gekränkt, wie sie sich gerade fühlte – zumal die Kränkung mit zunehmendem zeitlichem Abstand immer schlimmer brannte. Dazu kam, dass sie nicht sonderlich scharf war auf weitere Kränkungen – die sie aber bei einem neuerlichen Zusammenstoß erwartete. Sie kannte ihn ja mittlerweile, sie wusste, dass Sextus weder nachgeben noch seine Aussagen relativieren oder gar sich entschuldigen würde... und dass es beim nächsten Mal wieder genauso laufen würde. Und beim Mal darauf. Und darauf. Und gerade das war so unglaublich frustrierend für sie, mehr noch als der aktuelle Anlass für ihren Anfall von Trotz und Wut.
Sie ignorierte ebenso, dass er ihr einen Wechsel ausgestellt hatte. Als einer ihrer Sklaven damit in ihrem Cubiculum auftauchte, hatte sie ihn in zwei Teile zerrissen – den Wechsel, nicht den Sklaven. Nach DIESER Sache auch noch auf SEIN Geld angewiesen sein? Aber ganz sicher nicht. Sie hatte ihren Stolz, und auch wenn einem Teil von ihr selbst klar war, dass sie das später bereuen würde – weil sie ihn jetzt eigentlich erst recht schröpfen müsste nach dem, was passiert war –, im Moment konnte sie nicht mal den Gedanken ertragen, etwas von ihm anzunehmen. Und sie hatte zum Glück ihr eigenes Vermögen, war von ihrem Vater mehr als gut versorgt worden. Sie brauchte Sextus' Geld und seine Unterstützung nicht. Sie konnte für sich selbst sorgen, und dabei auch den Grad an Luxus halten, den sie wollte. Sofern das in Tarquinia überhaupt möglich war, hieß das.
Ihre Räumlichkeiten verließ Nigrina also erst, als es Zeit war zu gehen, und auch jetzt machte sie keine Anstalten, ihren Mann noch mal aufzusuchen, etwa um sich zu verabschieden. Sie hatte seine Verabschiedung ja schon bekommen, die da lautete du bist wahnsinnig und du kleines Kind und du hast keine Ahnung und ist mir scheißegal was du denkst.
Was die Sklavinnen eingepackt hatten für sie, hatte sie nicht kontrolliert, es interessierte sie auch nicht großartig, nicht im Moment jedenfalls – es hatte nur einen kurzen Zusammenstoß gegeben, als es darum ging, was sie für die Flucht anziehen sollte, aber da immerhin hatte sie dann doch ihrem Verstand über der Wut den Vorrang gegeben und war dem Rat einer Sklavin gefolgt, etwas Einfaches anzuziehen. Etwas sehr Einfaches, für ihre Verhältnisse jedenfalls. Ihre Kleidung war nun zwar immer noch von hochwertigem Material, aber sehr schlicht gehalten, ohne Verzierungen, ohne Schmuck... und das obwohl sie noch nicht mal wusste, wie das Sackgesicht sie aus der Stadt bringen wollte, das ihr Mann angeheuert hatte. -
Da sie saß und der Sklave stand, konnte Nigrina sehen, dass seine Wangen sich rot färbten. Aber mehr als das geschah nicht. Weder rührte sich der Kerl, noch sagte er irgendetwas – und der Händler tat auch nichts mehr. Und Nigrina war unschlüssig. Sollte sie das jetzt erst recht unmöglich finden, dass der Sklave sein Maul nicht aufbekam, um auf ihre Frage zu antworten? Oder war das eher gut? Aufsässig war es wohl in keinem Fall, sonst hätte er sie angesehen, mit diesem trotzigen Funkeln in den Augen, das manche Sklaven so gerne hatten, wenn sie frisch gefangen waren oder nachlässige Herren hatten. Der vor ihr allerdings machte ganz den Eindruck, als würde er sich schlicht nicht trauen etwas zu sagen. Was ja grundsätzlich... positiv bei einem Sklaven war. Lieber das als zu aufsässig.
Nigrina lehnte sich wieder zurück und betrachtete den mit gesenktem Kopf dastehenden Sklaven ein paar Momente lang. Schweigend. Immer noch unschlüssig. Zuerst warf er sich ihr unaufgefordert zu Füßen – und dann, wo er dazu aufgefordert wurde etwas zu sagen, stand er da und tat nichts, obwohl das die perfekte Gelegenheit gewesen wäre, sich einzuschleimen. Was sie von dieser Diskrepanz halten sollte, wusste sie nicht so recht... aber es machte sie neugierig. Gut möglich, dass der Kerl sie schon nach einem Tag anfing zu nerven, aber falls das so sein würde, war es ja kein Problem ihn sonst wo schuften zu lassen. Oder gleich ganz wieder loszuwerden. Allerdings galt es da eine Sache noch zu klären: „Ist er etwa taub?“ fragte sie den Händler spitz. Oder vielleicht auch stumm. Mit letzterem konnte man arbeiten, das waren manchmal die besten Sklaven, aber ersteres kam nicht in Frage. -
„PACK MEINE SACHEN!“ brüllte Nigrina, als sie ihr Cubiculum betrat und einer Sklavin gewahr dort wurde.
Verschreckt sah die Frau sie an. „W… Welche denn, Herrin?“
Nigrina funkelte sie zornig an. „Das ist mir scheißegal! Pack einfach irgendwas!“ Sie raste vor Wut. Warum, WARUM war ihr Mann nur so ein Ekel? Es ging ihr gar nicht so sehr darum, dass er nein gesagt hatte, denn damit hatte sie durchaus gerechnet. Aber wie er das mal wieder getan hatte, schlug dem Fass den Boden aus. Dieses… dieses oberlehrerhafte, besserwisserische Getue, als ob er die Weisheit mit Löffeln gefressen hatte. Bis hin zu dem Punkt, dass er noch nicht mal im Ansatz auf die Punkte eingegangen war, die sie als Vorteil genannt hatte. Genauso gut hätte sie auch einfach gar nichts sagen können außer Nimm mich mit, so wenig hatte er auf ihre Worte reagiert hatte. In solchen Momenten war es, als ob sie gar nicht wirklich existierte, sondern er nur irgendein Bild von ihr im Kopf hatte, auf das er reagierte, anstatt auf das was sie sagte oder tat. Oder vielleicht auch gar kein Bild... und er ging einfach nur auf das ein, was ihm gerade in den Kram passte, und alles andere ignorierte er völlig. Und sie HASSTE es so sehr, wenn er das tat. In den Jahren, die ihre Ehe mittlerweile dauerte, hatte sich daran nicht das Geringste geändert. Er nahm sie nicht ernst, so einfach war das. Egal was sie bisher getan hatte, egal wie sie sich angepasst hatte, egal wie sie versuchte sich mehr und mehr zusammenzureißen, in seiner Gegenwart jedenfalls, egal was sie geschafft hatte an Vorteilen für ihn durch ihre Kontakte zu bekommen – trotz allem nahm er sie und ihre Meinung bis heute nicht ernst. Mehr noch: er gab einen Dreck darauf. Und sie fragte sich gerade allen Ernstes, warum sie sich das gefallen ließ. Oder besser: warum sie sich reinhängte in die Netze, die Frauen spannen. Die Vorteile davon nahm er dankend an, aber darüber hinaus zählte ihre Meinung ja nichts. Warum also ließ sie die Mühe nicht einfach sein und genoss das Leben? Gut, das war in der augenblicklichen Lage die falsche Frage, das war ihr klar, aber es ging ja ums Prinzip. Und darum, wie es weiter ging, wenn diese ganze Sache hier ausgestanden war.
Für den Moment musste sie erst mal ihre Flucht vorbereiten. Sie hätte einiges darum gegeben, irgendwo anders hinzukönnen als nach Tarquinia – auch das wiederum aus Prinzip, einfach weil das der Auslöser für den Streit gewesen war. Nach Mantua wollte sie freilich auch um keinen Preis mehr, nicht mehr nachdem ihr Mann sich dermaßen aufgeführt hatte. Aber Ravenna... oder Baiae. Oder vielleicht zu Flavius Felix nach Sardinia. Aber ihr war klar, dass sie keine Wahl hatte als nach Tarquinia zu gehen. Sie zweifelte nicht daran, dass die Männer, die sie dorthin bringen sollten, eindeutige Anweisungen von ihrem Mann bekommen hatten. Sie glaubte kaum, dass sie es schaffen würde sie zu überzeugen, sie anderswo hinzubringen – zumal der Kleine ja auch dabei war, und der sollte ganz sicher nach Tarquinia. Außerdem galt nach wie vor, dass von allen möglichen Varianten Tarquinia die beste darstellte... Vorerst jedenfalls. Wenn sie einmal dort war und die verschiedenen Möglichkeiten durchdacht hatte, wenn sich gewisse Lager gebildet hatten und klare Fronten gezogen worden waren... dann konnte sie immer noch entscheiden, ob sie tatsächlich in Tarquinia bleiben würde.Während die Sklavin also – mit Hilfe weiterer, die gekommen waren – irgendwelche Sachen für sie einpackte, setzte Nigrina sich an ihren Tisch und zog eine Tafel heran, um eine Nachricht für ihren Vater aufzusetzen. Eine einfache, nur über das, was gerade ohnehin bekannt war. Sobald sie aus der Stadt heraus war, würde sie einen Boten damit nach Ravenna schicken, gemeinsam mit einer mündlichen Nachricht, überlegte sie. Es durfte freilich nichts Verfängliches dabei sein, falls der Bote abgefangen wurde, aber irgendwie musste sie ihn warnen, musste ihm verdeutlichen, dass es besser war, wenn er auch erst mal... verreiste. Vielleicht der Vorschlag, alte Freunde zu besuchen. Er würde das verstehen, hoffte sie. Zumal die Flavier so oder so in der Schusslinie gestanden hätten – zwar hatte der Kaiser nie etwas darüber verlauten lassen, dass die Aelier und die Flavier aufgrund ihrer Geschichte alles andere als Freunde waren, war nie gegen die Flavier vorgegangen... aber für den Vescularius war das freilich die perfekte Ausrede, sich über sie herzumachen, mit der einfachen Begründung, dass die Flavier ja schon immer etwas gegen die Aelier gehabt hätten... und sie allein deswegen schon verdächtig wären.
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Nigrina besah sich nun den dritten Sklaven, den der Händler vorstellte. Ein wenig enttäuscht war sie schon, dass der Kerl nur mit dreien gekommen war, aber es konnte durchaus sein, dass er augenblicklich nichts besseres anzubieten hatte... immerhin gab es exzellente Sklaven ja nicht wie Sand am Meer. So betrachtete sie also den dritten. Rein äußerlich konnte er nicht mit den beiden anderen mithalten, auch wenn er freilich immer noch dem Bild eines Sklaven entsprach, den Nigrina in ihrer näheren Umgebung dulden würde... sprich: er war definitiv schön anzusehen. Sie lauschte der Vorstellung durch den Händler, und die machte tatsächlich was her, mehr, als sie erwartet hätte. Sklave des ehemaligen britannischen Proconsuls? Das klang in der Tat interessant. Ganz vom Hocker riss der sie aber auch nicht. Nur: sie wollte sich heute einen Sklaven kaufen! Sie wollte einfach... und was sollte sie tun? Exklusive Händler wie der hier kamen nicht einfach spontan vorbei. Nigrina ließ ihren Blick grübelnd nochmals über die beiden anderen Sklaven schweifen. Der Schwarze... der käme vielleicht doch in Frage. Weil der Künstler ganz und gar nicht ging, nicht seit er sie an ihren Bruder erinnert hatte.
Ein wenig missmutig verzog sie die Lippen, während sie versuchte sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass es heute wohl doch nichts werden würde mit dem geplanten Sklavenkauf... Dennoch überlegte sie sich noch während der Händler sprach ein paar Nachfragen – war ja immerhin möglich, dass sich noch etwas interessantes ergab –, als etwas dazwischen kam. Genauer gesagt: das Verhalten des sich noch in der Vorstellung befindlichen Sklaven. Urplötzlich ließ der sich auf den Boden sacken, griff nach ihrem Fuß und berührte ihn mit der Stirn. Eine ihrer Augenbrauen wölbte sich in flavischer Manier nach oben, während sie in aller Ruhe die folgende Szene betrachtete, wie der Händler den jungen Kerl zurück riss, wie er ihn schlug, wie er sich daraufhin zu ihr wandte und sich verneigte, sich entschuldigte. Ihr Blick blieb indes auf dem Sklaven ruhen. Sie wedelte nur mit der Hand, um den Händler zum Schweigen zu bewegen, und machte gleich darauf eine Geste, die ihren Leibwächter – der sie richtig interpretierte – dazu veranlasste, ein weiteres Mal hervorzutreten, eine Hand auf die Schulter des Sklaven zu legen und ihn erneut zu ihr nach vorne zu schieben. Mit dem Interesse, mit dem vielleicht Löwe eine Gazelle beobachten würde, der sich noch nicht recht entscheiden konnte ob er nun Hunger hatte oder nicht, besah sie ihn sich einen Augenblick lang, bevor sie lauernd fragte: „Was war das?“
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Gerade eben noch war sie massiv an den Grund erinnert worden, warum sie nicht gern von ihrem Mann getrennt werden wollte. Jetzt wurde sie an den erinnert, warum sie sich in schöner Regelmäßigkeit geradezu wünschte, von ihm weg zu kommen. Warum es also eine hervorragende Idee war, mal von ihm eine Auszeit zu bekommen. Der Kerl war einfach unglaublich! Machte alles kaputt, die ganze schöne, zufriedene Stimmung in der sie gewesen war, hinweggefegt durch seine Worte und mehr noch seinen Tonfall. Ihre Miene verdüsterte sich zusehends, während sie abrupt von ihm abließ und sich zur Seite hin von der Säule und, was wichtiger war, von ihm ein paar Schritt entfernte. Hatte sie gerade noch nicht genug bekommen können von ihm, seiner Haut, seinem Duft, war seine unmittelbare Nähe, seine Berührung nun mehr, als sie ertragen konnte. Und wollte. „Natürlich bin ich das“, spottete sie, und ihre Stimme troff vor Ironie. „Kennst du die Gerüchte nicht? Wahnsinn liegt in meiner Familie.“
Während Sextus nun dazu ansetzte, lang und breit zu erklären, warum Mantua keine gute Idee war, ohne auch nur im Ansatz auf die Punkte einzugehen, die sie als Vorteil genannt hatte, angelte sie nach den zerrissenen Überresten ihrer Tunika, um sie notdürftig zu verknoten, dass ihre Brust wieder halbwegs bedeckt war. Sie gab sich Mühe, dabei ruhig und gelassen zu wirken, und immerhin ruhig war sie, aber ihre Bewegungen waren zu abgehackt und verbissen, um darüber hinweg täuschen zu können, wie sehr es in ihr brodelte. In Gedanken bedachte sie ihren Mann mit den schillerndsten Flüchen, die ihr einfielen – während der weiter machte damit, sie wie ein Kind zu behandeln. Natürlich hatte sie nicht geglaubt, in Mantua wäre alles wunderbar, natürlich war ihr klar, dass es ungemütlich werden konnte. Vielleicht nicht ganz so extrem, wie er das darstellte, aber in keinem Fall bequem oder gar luxuriös. Sie wusste das! Nur: nach Tarquinia wollte sie trotzdem nicht. Zum einen wagte sie doch stark zu bezweifeln, dass sie in dem etruskischen Kaff tatsächlich das bekommen würde, was Sextus einen standesgemäßen Lebenswandel nannte. Vielleicht was er sich darunter vorstellte. Vielleicht. Aber ganz sicher nicht das, was sie sich darunter vorstellte. Immerhin war sie eine Flavia, und Flavier hatten doch noch mal andere Vorstellungen vom Leben als Aurelier, die seit wann genau erst patrizisch waren? Sextus benahm sich zwar wie ein erstklassiger Patrizier, aber irgendwo merkte man halt dann doch den Unterschied. Und was noch wichtiger war: in Tarquinia würde sie sich zu Tode langweilen. Davon war sie überzeugt. Dort würde es nichts, nichts, geben, was auch nur halbwegs interessant wäre. In Mantua hätte sie wenigstens eine Gleichgesinnte – vorausgesetzt die Tiberia war dort –, sie hätte außerdem ihren Mann in der Nähe, der durchaus ab und zu für Kurzweil sorgen konnte, der Legat, die Stabsoffiziere... freilich würde sie mit denen kaum etwas zu tun hatten, aber das ganze Gefühl war ein anderes. Und es gab Neuigkeiten. Nicht dass irgendeiner der Männer daran denken würde sie explizit aufzuklären, aber frau bekam immer etwas am Rande mit. Nur nicht dann, wenn sie irgendwohin verfrachtet wurde, wo es nichts mitzubekommen gab. Tarquinia, zum Beispiel. Interessierten die sich überhaupt für mehr als ihre etruskischen Traditionen? Auch etwas, was sie zu bezweifeln wagte. Und unabhängig von all diesen schlagkräftigen Argumenten, die aus ihrer Sicht gegen Tarquinia sprachen: es blieb noch der Grund, dass der Fratz dort sicherer sein würde, wenn sie nicht dabei war. War ihr zwar erst eingefallen, während sie versucht hatte Sextus zu überzeugen, aber seit ihr das eingefallen war, glaubte sie das tatsächlich. Würde Lucius allein dort hingebracht, könnten die Cilnii ihn erst mal komplett bei sich verstecken, und ihn irgendwann zunächst als Kind eines Verwandten ausgeben, bis die politische Lage so weit geklärt war, dass er wieder als Sextus' Sohn auftreten konnte.
Also: nein. Sie wollte ganz sicher nicht nach Tarquinia. Aber nach Mantua würde ihr Mann sie nicht mitnehmen, das machte er gerade unmissverständlich deutlich. „Und du glaubst, ich wüsste das alles nicht, ja?“ fuhr sie ihm irgendwann dazwischen, aber Sextus sprach ungerührt weiter und beendete seine kleine Ansprache darüber, was sie alles warum nicht konnte. Himmel, was für ein arroganter Arsch er doch manchmal war! Vielleicht sollte sie wirklich froh sein, ihn zur Abwechslung mal los zu werden und sich nicht immer mit ihm herum schlagen zu müssen. Auch wenn ihr der Sex wirklich fehlen würde... aber nun ja, nicht mehr lange und sie würde ohnehin in die Phase der Schwangerschaft kommen, wo er sie nicht mehr anrühren würde. Also auch nichts, was eine große Rolle spielte. „Fein, du Aas“, schnauzte sie ihn wütend an. „Hättest dich nicht so sehr verausgaben müssen mit deiner Ansprache! Erhöhen wir das Risiko für den Kleinen, Tarquinia, ich komme... ich kann's kaum erwarten... Vollidiot...“ Und mit diesen Worten wandte sie sich fluchend ab, um das Atrium zu verlassen.
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Nigrina beachtete nicht, was ihre verhaltene Reaktion auf den zuerst vorgestellten Sklaven auslöste. Der Mann hatte ja noch mehr dabei... und nun, wenn darunter tatsächlich gar nichts nach ihrem Geschmack sein sollte, würde sie das nächste Mal halt einen anderen Händler kommen lassen. Es gab zwar nicht viele, die derart exklusiv waren, aber immerhin doch mehr als diesen einen.
Der nächste Sklave allerdings entsprach in der Tat weit mehr dem, wonach ihr gerade der Sinn stand. Wie der Schwarze auch war er eine Wohltat fürs Auge, wenn auch auf andere Weise... aber das waren sie alle auf die ein oder andere Art, etwas anderes hätte Nigrina auch nicht erwartet. Das war Grundvoraussetzung für einen Händler wie Pharasmanes. Trotzdem musste sie zugeben, dass dieses Exemplar noch einmal etwas draufsetzte und in puncto Schönheit der Gestalt.„Gerne, ja...“ ließ sie vernehmen, als der Händler eine Kostprobe anbot, und was sie dann zu hören bekam, war... hervorragend. Sie behielt eine regungslose Miene bei, hatte sie doch genug von ihrem Vater gelernt, um sich nicht anmerken zu lassen, wann ihr etwas wie sehr gefiel, weil die Verhandlungsbasis dann eine weit bessere war... Sie erlaubte sich nur, die Augen zu schließen, während sie der Musik lauschte, dem Spiel des Sklaven, seinem Gesang. Sie war nicht sonderlich künstlerisch oder ästhetisch veranlagt, was es da zu verteilen gegeben hatte in ihrer Familie, hatte komplett ihr Bruder abbekommen, aber dennoch wusste sie eine Darbietung wie diese freilich zu schätzen. Doch... doch, der hier kam definitiv in Frage. Und wenn er ihr langweilig werden würde, konnte sie ihn immer noch Aulus schenken, der würde begeistert sein von einem Geschenk wie diesem da, und... In diesem Moment fiel ihr ein, dass das nicht ging. Jetzt nicht. Später nicht. Nie mehr. Ihr Bruder würde nie diesen Sklaven spielen und singen hören. Aulus war tot. Und die Erinnerung daran, die sie zu verdrängen suchte und die einer der Gründe war, warum sie Ablenkung wollte, machte ihr diesen Sklaven gerade ziemlich madig. Sie hatte keine Lust darauf, jedes Mal an ihren Bruder denken zu müssen, sobald der zur Lyra griff und zu spielen anfing. Obwohl er unendlich viel besser als Aulus war... auch wenn der das anders gesehen hätte...
Schluss. Nigrina zwang sich, die Gedanken an ihren Bruder fort zu schieben. Noch bevor der Sklave geendet hatte, hatte sie ihre Augen bereits wieder geöffnet, und obwohl sich ihre Miene kaum änderte, mochte ihr ihr Stimmungswechsel doch anzumerken sein, in dem harten Glitzern ihrer Augen, in dem ein wenig angespannteren Zug um ihren Mund, der ihre Lippen minimal schmaler erscheinen ließ. Nigrina ließ den Sklaven allerdings in aller Ruhe zu Ende spielen, bevor sie dem Händler einen Wink gab. War ohnehin besser, sich erst mal sein Sortiment vorstellen zu lassen, bevor sie sich entschied, auch wenn für sie jetzt schon klar war, dass auch dieser Sklave nicht in Frage kam. Höchstens um sein schönes Äußeres ein wenig zu verunstalten, als Strafe dafür, dass er es gewagt hatte sie an Aulus zu erinnern. „Weiter. Was hast du noch dabei?“