Beiträge von Flavia Nigrina

    Wenn man Aulus so zuhörte, konnte man fast glauben, als ob er irgendetwas furchtbar Flauschiges sehen würde. Nigrina warf sicherheitshalber einen prüfenden Blick auf das Kind, nur um zu sehen, ob die Amme da auch tatsächlich ihren Sohn auf dem Arm hatte und vorzeigte, aber tatsächlich, da war nichts… nichts… Nigrina fiel nichts ein, was auch nur ansatzweise so süß sein konnte, dass es Reaktionen wie die ihres Bruders hervorrief. Jedenfalls bei ihr. „Eh… Aulus?“ versuchte sie seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, denn irgendwie musste sie ihren Sohn ja schützen, sonst dachte der am Ende noch, das wäre normal. Oder, noch schlimmer, wurde genauso. Aber bevor sie weiter reden konnte, wandte der sich ihr zu. „Vernarrt? Jaaa, sicher. Furchtbar vernarrt“, versicherte sie ihm im Brustton der ironischen Überzeugung und fragte sich gleichzeitig zum wiederholten Mal, was manche Leute nur mit Kleinkindern hatten. Das war ein Balg. Ein häufig schreiendes, entweder schlafendes oder hungriges, zwischendurch mal eklige Körperflüssigkeiten von sich absonderndes Balg. Und bis dieses Balg alt genug war, dass man etwas Vernünftiges damit anstellen konnte – wie beispielsweise eine einigermaßen geistreiche Unterhaltung führen –, würde noch viel Wasser den Tiber hinunter fließen.


    Als Aulus dann auch noch davon anfing, dass er stolz auf sie sei, begann Nigrina sich dann richtig unwohl zu fühlen. Stolz. Worauf? Sie hatte ja nichts geleistet. Sie hatte ein Kind auf die Welt gebracht, das war alles. Das war etwas, was tagtäglich irgendwelche Frauen machten, und dabei gab es nun herzlich wenig, was eine Frau tatsächlich aktiv tun musste – ebenso wenig konnte sie eine Geburt hinauszögern oder verhindern, weil sie von der Natur getrieben wurde. Es gab also nicht wirklich etwas, worauf man hätte stolz sein können. Mehr noch, da sie, das war Nigrina klar, die Geburt mehr schlecht als recht hinter sich gebracht hatte.
    Die Flavia hatte in der Regel kein Problem damit, es anzunehmen, wenn ihr jemand sagte er sei stolz auf sie – auch dann nicht, wenn sie gar nichts geleistet hatte, eigentlich. Nur in diesem Fall zielte es für sie darauf ab, dass eine Geburt anstrengend war. Und sie schwach, so schwach, dass sie das nicht einfach so wegstecken konnte. Und das war und blieb ein wunder Punkt für sie.
    Nein, anders als wohl von Aulus intendiert baute Nigrina sein Kommentar nicht wirklich auf, sondern führte eher dazu, dass sie innerlich mauerte. Dennoch reagierte sie, wie sie bei Sextus kurz nach der Geburt reagiert hatte, wenn auch jetzt in voller Kontrolle über sich selbst. „Danke“, lächelte sie nur, und hoffte dass das Thema damit gegessen war. „Mir geht es gut. Die Geburt war normal, hat die Hebamme gesagt“, log sie dann, ohne mit einer Wimper zu zucken. Selbst eine normale Geburt war immer noch anstrengend genug, aber Nigrina wagte nicht zu behaupten, die Geburt sei leicht gewesen. Zu viele hatten in der Villa Aurelia mitbekommen, wie lange sie gedauert hatte, und wie lange Nigrina danach ihre Gemächer kaum verlassen hatte. „Und ich hatte ja Zeit genug, mich zu erholen. Aber wie geht es dir? Du warst krank, habe ich gehört.“
    Die nächste Frage dann lockerte die Stimmung merklich auf. Nigrinas Stimmung, hieß das. Sie konnte sich ein ehrlich amüsiertes Schmunzeln nicht verkneifen – denn dass sich ihr Bruder und ihr Mann nicht wirklich grün waren, war ihr mehr als bekannt. Den Vorfall im Theater damals, oder das bei ihrer Sponsalia, hatte sie zwar ganz und gar nicht amüsant gefunden, aber im Moment herrschte angenehme Ruhe, was wohl auch daran lag, dass die beiden Männer sich offenbar aus dem Weg gingen. Und so fand Nigrina die Frage jetzt – von der sie nicht glaubte, dass sie rein aus Sorge um ihr Wohlbefinden gestellt worden war – durchaus erheiternd finden, und als willkommene Gelegenheit sehen, ihren Bruder ein wenig zu ärgern. Sie setzte ein liebliches Lächeln auf. „Oh, ich habe keinen Grund zur Klage, Aulus. Sextus“ trägt mich auf Händen, lag ihr auf den Lippen, aber die Lüge war selbst ihr zu dreist, nicht weil sie Skrupel hätte, ihren Bruder so anzulügen, sondern weil sie fand, dass Sextus nicht verdient hatte, dass sie ihn dermaßen positiv darstellte – auch wenn sie tatsächlich keinen Grund zur Klage hatte, war er doch weit davon entfernt, ihr jeden Wunsch von den Lippen abzulesen –, „ist wunderbar. Ich könnte mir keinen besseren Ehemann wünschen.“

    „Ein Bote.“
    „Ja, Herrin. Ein Bote des Quaestor Principis Titus Duccius Vala“, wiederholte der Sklave mit vorbildlicher Ruhe – sprich, ohne eine Regung zu zeigen.
    „Und dieser Bote möchte mich sprechen.“
    „Ja, Herrin. Er bittet darum, sofern du ihn empfangen möchtest.“
    Nigrina wedelte mit einer Hand. „Und wer genau ist das?“ Die Frage war nicht an den Sklaven gerichtet, der von der Porta gekommen war, aber auch nicht direkt an jemand anderen im Raum – Nigrina erwartete einfach nur, dass ihre Frage beantwortet wurde. Der Name ließ durchaus etwas bei ihr klingeln, aber sie konnte nichts Genaues damit verbinden, und so lange sie nicht wusste, wer ihr da einen Boten schickte, gedachte sie auch nicht diesen zu empfangen. Aber wofür hatte man schließlich Sklaven, wenn nicht unter anderem auch als ausgelagertes Gedächtnis?
    „Titus Duccius Vala ist ein Mitglied einer germanisch stämmigen Gens aus Mogontiacum, Herrin“, begann eine Sklavin zu soufflieren. „Vor seiner jetzigen Amtszeit als Quaestor Principis war er Tribun der I. in Mantua, wo er unter Aurelius Ursus diente. Und er ist ein Bekannter deines Gatten, Herrin. Er war zu deiner Sponsalia geladen und erschien dort mit Vinicia Sabina.“
    Der erste Satz hatte Nigrina schon so weit, dem Boten einen negativen Bescheid bringen zu lassen. Der Mann, der ihn geschickt hatte, mochte noch so sehr Quaestor sein, aber er war ein homo novus, und rangierte als solcher noch einmal unter den üblichen Plebejern, mit denen man sonst so zwangsläufig zu tun hatte – und dann war es noch nicht mal er selbst, sondern nur ein Bote, der vor der Tür stand!
    Aber die nächsten Worte der Sklavin brachten diese Entscheidung quasi sofort wieder ins Wanken. Ein Bekannter von Sextus. Jetzt, wo das ausgesprochen war, meinte Nigrina sich sogar zu erinnern, dass ihr Mann den Namen das ein oder andere Mal erwähnt hatte. War da nicht etwas gewesen, dass er einen Duccius mit zu seinem Patron genommen hatte im Wahlkampf? Und im Gegenzug dafür von diesem bei den Viniciern eingeführt worden war, zu denen Sextus noch keinen wirklichen Bezug hatte, außer jenem, dass der dahingeschiedene Senator und Pontifex Aurelius Corvinus der Klient eines der beiden Brüder gewesen war. Wenn das dieser Duccius war, dann änderte das die Sachlage ein wenig – er war immer noch homo novus, und das war immer noch nur der Bote eines homo novus, aber wenn ihr Mann ihn kannte und mit ihm sogar Gefälligkeiten tauschte, war es vielleicht doch ganz sinnvoll, wenn sie sich wenigstens anhörte, was der Bote dieses Mannes zu sagen hatte.
    Und da war natürlich auch der nicht zu vernachlässigende Fakt, dass der Kerl es geschafft hatte, mit Vinicia Sabina auf ihrer Sponsalia zu erscheinen. Als ihre Begleitung. Wie er sie dazu gekriegt hatte, war Nigrina ein Rätsel – und es machte sie neugierig.


    So kam es also, dass sie den Sklaven fortschickte mit der Anweisung, dem Boten Bescheid zu geben, dass sie ihn gnädigerweise empfangen würde, und ihn ins Atrium zu lassen. Wohin sie sich auch gesellte. Einige längere Momente später. „Du hast eine Botschaft für mich?“

    Nigrina ließ wieder auf die Kline sinken, als ihr Bruder darauf deutete – mit einer Geste, die sie eigentlich nicht überraschen dürfte, es aber irgendwie doch tat, verbrachte sie ihre Zeit mittlerweile doch nur noch selten in seiner Gesellschaft. Sie unterdrückte ein Grinsen, während sie kurz darüber nachsinnierte, ob Aulus sich wohl je ändern würde – weder der Senatorenstand noch die Ehe schien da irgendeinen Einfluss auf ihn zu haben –, reagierte aber sonst nicht weiter darauf. Stattdessen wollte sie auf den Grund ihres Besuches zu sprechen kommen – nämlich die Vorstellung ihres Sohnes –, als Aulus diesen mitsamt der Amme auch schon entdeckt hatte. Und nicht lange fackelte. Diesmal verdrehte Nigrina ganz kurz die Augen, als ihr Bruder die Frau einfach zu sich zitieren wollte, ohne vorher die Flavia zu fragen, aber nun, die Amme hatte recht schnell gelernt, dass es Nigrinas Wort war, das zählte – und dass sie besser daran tat, der Flavia auch zu gehorchen. Und so blieb sie zunächst, wo sie war, sah nur zu Nigrina, und erst als diese – recht schnell, hatte sie in ihrer Ehe mittlerweile doch gelernt, dass es manchmal besser war, manche Dinge nicht allzu offensichtlich zu zeigen oder idealerweise ganz zu verbergen – mit einem angedeuteten Nicken zu verstehen gab, dass sie einverstanden war, kam die Amme vor und zeigte den Jungen seinem Onkel.
    Und Nigrina verzog erneut, diesmal ein wenig deutlicher, das Gesicht, als Aulus’ Stimme plötzlich um ein paar Stufen hochschnellte. So etwas in der Art hatte sie fast befürchtet, aber das änderte nichts daran, dass sie es grausam fand, wie ihr Bruder von einem Moment zum anderen plötzlich… solche seltsamen Anwandlungen hatte. Kinder und süß? Sie verstand nicht, wo die Leute das hernahmen. Sollte Aulus sich doch von dem Wurm ansabbern, anpinkeln oder ankotzen lassen – sie wäre durchaus gespannt darauf, ob er den Kleinen dann immer noch so süß finden würde. Aber sie verkniff es sich, darauf hinzuweisen, sondern bestätigte nur mit einem Lächeln und durchaus einem gewissen Stolz – dass sie das Kind momentan weder sonderlich süß noch interessant fand, hieß ja nicht, dass sie nicht trotzdem stolz darauf sein konnte, einen Sohn geboren zu haben – das Offensichtliche: „Ja, das ist Lucius. Natürlich habe ich ihn mitgebracht, ich wollte ihn dir endlich vorstellen.“ Sie ließ unerwähnt, warum sie erst jetzt mit dem Kleinen kam, wo er schon einige Wochen alt war. Es musste nicht unbedingt die Runde machen, wie sehr die Geburt sie mitgenommen hatte, dass sie tagelang nicht hatte aufstehen dürfen. Es reichte schon, dass Sextus das wusste – aber der hatte, zumindest hoffte Nigrina das, ein gewisses Interesse daran, dass nicht bekannt wurde, dass seine Frau eine schwere Geburt hinter sich hatte. Wer wusste schon, was die Leute daraus konstruieren würden: dass der Junge dann nur eine schwächliche Konstitution haben konnte; oder dass sie bei der nächsten dann tatsächlich draufgehen würde. Solches Gerede über sie konnte Nigrina nicht gebrauchen, schon allein weil man nie wissen konnte, wie sich politische Allianzen veränderten und wann sie möglicherweise einen neuen Ehemann brauchen würde, der Kinder von ihr erwartete. Und was nun ihre eigene Familie anging: sie glaubte zwar nicht, dass Aulus das herum erzählen würde. Aber sie war sich nicht so sicher, ob er nicht zumindest mit Prisca darüber reden würde, verliebt wie er war, und der Aurelia traute sie nur bedingt über den Weg. Mehr noch als das allerdings galt: Nigrina wollte kein Mitleid, wollte nicht auf diese Art angesehen werden, die letztlich nichts anderes hieß als dass sie für schwach gehalten wurde. Was allerdings gerne die Runde machen konnte und Nigrina mit einem entsprechend auch weiterhin stolzen Lächeln dann noch anfügte, war folgendes: „Er entwickelt sich wirklich prächtig, der Kleine.“

    Als Nigrina eintrat, verschmolzen die beiden Leibwächter nahezu mit der Umgebung, während die Amme zwar Abstand bewahrte zur Flavia, aber deutlich näher bei ihr blieb als die beiden Männer. Nigrina selbst überlegte kurz, entschied sich aber dann, sich tatsächlich auf eine der Klinen zu legen. Sie wurde immer noch deutlich schneller müde, als sie es gewohnt war, und sie befand sich in der Villa ihrer Familie. Da konnte sie es sich leisten, sich einen Dreck um Konventionen zu scheren, befand sie.
    Ein Sklave brachte ihr gleich darauf einen Wein, und für einen winzigen Moment sah es so aus, als würde der Tollpatsch den Wein über sie gießen anstatt ihn ihr zu geben, kratzte aber im letzten Augenblick noch die Kurve. Nigrina warf ihm einen scharfen Blick zu, sagte aber nichts dazu. Das hier waren nicht mehr ihre Sklaven, die sie zu erziehen hatte – aber vielleicht erwähnte sie es gegenüber ihrem Bruder, dass die flavischen Sklaven offenbar nachließen. Sie fragte sich nur, ob das damit zusammenhing, dass er Prisca geheiratet hatte und diese nun hier lebte... denn dass die meisten Aurelier einen anderen, deutlich laxeren Umgang mit ihren Sklaven pflegten als die Flavier, das hatte sie schon in ihren ersten Tagen ihrer Ehe gemerkt.


    Bevor sie allerdings noch einen Gedanken daran verschwenden konnte, betrat ihr Bruder das Atrium, mit ausgebreiteten Armen und einem Lächeln, das sie nur zu gut kannte. „Aulus!“ Nigrina lächelte ebenfalls, und das war einer der seltenen Momente, in denen sie es tatsächlich ehrlich meinte. Sie erhob sich und kam ihm entgegen, die unvermeidliche Umarmung über sich ergehen lassend – ihr Bruder hatte es bisher nicht begriffen, dass sie mit solcherlei Gefühlsbekundungen nicht viel anfangen konnte, da wagte sie es mittlerweile zu bezweifeln, dass er es je lernte –, und drückte ihn ebenfalls leicht. „Wie geht es dir?“

    Nigrina beachtete den flavischen Ianitor nicht wirklich, als sie an ihm vorbei ging und sich ins Atrium geleiten ließ. Ihre Sklaven waren instruiert – die Träger der Sänfte hatten draußen zu bleiben und dort zu warten, ob ihnen ihre sklavischen Kollegen etwas zu trinken nach draußen brachten oder nicht, interessierte sie nicht. Mit hinein kamen der Parther, der andere Leibwächter und die Amme mit dem Kind.

    Wenige Wochen nach der Geburt ihres Sohnes machte Nigrina sich schließlich auf, um ihrer Familie wieder einen Besuch abzustatten. Sie hatte länger damit gewartet, als ihr eigentlich lieb gewesen war – aber sie hatte nicht wirklich eine andere Wahl gehabt angesichts der Tatsache, dass die Geburt so schwer gewesen war. Ihre Familie zu besuchen, wenn ihr ihre Schwäche noch deutlich anzusehen war, kam für sie noch weniger in Frage. Also hatte der persönliche Besuch bis jetzt warten müssen.


    Während Nigrina noch in der Sänfte blieb, war es der Parther, den ihr Bruder ihr geschenkt hatte, der zur Tür vorgeschickt wurde und nun anklopfte, um sie Acanthus anzukündigen, sobald dieser öffnete: „Salve. Flavia Nigrina möchte ihren Bruder Flavius Piso besuchen.“

    Stirnrunzelnd beugte Nigrina sich über ihren Sohn. „Und du bist SICHER, dass das normal ist?“
    „Sicher, Herrin.“ Nigrina warf der Amme einen scharfen Blick zu, um zu prüfen, ob die sich etwa über sie lustig machte. Der Tonfall klang ein wenig zu glatt für ihren Geschmack, aber die Amme begegnete ihrem Blick nur mit einem sanften Lächeln und schlug brav dann ihre Augen nieder, um sich wieder dem Objekt des Zweifels zuzuwenden: dem Winzling. Wahlweise Wurm. Wahlweise Schreihals. Und gelegentlich auch Lucius, seines Zeichens ihr Sohn und Erstgeborener. Die Flavia musterte das nackte Kind noch einmal kritisch und verzog ganz leicht die Lippen. „Ich finde trotzdem, dass das komisch ist“, verkündete sie. Diese Delle im Kopf ihres Sohnes war ihr einfach nicht ganz geheuer. Aber sowohl die Hebamme als auch die Amme hatten ihr mehrfach versichert, dass jedes Kind das hatte.
    „Sicher, Herrin“, erwiderte die Amme, und erneut warf Nigrina ihr einen Blick zu, diesmal so scharf wie genervt, weil sie exakt die gleiche Wortwahl verwendete – aber bevor sie etwas sagen konnte, sprach die Frau hastig weiter, führte genauer aus, was sie diesmal hatte sagen wollen: „Sicher sieht es komisch aus, Herrin, da hast du Recht. Aber es ist wirklich normal.“ Noch ein Blick. Ein langer Blick. Dann deutete die Flavia ein Achselzucken an. „Wie lang braucht das, bis es weg ist?“
    „Nun...“ Die Amme zögerte kurz. „Ein bis zwei Jahre, ungefähr.“
    „SO LANGE?!?“ entfuhr es Nigrina, und diesmal zuckte die Frau dann doch ein wenig zusammen, nickte aber trotzdem. „Ja. Aber das ist“ „normal“ „normal“, beendeten sie den Satz gemeinsam. „Ich weiß“, fügte Nigrina noch düster an. Das hieß allerdings nicht, dass ihr das gefallen musste. Genauso wenig wie ihr gefiel, dass der Winzling irgendwie seltsame Proportionen hatte. Aber immerhin waren die Reste der Nabelschnur abgefallen, die so ein hässliches Anhängsel gewesen waren, und der Bauchnabel verheilte gut. Und die Amme meinte, auch sonst entwickle er sich prächtig, also ging Nigrina einfach mal davon aus, dass sie zufrieden sein konnte. Sie hob die Hand und strich sacht mit ihren Fingern über den kleinen Kopf, spürte unter ihren Kuppen die flaumigen Haare und die Delle, die sie nach wie vor störte, während die Amme darauf wartete, den Kleinen wieder anziehen zu können, nachdem sie ihn gewaschen hatte.
    „Und das-“ Weiter kam Nigrina nicht, denn just in diesem Moment stieg ein winziger Strahl an Flüssigkeit von dem Balg hoch. Der sie mitten auf der Brust traf. „Was zum...“ Mehr aus Reflex machte sie einen Satz zur Seite, während die Amme beinahe gleichzeitig ihren Platz einnahm und ein Tuch auf den Jungen legte. Dann dämmerte ihr, was da gerade passiert war. Ihr Mund klappte auf, aber im ersten Moment kam noch nichts heraus, erst nach einigen weiteren. „Der...“ Sie deutete anklagend auf den Wurm, der sich ihr Sohn schimpfte. „Bei allen Göttern der Unterwelt, hat der mich gerade angePINKELT? Der kleine MISTKERL!“ empörte sie sich, während die Amme die Hände rang. „Bitte, Herrin, der Junge kann nichts dafür, das ist-“ Die Frau verschluckte das nächste Wort, das ihr auf den Lippen lag, als Nigrinas Gesichtsausdruck sah, der nun so rasant von empört zu wutentbrannt wechselte, wie eine heraufziehende Frühlingsgewitterfront den Himmel verdüsterte. Und das war auch gut so, denn wenn sie noch mal: das ist normal gesagt hätte, hätte Nigrina vermutlich getestet, wie gut sie diesen Satz noch sagen konnte, wenn ihr die Zunge fehlte. Und sich danach eine andere Amme gesucht, die noch sprechen konnte, um von den Fortschritten ihres Kindes zu berichten. „DAS IST MIR EGAL, WAS DAS IST!“ zürnte die Flavia. „SIEH GEFÄLLIGST ZU, DASS DU IHM BENEHMEN BEIBRINGST!“
    „Aber... aber Herrin, er ist noch ein Baby, er-“
    „UND WEIL ER DAS IST, BIST DU VERANTWORTLICH! ICH LASS MICH DOCH NICHT VON MEINEM EIGENEN SOHN ANPINKELN!“ Wieder so eine Sache, die er von seinem Vater haben musste, MUSSTE, so wie das Treten, als er noch in ihrem Bauch gewesen war – nicht dass Sextus irgendwas davon tat, aber es war dieser mangelnde Respekt ihr gegenüber, den der Vater auch so manches Mal an den Tag legte, den Nigrina in dem Sohn zu erkennen glaubte. Nun, Sextus war ihr Mann, der konnte sich das erlauben, mit ihr auch mal anders umzuspringen, einfach weil sie seine Frau war, und auch wenn Nigrina das nicht passte und sie sich für gewöhnlich revanchierte, respektierte sie das zugleich doch auch. Aber das hier, das war ihr Sohn. Ihr Sohn. Und der würde von Anfang an lernen, dass er es seiner Mutter gegenüber besser nicht an Respekt mangeln ließ. „Zehn Hiebe auf den nackten Hintern für sie“, wies Nigrina die Sklaven an. Da sie ihren Sohn, klein und zerbrechlich und dumm wie er im Moment noch war, schlecht eine Strafe aufbrummen konnte, musste die Amme eben dafür herhalten, denn irgendjemand musste bestraft werden. „Du wirst dafür sorgen, dass er sich derlei Unarten bei seinen Eltern gar nicht erst angewöhnt!“, fauchte die Flavia die Frau noch an, die sie mittlerweile anstarrte wie ein Kaninchen die Schlage – und dann stürmte Nigrina, immer noch wütend, aus dem Zimmer, um sich im Balneum ausgiebig zu waschen.

    Nigrina konnte sich nicht daran erinnern, sich je so schlecht gefühlt zu haben wie in diesen Tagen nach der Geburt. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester Vera war sie gesundheitlich nie sonderlich empfindlich gewesen oder gar dauerhaft geschwächt, und seit sie die ersten Jahre hinter sich gelassen hatte, in denen Kinder so furchtbar anfällig waren, war sie auch nicht mehr wirklich krank gewesen. Und selbst diese Kinderkrankheiten waren nicht so schlimm gewesen, oder jedenfalls die, an die sie sich noch erinnern konnte. Nein, nichts war vergleichbar damit, wie dreckig es ihr jetzt ging, nach dieser elenden Geburt, die – das hatte ihr die Hebamme versichert – selbst für eine erste Geburt deutlich länger gedauert hatte als normalerweise, die – das hatte ihr die Hebamme ebenfalls versichert – auch deutlich schwieriger gewesen als normalerweise, selbst für eine erste Geburt. Nur brachte es ihr nichtsl, was die Hebamme ihr alles versicherte. Nicht das Geringste. Es half ihr nicht, wenn sie wusste, dass andere Frauen weniger zu leiden hatten. Entsprechend war ihr nicht nur vollkommen egal, wie so was normalerweise ablief – sie hätte der Hebamme am liebsten den Hals umgedreht, als diese damit ankam, wenn sie nicht so schwach gewesen wäre. Die Frau allerdings begriff immerhin, als Nigrina sie anfauchte, dass die Flavia nichts dergleichen hören wollte. Stattdessen konzentrierte sie sich auf all ihre Heilkunst, als ersichtlich wurde, dass sich Nigrinas Zustand nicht so schnell besserte wie erhofft.
    Die Tage nach der Geburt verbrachte die Flavia im Bett. Sie hatte aufstehen, hatte irgendetwas tun wollen, und natürlich hatte sie sich über die Anweisungen der Hebamme diesbezüglich hinweg gesetzt – aber sie hatte sehr schnell gelernt, dass sie in diesem Fall besser gehorchte. Genauer gesagt in dem Moment, in dem sie sich aufgesetzt und gleichzeitig die Beine aus dem Bett geschwungen hatte – und im nächsten Augenblick beinahe aus dem Bett gekippt und zu Boden geknallt wäre, hätten starke Arme sie nicht aufgefangen. Momente lang war ihr so schwarz vor Augen gewesen, dass sie keine Ahnung gehabt hatte, wie sie wieder ins Bett gekommen war, und erst hinterher erfuhr sie, dass der Parther sie aufgefangen und wieder hingelegt hatte. Seitdem war sie gehorsam gewesen und liegen geblieben, so schwer es ihr auch gefallen war.
    Noch schlimmer als die Untätigkeit waren eigentlich nur die Schmerzen. Ihr Unterleib fühlte sich an wie aufgerissen, dazu der Schnitt, den die Hebamme hatte machen müssen, und in den ersten paar Tagen hatte sie unter Kopfweh gelitten, dass es nicht mehr feierlich war. Sie war beileibe kein Sensibelchen, aber das, was sie erlebte, war hart an der Grenze dessen, was sie noch erträglich fand, und das trotz des schmerzlindernden Gebräus, das die Hebamme ihr verabreichte. Was vielleicht daran lag, dass Nigrina es nicht allzu sehr mochte und mit ihrem Körper um jeden Tropfen feilschte, den sie weniger trinken konnte. Das Zeug vernebelte ihr so sehr die Sinne, dass sie das Gefühl hatte nicht mehr bei klarem Verstand zu sein, wenn sie zu viel davon trank, und so angenehm ein schmerzfreier Zustand und das Gefühl, auf einer Wolke dahin zu schweben, auch sein mochten – Nigrina zog es dann doch vor, klar denken zu können. Auch wenn das hieß, dass sie Schmerzen ertragen musste.
    Dennoch jammerte sie nicht – schon gar nicht bei den Gelegenheiten, bei denen sie jemand besuchte, doppelt und dreifach nicht, wenn ihr Mann ihr einen Besuch abstattete, und auch vor ihren Sklaven gab sie sich selten diese Blöße. Nur leider gab es nichts, was sie dagegen tun konnte, dass sie nach wie vor die Hebamme brauchte, dass diese regelmäßig vorbei kam, sie untersuchte, ihren Genesungsfortschritt beurteilte. Dazu kam, dass Nigrina sich gezwungen sah, nach einigen Tagen auch noch einen Medicus holen zu lassen. Die Hebamme konnte davon beleidigt sein so sehr ihr das Spaß machte, aber wenn sie schon nichts tun konnte, dass alle mitbekamen, dass es ihr nicht gut ging, wollte die Flavia wenigstens, dass es ihr schnell wieder besser ging. Und da konnte ein Heilkundiger mehr nicht schaden, fand sie; auch wenn Medici keine Ahnung von Geburtsheilkunde hatten, hatten sie Ahnung vom Rest, von Wunden, von Blutverlust, von Schmerzen.
    Allein die immer noch tägliche Anwesenheit der Hebamme reichte aber schon, um den anderen Bewohnern klar zu machen, dass es ihr nicht so gut ging, wie sie es gern gehabt, oder wenigstens alle anderen glauben gemacht hätte. Allen voran Sextus, aber der wusste nicht nur von den Besuchen; der ließ sich täglich berichten, wie es ihr ging. Wenn er da war und sie direkt oder die Hebamme wenigstens in ihrem Beisein fragte, konnte sie immerhin ihr Garum dazu geben, aber die Diskrepanz zwischen den Beschreibungen ihres Zustands in ihrer Anwesenheit und jenen, die Sextus bekam, wenn sie nicht dabei war, wollte sie lieber nicht wissen. Sie hasste den Gedanken, dass er sie für schwach halten könnte. Aber wenigstens ließ er ihr die meiste Zeit ihre Ruhe, und das wusste sie zu schätzen, umso mehr, da sie ihm im Bett liegend kaum ausweichen oder gar davon laufen konnte, wenn sie keine Lust auf seine Gesellschaft hatte.
    Nach mehreren Tagen dann war ihr zum ersten Mal erlaubt worden aufzustehen, oder es wenigstens auszuprobieren – und heute nun verließ sie zum ersten Mal ihre Gemächer, auf eigenen Beinen hieß das, denn sobald sie durfte, hatte sie sich selbstverständlich täglich ins Balneum tragen lassen. Nicht nur weil sie sich vernünftig waschen wollte, sondern auch, weil das warme Wasser wirklich, wirklich angenehm war.


    Den Parther und andere Sklaven im Schlepptau, die das Kunststück schafften, gebührenden Abstand zu halten und trotzdem nah genug bei ihr zu sein, dass sie sie im Zweifel auffangen konnten, falls sie wieder umkippte, betrat Nigrina dann neun Tage nach der Geburt das Atrium. Von dem Kind hatte sie in den letzten Tagen herzlich wenig mitbekommen, außer den regelmäßigen Berichten der Amme, die sich um den kleinen Kerl kümmerte, bei denen sie ihn in der Regel auch mitbrachte, damit Nigrina ihn selbst begutachten konnte. Das Zerknautschtsein hatte sich gelegt, der Winzling war nach wie vor gesund, und die Amme hatte Verstand genug, immer dann zu kommen, wenn er gerade schlief, weswegen Nigrina recht zufrieden war mit ihm.
    Auch jetzt war er ruhig, ob er nun schlief oder nicht, konnte sie nicht genau sagen, da ihn nach wie vor die Amme trug – die, darauf hatte Nigrina Wert gelegt, kein anderes Kind stillte. Die Frau hatte eine Menge Geld dafür bekommen, dass sie sich für ihr eigenes Kind nach einer anderen, wie auch immer gearteten Lösung umsah. Es ging nicht an, dass ihr Kind sich die Brust mit einem anderen teilen musste; erst recht, wenn dieses andere deutlich unter seinem Stand war.
    Kurz bevor sie vor Sextus ankam, ließ sie sich den Jungen geben, um die letzten Schritte mit ihm auf dem Arm zu gehen und ihn dann nach einem kurzen Gruß vor ihrem Mann auf den Boden zu legen.

    Um ihre Mundwinkel zuckte es kurz, als Sextus zu antworten begann – und dann, als er weitersprach, verdüsterte sich ihre Miene. „Untersteh dich!“ Es wäre ein Fauchen gewesen, wäre sie nicht so schwach gewesen, aber so blieb es bei einem Murmeln, dem sowohl die Kraft als auch die Schärfe fehlte. „Mir ist egal was du tust, wenn ich mal tot bin“ – obwohl sie nicht ausschloss, dass sie dann als Totengeist wiederkam, um ihn zu verfolgen... Nein, ihr war tatsächlich egal, wen er im Fall des Falles heiraten würde. Ihr war ja auch egal, wen er jetzt, während ihrer Ehe, sonst noch bestieg, so lange er seinen ehelichen Pflichten nachkam. Sie hatte nichts dagegen, dass er sich mit Sklavinnen vergnügte. Oder mit Lupae, oder Peregrinae. Im Grunde musste man ja Mitleid haben mit dem männlichen Geschlecht, dass der Trieb bei ihnen offenbar so dermaßen groß war, dass sie ihn regelmäßig auch an derlei Weibern ausleben mussten. Wer wusste schon, wer zuvor die Lupa gehabt hatte, oder wie viele... Nigrina zumindest wollte sich nicht wirklich die Finger schmutzig machen. Für sie war es eine Sache, sich von Sklavinnen verwöhnen zu lassen, die die eigenen waren und bei denen man wusste, wer sie in der Hand gehabt hatte, oder auch die ein oder andere Freundin oder Freundin einer Freundin zu verführen, die zum einen wenigstens annähernd an ihren Status heranreichten und daher einfach etwas Besseres waren, und was zum anderen auch noch nie dazu geführt hatte, dass sie mehr rührte als vielleicht mal einen Finger... Ganz davon abgesehen, dass sie das hier in Rom ohnehin eingestellt hatte. Etwas ganz anderes war es aber, fand sie, sich mit einer Fremden einzulassen, von der man nicht wusste, wer da vorher schon gewesen war, und die darüber hinaus schlicht und ergreifend in einer Klasse rangierte, der man besser gar nicht erst begegnete, geschweige denn Körperkontakt zuzulassen.
    Aber: das war Sextus' Sache, wenn er sich mit solchen Frauen einlassen wollte. Sie störte das nicht, ja, nicht einmal Plebejerinnen machten ihr wirklich etwas aus, sofern sie nicht aus einer wirklich angesehenen Familie stammten. Und genau das war der Knackpunkt: der Status. Was in ihren Augen gar nicht anging, war eine Gespielin im Bett ihres Mannes, die eine Konkurrenz für sie sein könnte. Und zumindest so weit sie das wusste, hatte Sextus bislang die Finger von solchen Frauen gelassen.
    „Aber solang ich am Leben bin, denkst du nicht mal dran wer meine Nachfolgerin werden könnt. Und schon gar nicht meine Schwester!“ fuhr sie fort. Immerhin, sie klang angemessen beleidigt, den Umständen entsprechend, fand sie. Und sie versuchte auch, ihn ein wenig anzufunkeln. Aber es war nicht nur ihre augenblickliche Schwäche, die verhinderte, dass sie wirklich effektiv eine Schnute ziehen konnte. Trotzdem sie durchaus beleidigt war darüber, dass ihr Mann über potentielle Nachfolgerinnen von ihr nachdachte, konnte sie nicht die Erleichterung verleugnen, die auch da war. Erleichterung darüber, dass er nicht weiter darauf herum ritt, sie könnte sterben. Dass er kein Wort darüber verlor, wie schlecht sie aussah. Dass er nicht mit Mitleid ankam, gleich ob nun echt oder geheuchelt. Sie wusste nicht, ob ihm überhaupt klar war, was er damit tat – aber Fakt war: indem er ihre Schwäche nun einfach überging, ließ er sie ihr Gesicht wahren, so gut es ging. Und DAS war etwas, was sie ihm hoch anrechnete.


    Sie atmete tief ein, und ihre Lider schlossen sich für einen Augenblick. Der Kräutersud, den die Hebamme ihr eingeflößt hatte, begann endlich wirklich zu wirken, und je mehr die Schmerzen gedämpft wurden, je mehr ihr Kopf sich benebelte von der starken Wirkung der Kräuter, desto mehr schlug die Erschöpfung zu. Im nächsten Moment flatterten sie schon wieder, als Nigrina sich bemühte, die Augen wieder aufzumachen, aber Sextus begann dennoch, sich zu verabschieden, und sie konnte nicht behaupten, dass sie dafür nicht auch dankbar gewesen wäre. Ihr Kopf schien in irgendeinem diffusen Zeug zu schwimmen, und sie hatte inzwischen deutlich Mühe, ihre Gedanken noch einigermaßen beisammen zu halten. „Mhm“, machte sie mit einem Seufzen, und obwohl sie eigentlich vorgehabt hatte, zu warten, bis ihr Mann wenigstens ihr Zimmer verlassen hatte, war sie eingeschlafen, noch bevor er die Tür erreichte.

    Nigrinas Lächeln verstärkte sich noch ein wenig, als sie bemerkte, dass Avianus den vollendeten Kavalier gab. Kein Kommentar, keine Frage wie es ihr wohl erging, keine heuchlerische Versicherung, wie gut sie doch aussähe – was sie nun, hochschwanger wie sie war, einfach nicht mehr glauben konnte –, und auch nichts Verdächtiges in seinem Mienenspiel, noch nicht einmal ein verräterischer Blick.


    „Ein Mädchen?“ fragte sie nach, als er erwähnte, warum er so gut gelaunt war. Ein Mädchen. Ein nettes Mädchen. So weit so gut. Dann allerdings sagte Avianus das böse L-Wort. Lieben gelernt hatte er sie. Nigrina behielt ihr Lächeln bei, obwohl sie in diesem Augenblick nun am liebsten die Augen verdreht hätte, weil sie nicht begriff, was alle Welt – und vor allem Patrizier – immer mit der Liebe hatten. Ihren Bruder, so viel stand fest, machte die Liebe zu einem Trottel, fand sie. Aber von diesen Gedanken ließ sie sich nicht das Geringste anmerken. Vielleicht meinte er ja auch nur, dass er eine neue Geliebte hatte, die ihn gerade besonders erfreute. Aber würde er ihr dann davon erzählen? Das wäre dann vielleicht doch irgendwie... unpassend.
    „Oh, das kann noch einen Moment warten“, lächelte sie den Aurelier schelmisch an, als dieser sie nach ihrem Anliegen fragte. „Erzähl mir lieber erst von diesem Mädchen, das dich so zum Strahlen bringt. Wer ist sie?“

    Noch während die Hebamme und die Sklavinnen um sie herum wuselten – noch während der Junge an ihrer Brust lag und trank –, wurde die Erschöpfung schier überwältigend. Aber dennoch wollte Schlaf nicht kommen, konnte ihr Körper sich nicht ausruhen. Nach wie vor wühlten Schmerzen durch ihren Unterleib, der sich einfach nur... roh und wund anfühlte. Ein dumpfes Pochen schien beständig zu klopfen, und dann war da noch dieses scharfe Aufflammen, wann immer sie sich, und sei es noch so vorsichtig, bewegte. Beides war ausreichend, um sie für den Moment im Hier und Jetzt zu halten, aber darum war sie sogar beinahe dankbar, denn: sie wollte wach sein, wenn Sextus kam. Und sie ging davon aus, dass er bald genug kommen würde, dass es sich gar nicht lohnte, jetzt einzuschlafen.
    Während sie in sich hinein lauschte und darauf wartete, dass diese unterschiedliche Arten von Schmerzen abebbten, hatte der Kleine irgendwann genug, ohne dass Nigrina hätte sagen können, wie lang er nun gebraucht hatte. Es war im Grunde auch egal, von jetzt an würde sich ohnehin die Amme um ihn kümmern, und Nigrina ihn – hoffentlich! – nur zu Gesicht bekommen, wenn er gerade satt und versorgt und zufrieden war.
    Eine Sklavin nahm das Kind fort und legte es in die Wiege, die im Moment noch hier in ihren Räumen stand. Und dann war wieder die Hebamme da und hielt ihr etwas an die Lippen, irgendwas, was sie trinken sollte, was den Schmerz linderte, gegen den Blutverlust half, die Heilung unterstützte, und waswusstendiegötter noch alles, Nigrina hörte der Frau ohnehin nicht wirklich zu, und noch weniger machte sie sich die Mühe, dem zu folgen, was sie denn hörte. Die Frau erledigte hier ihre Arbeit, das war das, was von ihr erwartet wurde – und Nigrina war sich so oder so sicher, dass sie das gut machte. Andernfalls hätte sie sie nicht ausgesucht. Von daher war es auch nicht so wichtig, fand sie, dass sie jetzt mitbekam, was sie erzählte. Und sie erzählte weiter. Irgendetwas von Blutverlust, irgendetwas von Schneiden, aber auch das begriff Nigrina nicht ganz. Sie wollte nur, dass das Zeug, das die Hebamme ihr gegeben hatte, schnell wirkte, schnell, schneller.


    Als die Tür dann schließlich aufging und Sextus hereinkam, war Nigrina immer noch wach. Was auch immer die Hebamme ihr eingeflößt hatte, es wirkte – langsam, aber es wirkte. Es vernebelte ihr aber auch irgendwie den Verstand. Oder vielleicht lag das auch nur daran, dass sie die Schmerzen nicht mehr ganz so stark spürte, die bisher stärker gewesen waren als die Erschöpfung. So oder so konnte sie sich nicht so recht zu einer Reaktion aufraffen, als er eintrat. Sie nickte ihm zu, aber so schwach, dass sie sich nicht sicher war, ob er das überhaupt bemerkt hatte – sie war sich nicht einmal sicher, ob sie sich das nicht nur eingebildet hatte. Sie sah dabei zu, wie die Hebamme mit ihm sprach, und diesmal strengte sie sich dann doch an, aufzupassen. Sie hörte, wie die Frau ihm in etwa das Gleiche erzählte wie ihr. In etwa. Hatte die Frau das vorhin schon gesagt, dass sie viel Blut verloren hatte?
    Nigrina grübelte noch darüber nach, als Sextus' Stimme sie plötzlich wieder in die Gegenwart riss, genauer gesagt seine Frage. Genauer gesagt eine bestimmte Formulierung. Ob meine Frau überlebt. Überlebt, echote es in ihren Gedanken, und wäre sie nicht so verflixt fertig gewesen, sie wäre wütend aufgebraust und hätte mit irgendwelchen Sachen um sich geschmissen. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die bei einfach so bei einer Geburt starben. Tat sie nicht. Würde sie nicht. Sie weigerte sich einzugestehen, wie nah Pluto gewesen sein mochte in dieser Nacht, weigerte sich einzugestehen, dass es immer noch nicht ausgeschlossen war, dass er sie noch holte, weigerte sogar sich einzugestehen, dass er ihr überhaupt näher gewesen war, immer noch war, als normalerweise. Der Wunsch etwas kaputt zu machen war fort, stattdessen hätte sie nun am liebsten geheult – vor Wut, selbstverständlich –, weil Sextus diesen Gedanken in Betracht zog, weil die Hebamme so gar nichts darauf sagte, vor allem aber weil sie zu schwach war, zu fertig, um entsprechend zu kontern. Sie hasste es, so schwach zu sein. Und noch mehr hasste sie, dass Sextus sie so sah, ausgerechnet Sextus, der nie irgendeine Schwäche zeigte, der sich immer beherrschte, nie eine Angriffsfläche bot, immer stark war und kühl und kontrolliert – und charmant, wenn er denn wollte. Um keinen Preis wollte sie, dass ausgerechnet er sie so sah. So klein. So erbärmlich. So... so elend, dass er offenbar auf den Gedanken kam, ihr Überleben stünde zur Debatte.
    Allerdings war das nun etwas, was sie nicht verhindern konnte, und das wusste sie auch. Und so sehr sie es hasste, sie fand nicht die Energie in sich, nun wirklich wütend zu werden, oder sich auch nur annähernd adäquat darüber aufzuregen. Sie konnte einfach nicht, und irgendwo machte es das noch schlimmer, weil ihr das erst recht vor Augen führte, wie schwach sie wirklich war. Egal was war, sonst hatte sie immer als letzte Fluchtmöglichkeit ihr Temperament. Ein Wutausbruch, um alles rauszulassen, was sie störte – und um ihn als Schutzschild zu benutzen, wenn möglich. Dass sie das jetzt nicht konnte, ließ sie sich noch hilfloser fühlen als ohnehin schon.


    Sie war dankbar dafür, dass ihr Mann sich zuerst das Kind besah, bevor er sich ihr zuwandte, gab ihr das doch ein bisschen Zeit, um sich zu fangen, und als er sich dann schließlich zu ihr setzte, hatte sie sich wieder genug um Griff, um wenigstens nicht zu heulen. Sie wollte immer noch nicht, dass er sie so erlebte, aber vor ihm in Tränen auszubrechen, hätte dem Ganzen die Krone aufgesetzt.
    Einen Augenblick lang sahen sie sich nur wortlos an, er sie, sie ihn, bis Sextus das Schweigen brach. Und jetzt, plötzlich, war ihr nach lächeln zumute – auch wenn das genauso schwach ausfiel wie alles andere. Hübscher Junge, soso. Sie wusste, dass das nicht stimmte. Das letzte Mal, als sie den Kleinen gesehen hatte, hatte er von der Geburt total zerknautscht ausgesehen, und sie glaubte nicht, dass sich das schon geändert hatte. Dass Sextus das trotzdem vor ihr behauptete, hieß, dass er zufrieden war, und das wiederum freute sie. „Danke“, antwortete sie – und log damit ebenso wie er, aber warum sollte sie das Offensichtliche erwähnen, wenn er so freundlich war darauf zu verzichten. „Ich sterb nicht“, murmelte sie dann plötzlich, weil ihr das irgendwie immer noch nachging, und in ihrer Stimme war eine Spur ihres üblichen Trotzes zu hören, den Sextus nur zu gut kennen dürfte. „Nicht wegen so was.“

    Wenn Nigrina eines gelernt hatte in den vergangenen Tagen, dann war es eines: sie hasste es, Kinder zu bekommen. Sie wusste, dass das erste Balg nicht das einzige bleiben würde, nicht das einzige bleiben konnte und durfte, wollte sie ihre Stellung weiter festigen. Und sie akzeptierte das ohne weiteres. Aber das hieß nicht, dass sie diese Tatsache nicht dennoch hassen konnte.
    Die Geburt war nun annähernd zwei Wochen her, und der Junge hatte inzwischen seinen Namen bekommen. Und ihr tat immer noch alles weh. Sie war so geschwächt gewesen nach der Geburt, dass sie tagelang nicht hatte aufstehen können. Ihr hatte die Kraft gefehlt, und das eine Mal, das sie es wider der Anweisung der Hebamme und des mittlerweile hinzugezogenen Medicus' dennoch versucht hatte, war ihr schwarz vor Augen geworden. Zu viel Blut verloren, hieß es unisono aus den Mündern derer, die sie versorgten. Nigrina hätte sie am liebsten bei lebendigem Leib gegrillt, all jene, die so gut reden hatten, weil sie umher laufen konnten und es ihnen gut ging mit all ihrem Blut in ihren Körpern, dass sie nicht verloren hatten.


    Dass das Kind ein Junge geworden war, ein Sohn, ein Erbe, war immerhin ein Trost. Und sie hatte es bei dem einen Versuch belassen, vorerst, bis der Arzt ihr erlaubt hatte aufzustehen. Sie war nicht scharf darauf, umzukippen, die eine Erfahrung hatte ihr gereicht. Was sie allerdings tun konnte, war, sich alles mögliche ans Bett bringen zu lassen – und damit waren ausnahmsweise nicht, oder besser: nicht nur Dinge gemeint, die ihr die Zeit vertrieben, nicht nur Luxus, dem sie frönen konnte. Die Wahlen standen kurz bevor, und Nigrina machte da weiter, wo sie erst kurz vor der Geburt aufgehört hatte: sie zog ihre Strippen, um ihrem Mann zu helfen. In dieser Hinsicht war die Schwangerschaft denkbar ungünstig gewesen, hatte sie doch in den Wochen vor der Geburt das Haus kaum mehr verlassen können – aber sie hatte Bekannte und Freundinnen empfangen können, Mädchen und Frauen, die in irgendeiner Form mit Senatoren in Verbindung standen, und zwar in einer Art, die einen gewissen Einfluss auf eben diese Männer verhieß. Sie hatte geredet und geschmeichelt, gar nicht so sehr in erster Linie über Sextus, denn kaum eine Frau ließ sich mit der direkten Art ködern. Das war die plumpe Anmache der Männer, die unter ihresgleichen wohl funktionieren mochte, aber einer Frau konnte man so nicht kommen. Nein, da waren dezente Hinweise vonnöten, die sich von leise anschlichen und hinterrücks überfielen, wenn das Opfer arglos war... oder aber in ebenso leiser Manier antanzten und über Hintertürchen eingelassen würden, um ebenso leise und nur angedeutet beantwortet zu werden.
    Nach der Geburt, als sie nichts anderes hatte tun können als im Bett zu liegen und zu warten, bis es ihr wieder besser ging, hatte sie beschlossen ihre Zeit sinnvoll zu nutzen und aufzulisten, wenn sie bereits alles hatte und wen nicht, was noch zu tun war, wer noch Überzeugungsarbeit brauchte... was ihr fehlte, war bei den meisten Frauen das Wissen, ob die Männer tatsächlich auf sie hören würden, aber je nach den Menschen, involviert waren, konnte sie dann doch recht gut darauf schließen, wie groß der weibliche Einfluss war... oder wie schwach der männliche Widerstand, je nachdem.


    Und dann, endlich, durfte sie wieder aufstehen. Mehr noch, heute hatte sie die hochoffzielle Erlaubnis des Medicus' bekommen, die Villa zu verlassen. Ihr tat zwar immer noch alles weh, ihr Unterleib war übel empfindlich, aber das war ihr egal, solange sie nur endlich nicht mehr liegen musste, solange ihr Körper nicht mehr so schwach, so hilflos war.
    Ihr erster Weg hatte sie nun in die Thermen geführt. Zum einen hatte sie das absolut verdient, sich zu entspannen und verwöhnen zu lassen. Zum anderen, und das war der Punkt, warum auch die hauseigenen Sklaven nicht ausreichten im Hinblick auf das Verwöhnen: die Thermen waren – wenigstens für ihresgleichen – einer der besten Orte, um Klatsch und Tratsch aufzuschnappen und selbst welchen zu streuen. Die Märkte waren ein anderer, aber dort schickte sie ihre Sklaven hin, um zu tun was nötig war; ebenso wie es nicht sie selbst war, die beispielsweise mit der ein oder anderen niederrangigen, aber langjährigen Geliebten eines Senators sprach, damit diese ihrem Liebhaber im richtigen Augenblick etwas ins Ohr säuselte...
    Wie auch immer: sie mochte gerade erst einen Sohn geboren haben, aber die Wahl wartete nicht, und die Pause, die sie zwangsweise hatte machen müssen, war lang genug gewesen – länger als sie erwartet hatte. Sie würde nicht die verbliebene Zeit zu Hause sitzen und nichts zu tun, nur weil sie noch nicht völlig wieder auf dem Damm war. Sie wusste, wo ihr Platz war, sie wusste, was ihre Aufgaben waren als Ehefrau.


    Und so saß sie nun in einem der angenehm warmen Becken in den Thermen, genoss das Wasser, und plauderte mit zwei Damen, die sich zu ihr gesellt hatten, kaum dass sie sie gesehen hatten. Glückwünsche zur Geburt, zum Sohn, Nigrina lächelte und ließ es über sich ergehen, verbiss sich jeden Kommentar darüber, wie ätzend das Ganze gewesen war und wie sehr sie jetzt noch darunter litt, wäre ja noch schöner, das diesen neugierigen Schandmäulern auf die Nase zu binden. „Ein Sohn, das ist doch hervorragend, gerade für die Aurelier, die hatten es nicht leicht in der Vergangenheit...“ Nicken und lächeln, nicken und lächeln. Die Flaminia schien das immerhin aufrichtig zu meinen, naiv wie sie war. Da war die Lartia ein ganz anderes Kaliber... „Ja, es ist so tragisch, dass so viele zu ihren Ahnen gegangen sind... vor allem der Pontifex und seine Frau. Ich frage mich bis heute, warum sie keinen anderen Weg gesehen haben, als sich selbst zu töten.“ Und damit war schon wieder der Punkt gekommen, an dem Nigrina der Lartia am liebsten die Augen ausgekratzt hätte, obwohl das ihr und ihrem Lächeln nicht im Geringsten anzumerken war. Der Tod des Aureliers und Celerinas war nun lange genug her, dass man darüber eigentlich nicht mehr reden müsste. Wahrscheinlich würde die Lartia noch in zehn Jahren das gleiche sagen: ich frage mich heute noch... „Fraglos aus Gram über den Frevel.“
    „Fraglos“, kommentierte Lartia Vibulana, aber bevor sie noch etwas sagen konnte, setzte Nigrina ein süßes Lächeln auf. „Ich kann mich übrigens nicht entsinnen, dich bei der Entsühnung gesehen zu haben. Was hat dich aufgehalten?“


    Sim-Off:

    Wer mag?

    Ein dumpfes Stöhnen drang aus den Gemächern, die Nigrinas waren. So wenig sie ein Problem damit hatte, herum zu brüllen, wenn sie sich gerade aufregte – so sehr hatte sie eines damit, es zu tun, wenn sie Schmerzen hatte.
    Und im Augenblick hatte sie Schmerzen. Sie hatte gewusst, dass eine Geburt schmerzhaft werden würde, aber dass es so schmerzhaft werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Im Traum nicht. Zuerst war es nur ein Ziehen gewesen, das sie für die üblichen Vorwehen gehalten hatte – die immerhin kamen nun immer öfter, und da die Hebamme ihr gesagt hatte, was sie erwartete, ignorierte Nigrina diese schlicht. Sie motzte gelegentlich darüber, aber sie jammerte nicht – und sie ließ schon gar nicht zu, dass diese Unannehmlichkeiten tatsächlich ihr Leben beeinflussten oder gar beherrschten.
    Allerdings waren sie häufiger gekommen als bislang. Und sie waren stärker gewesen. Und länger. Und dann waren sie mit einem Sprung plötzlich stärker geworden, so stark, dass sie realisiert hatte, was nun anstand – und zu ihrem Leidwesen war diese beim Essen gekommen, und es hatte sie einiges an Selbstbeherrschung gekostet, sich nichts anmerken zu lassen. Oder es wenigstens zu versuchen. Vermutlich hatte sie das Gesicht verzogen, und sie hatte ganz sicher plötzlich angespannt gewirkt, aber sie hatte immerhin keinen Laut von sich gegeben. Wäre ja noch schöner. Sie hatte abgewartet und sich danach mit einer oberflächlichen Entschuldigung zurückgezogen – um nach der Hebamme schicken zu lassen, und sich in ihre Gemächer zurückzuziehen.


    Und dort war sie nun. Herumlaufend, stehend, sitzend, liegend, wieder herumlaufend, irgendwie musste man ja die Zeit totschlagen. Nachdem die Hebamme bestätigt hatte, dass nun wohl die Geburt bevorstand, hatte Nigrina den Parther losgeschickt, der ihrem Mann Bescheid sagen und sich dann vor ihrer Tür postieren sollte, um unerwünschte Besucher abzuwimmeln und zur Not als Botenjunge zu fungieren, wenn drinnen irgendetwas gebraucht wurde. Ein anderer Sklave war geschickt worden, um die Amme zu holen, die Nigrina ausgesucht hatte, das Kind nach dem ersten Stillen zu versorgen.
    Und dann hieß es: warten. Warten auf die nächste Wehe, warten auf die nächsten Schmerzen, die sich stückweise zu steigern begannen, warten auf das Ende in Form der Geburt. Nigrina scheuchte Sklavinnen herum. Nigrina scheuchte auch die Hebamme herum, oder jedenfalls versuchte sie es, auch wenn diese sich davon wenig beeindrucken ließ – sie war es gewöhnt, mit schwangeren oder gebärenden Frauen umzugehen, die von hohem Rang waren und sich entsprechend benahmen, denn natürlich hatte Nigrina nicht einfach irgendeine Hebamme ausgesucht. Die Flavia wiederum wusste, dass sie die Frau noch brauchen würde, was der Grund war, warum sie sich ihr gegenüber dann doch noch ein wenig besser verhielt als gegenüber ihren Sklavinnen.
    Aber sie brauchte Ablenkung. So lange die Ruhephasen noch ausreichend Zeit boten, tigerte sie also im Raum umher, ließ sich je nach Laune vorlesen, Musik vorspielen, etwas anderes vorlesen... Aber es dauerte. Und dauerte. Und dauerte. Und kontinuierlich wurde das Ziehen stärker, schmerzhafter, ihr Bauch verkrampfte sich mehr und mehr, bis Nigrina schließlich nur noch lag, aber immer noch dauerte es. Die Hebamme versicherte ihr, dass das ganz normal sei, vor allem bei der ersten Geburt, aber der Flavia war ziemlich egal, was normal war und was nicht. Sie wollte einfach nur, dass es schnell ging. Dass sie es hinter sich hatte. Sie hatte sich monatelang abgequält, um ihrem Mann ein Kind zu gebären, ganz wie es sich für eine Ehefrau gehörte, da konnte es doch nun am Schluss wenigstens schnell gehen!


    Allein, das Kind ließ sich Zeit. Stunden um Stunden vergingen, die Nacht brach herein, und der Körper der Flavia wurde immer häufiger von immer heftigeren Wehen geschüttelt. Nigrina biss in ein Stück Holz, aber selbst das konnte auf Dauer nicht mehr verhindern, dass sie anfing zu schreien. Und es dauerte immer noch. Erste Geburt, hörte sie zwischendurch die Hebamme wiederholen, da sei das normal. Irgendwann gesellte sich zu der Erste Geburt-Litanei der Schmale Hüften-Singsang. Nigrina hätte der Hebamme am liebsten einen Tritt in deren nicht ganz so schmale Hüften gegeben, aber sie war bei weitem nicht mehr in der Verfassung, sich wirklich zu rühren, geschweige denn aufzustehen und handgreiflich zu werden.
    Die Wehen gingen kontinuierlich weiter und schienen sich irgendwann auf einem gewissen Niveau einzupendeln, während die Nacht vorüber ging und draußen der nächste Tag anbrach. Erst, als die Sonne schon aufgegangen war, änderten sie sich wieder und bekamen nun eine völlig neue Qualität. Nigrina meinte, dass es ihren Unterleib beinahe zerriss bei den Wehen, die nun kamen, und zugleich hatte sie das Bedürfnis zu pressen – ohne dass sie gewusst hätte, wo sie die Kraft dafür nun noch hätte hernehmen sollen. Sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, zu schimpfen und zu fluchen, wie sie es fast die ganze Nacht lang gemacht hatte. Ihr fehlte im Grunde sogar die Kraft zu schreien, und so konnte man es beinahe schon als Wimmern bezeichnen, wenn ein neuer Schmerz über sie rollte.
    Nigrina bekam von ihrer Umgebung kaum noch etwas mit. Sie bemerkte nicht, wie die Hebamme ihre Erste Geburt- und Schmale Hüften-Sprüche irgendwann einstellte. Sie sah nicht, dass der Gesichtsausdruck der Frau ein wenig besorgt wurde und dann, irgendwann, wieder erleichtert, als endlich die Presswehen einsetzten. Und sie merkte nichts davon, dass die Hebamme erneut sorgenvoll dreinschaute, bevor sie sich zu etwas entschloss.
    Und sie hörte nicht, als die Frau ihr sagte, dass sie zu eng sei, dass sie drohte zu reißen, und dass die Hebamme deshalb würde schneiden müssen. Was, letztlich, wohl auch besser so war, dass Nigrina davon nichts hörte, obwohl die Hebamme auch erklärte, dass die Flavia ohnehin kaum mehr Kraft zu haben schien um noch weitere Presswehen durchzustehen, und dass sie zudem leichter und schneller verheilen würde, wenn es ein sauberer Schnitt war und kein Riss.


    Den neuen Schmerz, der nun kam, nahm Nigrina gar nicht wirklich war, weil er schlicht unterging in den anderen Schmerzen, den Presswehen, der Erschöpfung. Sie merkte nur, dass es irgendwann vorbei war. Endlich. So tiefgreifend müde wie noch nie zuvor in ihrem Leben sackte sie einfach nur zurück. Und dann zwang sie sich doch wieder dazu, die Augen aufzumachen, um nach dem Kind zu sehen. Sie wollte wissen, ob sich die ganze Quälerei wenigstens gelohnt hatte. Und noch bevor sie etwas sagen konnte, hörte sie das Schreien, oder vielmehr ein fiepsiges Quäken zuerst, ehe es an Kraft gewann, als die kleinen Lungen sich mit Luft füllten. Ein Junge, hörte sie die Hebamme sagen, als diese ihr das Kind nun an die Brust legte, damit es die erste Milch von ihr bekam. Wäre Nigrina nicht so fertig gewesen, hätte sie nun wenigstens eine Hand zur Faust geballt und in einer Siegesgeste nach oben gereckt, so allerdings war es nur ein schwaches, nichtsdestotrotz aber triumphierendes Lächeln, das kurz über ihr Gesicht huschte. Ein Junge. War all die Plackerei doch etwas wert gewesen.
    Einen Arm, wie von der Hebamme so zurecht gelegt, so um das Kind gelegt, dass es nicht aus Versehen herunterfallen konnte, blieb Nigrina liegen wie sie war, ließ einfach nur geschehen, als die Hebamme und die Sklavinnen anfingen, sie zu versorgen. Sie kümmerten sich um die Nachgeburt – und hier wurde es noch einmal ein wenig unangenehm, aber nichts im Vergleich zu vorher –, sie versorgten die Wunde, wuschen sie und lagerten sie um, damit sie alles sauber machen konnten. Und dann, schließlich, als alles so präsentabel wie unter den Umständen möglich war, wurde der Parther losgeschickt, um dem Vater Bescheid zu geben.

    Nigrina kam gerade zurück von einem Park – sie wusste selbst nicht so genau, warum sie sich überhaupt dorthin hatte tragen lassen in der Sänfte, unförmig, wie sie nun nach und nach geworden war, aber sie hatte nun mal frische Luft gewollt, und die im Garten hatte nicht gereicht so einfach war das, nur hatte es dann das Problem gegeben, dass ihr die frische Luft plötzlich etwas zu viel wurde, zumal die dämlichen Sklaven einen Park in der Nähe des Tibers gewählt hatten, der selbst im Frühling keine allzu angenehme Brise von sich gab, und der Wind hatte schlecht gestanden, und...


    Nun ja. Nun war sie jedenfalls wieder hier und betrat gerade das Atrium, als sie Avianus erblickte, der durch das Atrium lief wie eine Katze, die durch die Straßen streunte. „Avianus“, grüßte sie ihn, mit einem Lächeln auf den Lippen, und dankte den Göttern, dass sie sich immer, immer, herrichten ließ. Es spielte gar keine Rolle ob sie vorhatte die Sänfte zu verlassen – sie ließ sich herrichten, wenn sie das Zimmer verließ. Gerade in ihrem schwangeren Zustand war das von noch größerer Bedeutung als sonst, dass ihre Erscheinung entsprechend strahlte, wenn schon ihre Figur im Augenblick wenig hermachte. Sie kontrollierte sich zwar streng, aber dass sie zunahm, und dass ihr Bauch immer runder wurde, das... ließ sich leider nicht vermeiden.
    „Wie geht es dir, du... wirkst richtig ausgelassen.“ Nigrina ließ etwas von der Neugier, die sie durchaus empfand, auf ihrem Gesicht aufblitzen, und lächelte ihn ein wenig schelmisch an. „Es trifft sich übrigens gut, dass wir uns über den Weg laufen. Ich hätte eine Angelegenheit mit dir zu besprechen... Hast du einen Augenblick Zeit für mich, oder nehmen dich deine Pflichten gleich wieder in Anspruch?“

    Nigrina verharrte ruhig auf ihrem Platz, leicht zurück gelehnt, ihr Getränk locker in einer Hand, gelegentlich daran nippend, und hörte zu. Sie fand es gar nicht so uninteressant, dem Gespräch der beiden Männer zu lauschen, die Reaktionen zu beobachten. Sextus blieb wie üblich beinahe unlesbar, auch wenn sie meinte, das ein oder andere inzwischen dennoch erkennen zu können. Auch wenn sie ganz sicher keine Ehe führten, in der sie regelrecht aneinander geklebt zu sein schienen, verbrachten sie naturgemäß dennoch regelmäßig Zeit miteinander, und da kam man nicht umhin, sich besser kennen zu lernen. Vorausgesetzt man wollte das auch, und zumindest Nigrina hatte durchaus ein reges Interesse daran, ihren Mann zu kennen – und einschätzen zu können.


    Was sie nach wie vor ein wenig merkwürdig fand, war Scipios lange Abwesenheit von seiner Familie. Bei den Göttern, wenn er Aurelier war, dann hätte er jedes Anrecht darauf gehabt, auch die Vorzüge seiner Familie in Anspruch zu nehmen. Stattdessen hatte er sich vertreiben lassen und einen Weinhandel eröffnet. Nein, das verstand Nigrina ganz und gar nicht, hatte sie doch eine andere Auffassung von Stolz. Und warum genau er nun jetzt wieder kam, erschloss sich ihr auch immer noch nicht so ganz... Aber was seine Identität betraf, fände sie es immer noch köstlich, einfach die Lucretia herzubeordern und sie auf Scipio treffen zu lassen, ohne ihr vorher zu sagen, was sie erwartete. Anhand ihrer Reaktion dürfte sich wohl erkennen lassen, ob der Mann die Wahrheit sprach oder nicht... und Nigrina freute sich schon auf die Schimpftirade, wenn er tatsächlich der war, der er vorgab zu sein.
    „Ich werde Flora auf jeden Fall Bescheid geben, dass du hier warst. Ich kann nichts garantieren, aber möglicherweise würde sie dazu kommen, wenn du mit Avianus sprichst.“

    So so, angesichts der bevorstehenden Feier. Nigrina lehnte sich ein Stückchen zurück und beschloss, ihre Halbschwester ein wenig im Auge zu behalten bei der Verlobungsfeier ihrer angeheirateten Cousine mit dem alten Sack, der der Patron ihres Mannes war. Es ging ja nicht an, dass Domitilla sich einfach irgendwem an den Hals warf. Oder sich verguckte, was in diesem Alter nur zu leicht ging – Nigrina wusste das, allzu lang war das immerhin noch nicht her bei ihr, dass sie so alt gewesen war, und sogar sie hatte das ein oder andere Mal für einen Kerl geschwärmt, wenn auch nicht auf diese lächerliche Art, die manche ihrer Freundinnen an den Tag gelegt hatten und immer noch legten. Da war das Aufwachsen mit Vater und ältester Schwester dann doch zu prägend gewesen, als das Nigrina sich je so sehr für einen Mann begeistert hätte, dass nur noch dieser gezählt hätte. Mit dieser Einstellung also, und mit dem vollen Gewicht ihrer vier, fast fünf Jahren mehr an Lebenserfahrung beschloss Nigrina, Domitilla im Auge zu behalten, um zu verhindern, dass sie sich irgendwie unflavisch verhielt. Und sich zu verlieben und im Zuge dessen der Lächerlichkeit preis zu geben gehörte da eindeutig dazu.
    Die Kleine allerdings lächelte sie nur weiterhin an. „Nun ja, solche Feierlichkeiten bieten sich ja auch an, um sich umzusehen. Es werden sicher einige passable Männer dabei sein.“ Hatte der Tiberier nicht einen Adoptivsohn, der noch unverheiratet war? Wer wusste schon, wie schnell der Alte abkratzte, und dann wäre diese Verbindung wieder hinfällig, womöglich noch bevor Flora ein Kind kriegen konnte. Andererseits: der aurelische Legat war ja mit einer Tiberia verheiratet, und Sextus' war Klient des Tiberiers. Nein, Domitilla war wohl besser aufgehoben bei einem anderen Mann, aus einer anderen Familie.


    Bevor Nigrina allerdings weiter sprechen konnte, hörte sie ein Geräusch, und nur kurze Zeit später betrat ihr Mann das Tablinum. „Sextus.“ Auf ihrem Gesicht breitete sich ein Lächeln aus, das nicht anders als bezaubernd bezeichnet werden konnte. „Oh, hatten wir auch nicht. Unser Gast hier hat spontan beschlossen, mir heute einen Besuch abzustatten. Möchtest du dich zu uns setzen?“ Sie wies auf einen der freien Stühle, und irgendwo aus dem Hintergrund tauchte ein Sklave auf, um dem Aurelier anzubieten, was auch immer er wünschen mochte. Nigrina setzte sich derweil ein wenig bequemer hin, gespannt auf das nun Kommende. Sie wusste, erlebte es sowohl bei anderen hin und wieder als auch selbst, wie charmant Sextus sein konnte, wenn er wollte. Und wenn er wollte, war es sehr schwer, dann nicht schwach zu werden, ihm zu widerstehen – selbst für sie, die ihn auch von einer anderen Seite kannte.
    Sie wusste auch, dass Domitilla, genauer gesagt ihr Verheiratungspotential, auch für seine Pläne nicht ganz unwichtig war, das hieß, so lange Nigrina und er ein Ehepaar blieben, und noch sah nichts danach aus, als würde sich das so bald ändern.
    Und zu guter Letzt: sie war sich sicher, dass er sich noch zu gut daran erinnern konnte, wie sie reagiert hatte, als sie das erste Mal von der Kleinen gehört hatte. „Darf ich vorstellen?“ Sie wandte sich zuerst an ihren Gast, wie es sich gehörte. „Das ist mein Mann, Sextus Lupus. Sextus, das ist Domitilla, meine Halbschwester.“

    Ein Sklave brachte folgende Botschaft vorbei:



    Flavia Nigrina Sp. Iuventio Murco s.d.


    Werter Iuventius,


    ich danke dir für deine Botschaft und freue mich zu lesen, dass mein Sklave Fortschritte in deinem Ludus macht. Gerne kannst du mit ihm verfahren, wie du es für richtig hältst, und einen Kampf für ihn arrangieren, in dem er sich beweisen kann. Sofern er diese Prüfung besteht, wünsche ich eine Zeichnung seiner Arme. Ich bin mir sicher, der Trainingsausfall wird dennoch gering genug sein.


    [Blockierte Grafik: http://img541.imageshack.us/img541/2622/nigrina1.png]

    „Das nennst du fächern? Streng dich gefälligst an!“ fauchte Nigrina den Sklaven an, der mit einem Palmwedel in ihrer Nähe stand und ihr Luft zufächerte. Ihr war heiß. Viel zu heiß. Und der Sklave hatte keine Ahnung davon, wie er wedeln musste, damit der Luftzug sie vernünftig traf, nicht zu wenig, nicht zu viel. Immerhin war es noch nicht Sommer, Nigrina wollte sich gar nicht vorstellen, wie furchtbar eine Schwangerschaft in den letzten Monaten dann sein musste. Zumal das Balg inzwischen auch ziemlich heftig zutreten konnte, und das auch ausgiebig tat, insbesondere gegen ihre Rippen. Und das, darauf schwor Nigrina, MUSSTE es einfach von seinem Vater haben. Was auch immer von ihr in dem Kind steckte, war ganz sicher nicht dafür verantwortlich, dass es sie TRAT.


    Sie wollte den Fächersklaven gerade wieder zurechtweisen, weil er nun etwas zu stark wedelte, als ein anderer den Raum betrat und ihr eine Tafel brachte. Zunächst nur flüchtig, dann jedoch immer aufmerksamer las Nigrina die Botschaft. „Sieh einer an...“ murmelte sie. Taugte der Parther also tatsächlich was im Kampf, wenigstens genug, um endlich zum Tiro gemacht zu werden. Auch wenn sie sich gewünscht hätte, dass das etwas schneller gegangen wäre... aber sie hatte sich erkundigt, und sie wusste mittlerweile, wie penibel die Ludi darauf achteten, wenn sie auswählten, wie sorgfältig sie diejenigen vorbereiteten, die für sie als Gladiatoren antreten sollten... Nun, wie auch immer. Der Parther war nun offenbar so weit. Sie winkte einen dritten Sklaven zu sich. „Schreib“, befahl sie, bevor sie ihm zu diktieren begann – ohne wirklich darauf zu achten, ob er auch schon Schreibutensilien da hatte. Und kaum war sie fertig, schickte sie ihn mit der Botschaft auch schon los.

    Nigrina deutete ein Nicken an. Nein, so gewichtig war Sextus' öffentliche Position nicht – noch nicht, hieß das, jedenfalls wenn es nach ihr ging –, als dass ihre Schwangerschaft, immerhin die erste dieser Ehe, einen großen Unterschied gemacht hätte. Geschweige denn, wann sie es bekannt gaben oder dafür sorgten, dass es bekannt wurde. Und wenn das hier ein Junge wurde, dann kam weiteren Schwangerschaften nicht mehr eine so große Bedeutung zu, nicht, solange er am Leben blieb. Aber das war ohnehin noch Zukunftsmusik. Erst einmal hieß es für sie, diese Schwangerschaft durchzustehen.
    „Werde ich, wenn es so weit ist“, antwortete sie leichthin. Natürlich wollte sie zu gegebener Zeit mehr Öffentlichkeit haben. Nur eben noch nicht jetzt, wo die Gefahr noch so groß war, dass sie das Kind verlor. Und wo ihr noch so schnell übel wurde, was sich hoffentlich bald legen würde. Aber wenn diese Phase erst mal vorbei war... Nun, dann war eine Schwangerschaft schlicht und ergreifend eine zu positive Nachricht, um den Effekt des ersten Bekanntwerdens nicht selbst zu dirigieren, um ihn nutzen zu können.


    Als Sextus dann wieder das Wort griff, schüttelte sie leicht den Kopf. „Nein, von meiner Seite aus gibt es nichts“, antwortete sie. Von ihrer Seite aus hatte es eigentlich von Anfang an nichts gegeben, denn eigentlich hatte sie Sextus ja erst später einweihen wollen. In ein paar Tagen vielleicht. Ein paar Wochen, höchstens. Aber nicht jetzt schon, und vor allem nicht so. Aber nun, daran ließ sich nichts mehr ändern, und der Sklave, der das zu verantworten hatte, bekam seine Strafe. Und dafür, dass sie ihren Mann zwar nicht direkt belogen, aber doch irgendwie an der Nase herumgeführt hatte, war der sehr gelassen geblieben. Nigrina war durchaus klar, dass manch anderer Mann anders reagiert hätte als Sextus in dieser Situation. „Ja...“ Sie lächelte, während sie zugleich innerlich darüber grübelte, ob zum Zeitpunkt der Cena wohl eher der Hunger oder mal wieder die Übelkeit die Zügel in der Hand haben würde. Dennoch verabschiedete sie Sextus aus ihren Gemächern, indem sie seine letzte Frage bejahte. „Wir sehen uns bei der Cena.“