Warum genau er den Befehl über diese Meute erhalten hatte, wusste Sextus nicht. Er hatte einige Vermutungen, die nach Wahrscheinlichkeiten geordnet immer noch einiges an Spekulationsmöglichkeiten offen ließ. (Eine Sache, die Sextus von Grund auf verabscheute. Kalkulationen fußten auf Wissen, nicht auf Vermutungen, die immer einen gewissen Irrtum mit einschlossen. Sextus irrte sich äußerst ungern.) Die Erklärung mit der ihm am wahrscheinlichsten scheinenden Möglichkeit war, dass Annaeus Modestus ihn loswerden wollte – einen gewissen Prozentsatz der Hoffnung auf seine endgültige Absenz in einer der zahlreichen Schluchten der Alpen explizit mit eingeschlossen – und ihn deshalb damit beauftragt hatte, dieser ominösen Zettel-Sache nachzugehen, was das Kommando der Turma und damit eine mehrwöchige Absenz seinerseits mit einschloss.
Überhaupt war Sextus im Zweifel darüber, was er von dieser Vorgehensweise halten sollte. Sein präferierter Plan wäre es gewesen, die offensichtlich schlafenden Wachen den militärischen Kodizes entsprechend zu bestrafen. Spießrutenlaufen wäre eine passende Strafe gewesen, hatten die Männer doch ganz offensichtlich sehr tief schlafen müssen, wenn ihnen Fremde mit BERGEN von Zetteln nicht auffielen, noch, dass diese angenagelt wurden – und das in einem Lager, wo selbst nicht Wachhabende zu Dutzenden wach hätten sein müssen – und dann wieder das Lager verlassen hatten. Es hätten auch Dolche statt Papyri gewesen sein können, und viele Männer wären im Schlaf einfach so abgeschlachtet worden. Sextus zweifelte nicht daran, dass diese Wachen von ihren Kameraden erbarmungslos zu Brei geschlagen worden wären, gab es doch keinen größeren Verrat, als die Vertrauensposition mit der Wache so schmählich zu verraten.
Allerdings nützten all diese Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Überlegungen recht wenig, Sextus war nun hier und trottete dem Bergführer hinterher, sein Pferd am Zügel führend, über einen wahnwitzig schmalen Geröllpfad hinweg im Gänsemarsch. In Cuma hatten die Reiter der Ala ihre letzten Hinweise aufgenommen, die unbequemerweise mitten ins Gebirge geführt hatten. Dies wiederum hatte dazu geführt, dass sie sich Hilfe in der einheimischen Bevölkerung hatten suchen müssen. Die einzige Sache, die Sextus weit mehr hasste als Wahrscheinlichkeiten, war ein Betteln um Hilfe bei Leuten unterhalb seines Standes. Bei jenen oberhalb seines Standes war es eine lästige Notwendigkeit, aber peregrinen Bauern gegenüber ein schier unerträgliches Übel.
Und jetzt stapfte er einem der zwei angeheuerten Übel hinterher, einem alten Hutzelmännchen, der nur mehr 2 Zähne im Mund hatte und einen Bart, in dem Sextus mehrere Wühlmausnester vermutete und einem unaussprechbaren Namen. Wann immer Sextus den Fehler gemacht hatte, den Mann als Gallier zu bezeichnen, hatte der Kerl ihn mit einem Zähnefletschen (oder in seinem Fall Zahnfleischfletschen) berichtigt und etwas wie Celt hervorgespuckt. Als ob es einen Unterschied machte, ein raetischer Barbar oder ein narborensischer zu sein! Das zweite Übel war mit ihm verwandt, jünger und ohne Wühlmausbart, aber deshalb nicht weniger unangenehm. Beide stanken sie nach Ziege, und in Anbetracht der Art, wie die beiden sich hier über Stock und Stein hinfortbewegten, vermutete Sextus auch, dass Ziegen die einzig weiblichen Wesen in dieser Gegend waren und daher jeder der Männer eine zur Mutter hatte. Oder zumindest eine als redselige Geliebte.
Allerdings waren seine Männer auch nicht sehr viel besser, nach Wochen im Gebirge und nur rudimentären Waschmöglichkeiten in kleinen, eiskalten Rinnsalen, die irgendwo aus einem Stein plätscherten, stanken sie alle wie ihre Pferde. Drei der Viecher waren auf dem Weg schon abgestürzt, nur das elende Vieh von Sextus weigerte sich, ihm den gefallen zu tun und so einen schmerzhaften Tod zu finden. Mit zittrigen Beinen stapfte es verdammt langsam seinem Herrn hinterher, glitt nur dann und wann ein wenig auf dem losen Geröll ein wenig aus, fing sich aber immer rechtzeitig. Bisweilen musste Sextus heftig ziehen und schieben, damit der Gaul auch größere Steigungen über kniehohe Felsen bewältigte, die wie von den Göttern hingewürfelt einfach mal im Ziegenpfad lagen, ohne erkennbaren Grund oder Ursprung.
Sextus schwor sich, sollte er wieder nach Rom gelangen, er würde nie wieder dessen Komfort verlassen. Sollte ihm auch der Posten als Legat in Gallien oder Syrien oder sonstwo angeboten werden, er würde ablehnen und in Rom bleiben. In seinem ganzen Leben wollte er keine Schluchten und Wälder, keine Pferde und keine stinkenden Barbaren mehr sehen.
Der Alte vor ihm schimpfte irgendwas, was Sextus nicht verstand. “Was will er?“ fragte Sextus den Kundschafter hinter ihm, der dieses Kauderwelsch einigermaßen beherrschte. Der Mann war selbst Peregrinus, wie so ziemlich alle Reiter, und hatte wohl ähnliche Wurzeln. Nicht, dass die Sextus interessierten.
Es folgte ein kurzer Wortwechsel in unverständlichen Brummlauten, ehe der Mann übersetzte. “Da vorne kommen wir zu einer Brücke über eine Schlucht, aber irgendwas stimmt nicht. Er hört Stimmen.“
Sextus verkniff sich einen Kommentar zu Stimmen, die nur manche Menschen hörten. Das Problem an diesen Bergen war, dass jeder hier Stimmen hörte. Das hatte wohl etwas mit dem Echo und der ganzen verfluchten Viecherwelt hier oben zu tun, so dass Stimmen von Menschen im Tal in die Berge wiedergeworfen wurden. Oder es hier oben auch einfach einige Naturgeister gab, die sich einen Spaß daraus machten, die Menschen zu narren und ihnen Dinge einzuflüstern. Die Faune und Silvani hier im Gebirge waren ein komisches Volk, ebenso wie die Bewohner, die aus alten, knorrigen Wurzeln ihr Ebenbild schnitzten und in ihre Häuser stellten.
“Dann soll er vorgehen und nachsehen, was los ist, dafür zahlen wir ihn schließlich“, bellte Sextus seinen Befehl. Er hasste das Gebirge. Wirklich. Zweizahn grinste ihn nur an und verschwand mit seinen Ziegenbeinen hinter der nächsten Biegung. Sextus war nur froh, dass der zweite Führer irgendwo in der Mitte ihrer Truppe ging, was die Flucht des Hutzelmännchens unwahrscheinlicher machte – außer Gallier gaben nicht so viel auf Verwandtschaft.
Die Sonne tauchte die Bergspitzen schon in glühendes Rot. Aus der Ferne hatte dieses blutige Leuchten durchaus interessant angemutet, und Sextus konnte zwar nicht verstehen, aber zumindest nachvollziehen, warum einige Dichter dieses Glühen als poetischen Aufhänger betrachteten. Aber hier und jetzt auf diesem Pfad hieß das nichts weiter, als dass es bald stockduster sein würde und sie schleunigst einen geeigneten Lagerplatz brauchen würden. Wobei das Vorhandensein einer Brücke auf das Vorhandensein einer breiteren Straße schließen ließ, die eine Übernachtung zulassen würde. Nur Idioten bewegten sich nachts im Gebirge.
Nach einigen Momenten tauchte der Bergführer wieder auf und winkte sie zu sich, redete unaufhaltsam immer weiter. Sextus verstand von dem Mischmasch nur ein paar Fetzen. Irgendwas über Truppen und die Brücke. Auch wenn Sextus die Schweinehunde endlich gern erwischen würde, würde er ein Aufgreifen mittags mit einigen Stunden Licht einem solchen in der Dämmerung vorziehen.
Erst, als er weit genug vorangegangen war, um einen Blick um die Biegung zu werfen und den Pfad, der sich serpentinenartig zu einer etwas breiteren Straße hinabschlängelte, sah er auch, was der Mann meinte. Hinter ihm hörte er ein schockiertes “Verfluchte Scheiße“. Eine Brücke gab es hier nicht mehr. Aber auf der anderen Seite der Schlucht, in Rufweite, machte er einige ihm bekannte Standarten aus.
Die Prätorianer hatten die Brücke abgerissen, und die Truppen ihrer Legion so vom kürzesten Weg abgeschnitten. Das würde sie lange Zeit zurückwerfen. “Gibt es einen anderen Weg über die Schlucht?“ fragte Sextus ihren Führer. Der Mann hinter ihm übersetzte. Auf Schleichpfaden kam man in zwei Tagen herüber. Aber nur zu Fuß, geübte Männer. Kein Gepäck, keine Pferde, keine trotteligen Legionäre. “Inakzeptabel“, befand Sextus. “Du, du und du. Sobald wir an der Straße unten angekommen sind, geht ihr mit unserem Führer auf die andere Seite, erstattet Bericht und erklärt gegebenenfalls, wie man hier herüber kommt. Der Rest bleibt hier bei mir“, befahl Sextus und machte sich an den Abstieg. Sein Pferd schnaubte panisch und schlich hinter ihm her den Kiesweg hinunter. Jetzt war abzuklären, wie ihre Ressourcen besser eingesetzt waren: Diesseits der Schlucht beim Aufbau einer Überquerungsmöglichkeit zu helfen, oder die Prätorianer weiter zu verfolgen und ihnen endgültig den Gar aus zu machen.