Zur vierten Stunde des Tages war auf Roms Straßen schon viel los. Auch hier in der Nähe des Tibers am Forum Boarium herrschte reger Betrieb, selbst – oder vielleicht auch vor allem – vor dem Tempel des Merkur. Immerhin war er auch Gott der Händler und der Diebe, und beides fand sich hier auf dem Platz und auf den weiterführenden Straßen sicherlich zuhauf.
Sextus hatte bereits am frühen Morgen mit dem Aedituus des Tempels gesprochen und war jetzt einige Stunden später mit passenden Opfergaben bewaffnet bereit, den Gott um einen persönlichen Gefallen zu bitten. An einem der Becken wusch sich der Aurelier noch einmal die Hände, ehe er gefolgt von einigen Opferdienern den eigentlichen Tempel betrat. Im Gegensatz zur strahlenden Helligkeit draußen war es hier vor dem Kultbild des Gottes fast schon dunkel zu nennen, obwohl er zu den lichten Göttern gehörte. Doch das störte Sextus eher weniger, hatte Turms, das etruskische Pendant, doch trotz der vielen Gemeinsamkeiten auch deutlich dunklere Züge, die die Leute bei Merkur gern vergaßen. Denn er war nicht nur der jugendliche Gott der Reisenden und Händler, der findige Dieb und listenreiche Erfinder. Er war auch derjenige, der als einziger zwischen der Welt der Götter, der Menschen und der Toten nach Belieben hin und herreisen konnte, und den Verstorbenen den richtigen Weg ins Jenseits zeigte. In einer Gesellschaft, die sich weit mehr mit dem Tod als dem Leben beschäftigte und der Nachwelt gar prächtige Nekropolen hinterließ, hatte dieser Aspekt bei den Etruskern ein deutlich höheres Gewicht.
Allerdings wollte Sextus den Gott gar nicht um Weggeleit für einen Verstorbenen bitten. Überhaupt hatte seine Bitte nur indirekt etwas mit dem Tod zu tun, und schon gar nicht von einem Menschen, für den Sextus Beistand erbitten würde. Was mit dem Vescularier geschehen mochte, nachdem ihre Verschwörung Früchte getragen hatte, war ihm relativ egal, solange der Mann tot wäre und tot bliebe.
Nein, Sextus wollte etwas zeitlich deutlich näherliegendes erbitten und hoffte auf das Wohlwollen des Gottes. Das Kultbild zeigte ihn jung und stark, und Sextus ließ seinen Blick einen Moment auf der Statue ruhen, ehe er begann.
“Turms, großer Gott der Wohlstands und des Handels, Lenker des Zufalls. Trivius, Dreiwegsgott, höre mich an.“
Um die Pforte zwischen dieser und der Götterwelt zu öffnen, nahm Sextus etwas mitgebrachten Weihrauch von einer Schale und warf ihn auf das neben dem foculus stehende Kohlebecken. Es knisterte kurz, ehe es schön zu qualmen anfing und den Raum mit süßlichem Duft einhüllte, der die Sinne hob. “Ich bringe dir Weihrauch aus Syria, edel und wohlriechend. Nimm ihn als Geschenk für dich, und nur für dich.“
Ein weiterer Griff auf eine andere von einem Opferhelfer gehaltene Platte, und Sextus hatte einen kleinen Lederbeutel in der Hand. Das Gewicht täuschte über den eigentlichen Inhalt hinweg. Sextus drehte den Beutel so, dass hell klimpernde Bronzemünzen, allesamt versehen mit Bildnissen des Gottes, sich über den Foculus verteilten und dabei helle Geräusche von sich gaben. Man sagte sich, dass der Gott den Klang von klimpernden Münzen mochte, und so hatte Sextus jede Menge Bronzemünzen aufgetrieben, die insgesamt zwar keine drei Aurei an Wert hatten, dafür aber so reichlich waren, dass sie teilweise von dem kleinen Opferalter herunterkullerten und auf dem Boden landeten.
“Ich bringe dir Münzen, oh Herr des Handels, der du den Reichtum mehrst. Sie sollen ein Geschenk für dich sein und nur für dich!“
Auf das Verstreuen von Blumen und ähnlichem verzichtete Sextus. Geldopfer waren bei Merkur durchaus üblich, und es sollte ja noch weiteres folgen.
“Großer Turms, der du alle Wege kennst. Ich will dich um etwas bitten.“ Seine Stimme wurde leiser, damit nicht unbedarfte Ohren mithören konnten, was er hier sprach. Es war eine Sache zwischen ihm und Merkur, ein Versuch, der erfolgreich sein konnte oder auch nicht. Aber Sextus wollte es zumindest versucht haben.
“Ich bitte dich um deine Hilfe bei einem bevorstehenden Geschäft. Mach Potitus Vescularius Salinator dem Geschäft gewogen, lass meine Bemühungen Früchte tragen. Gib mir die richtigen Argumente, die passende Summe zu finden, um das zu erreichen, was ich möchte, gib ihm den Sinn für das richtige Maß, ohne Gier. Hilf mir bei meinem Vorhaben, und ich will dir an der Kreuzung vor meinem Haus eine Herme aufstellen, auf dass ganz Rom lesen kann, wie groß du bist, Bote der Götter, Hüter der Pfade, Herr all jener, die mit Witz und Verstand vorgehen.“
Damit war das Voropfer mit einer Drehung nach rechts auch schon beendet.
Sextus schritt nach draußen, wo ein Helfer auch schon mit einem weißen Widder wartete. Hufe des Tieres waren vergoldet worden, auch wenn das Tier deshalb erheblich teurer im Preis war. Aber Sextus wollte gute Omen.
Der Aedituus besprengte ihn mit Wasser, um ihn nochmalig zu reinigen, ehe Sextus die Menge auf dem Platz mit einem lauten “FAVETE LINGUIS!“ zum Schweigen aufforderte.
“Mercurius, ich bringe dir diesen weißen Widder als Geschenk! Ich bitte dich, mir zu gewähren, worum ich dich gebeten habe. Do, ut des!“
Ihm wurde eine Schüssel gereicht, um sich die Hände zu waschen, und anschließend das mallium latum . Während er sich abtrocknete, wurde der Widder mit mola salsa eingestrichen. Der Cultarius stand auch schon bereit und blickte auf das Tier, das sehr ruhig seinem Schicksal harrte. Der Verkäufer hatte nicht übertrieben bei der Wirkung der Kräuter, die man dem Tier zu fressen gegeben hatte. Es stand ohne Klage, senkte sogar einmal leicht nickend den Kopf, als wäre es einverstanden mit seiner Opferung. Ein besseres Tier konnte er sich kaum wünschen.
Schließlich bekam Sextus das Messer gereicht, mit dem er vom Kopf bis zum Schwanz des Tieres knapp über dem Fell einmal entlangstrich, um es endgültig als Opfertier zu weihen, ehe er sich wieder dem Tempel des Gottes zuwandte. Der Cultarius wartete noch einen spannungsgeladenen Moment, ehe er die eine Frage stellte: “Agone?“
“Age!“ antwortete Sextus laut, deutlich und ohne Zögern in der Stimme. Und kurz darauf hörte er auch schon das Zusammenbrechen des Widders neben sich, als dieser in die Kehle gestochen und stark blutend zusammensackte.
Heute hatte er den vorteil, nicht als Haruspex gerufen zu sein, und so die lästige Arbeit des Ausnehmens dem Cultarius überlassen zu können. Lediglich die Leber ließ er sich persönlich auf der patera anreichen, um das Organ zu untersuchen, ob der Gott das Opfer angenommen hatte oder nicht. Oder ob er ihm noch weitere Dinge mitteilen wollte. Eine Schafsleber bot schließlich für einen Haruspex vielfältige Interpretationsmöglichkeiten, abseits von „ja“ und „nein“