Das zählte wohl als „ja“ in Bezug auf seine erste Frage. Sicher, es war wohl unbestreitbar, dass – sofern es Prodigien denn überhaupt gab – dieses Vorkommnis eines war. Allerdings hieß das nicht, dass der Staat es auch zu einem solchen erklären musste. Es konnte ja durchaus sein, dass die Herren Senatoren beschlossen hatten, lieber nicht mehr Öl ins Feuer des bürgerlichen Unmuts zu kippen und statt dessen mit einer weitaus weltlicheren Erklärung aufzuwarten. Sextus war nicht einmal annähernd gläubig genug, um das ganze anders als ein Instrument der politischen Meinungsbildung und der Staatsräson zu sehen.
Und die zweite Antwort war wohl als weitläufiges „nein“ zu interpretieren. Was nicht unbedingt das war, was Sextus zu hören wünschte, aber das machte nichts. Er resümierte also über die Informationen, die er hatte, und was sich daraus für ihn ergab. Er ließ sich sogar nach Außen hin einen Moment Zeit damit, indem er ruhig und mit leicht grüblerischem Blick erst einmal schwieg.
Die Sache sah für ihn folgendermaßen aus:
Celerina hatte im Hain Sex, ob nun freiwillig oder unfreiwillig. Kurz darauf trampelte eine Rinderherde die Hälfte aller Leute dort tot und der Rex Nemorensis hatte nichts besseres zu tun, als sie just in diesem Moment zu erwischen und zu Tiberius Durus zu schleifen. Wo sie dann wenigstens den Anstand besessen hatte, sich umzubringen, was aber gleichzeitig auch erschwerte, eine glaubwürdige Geschichte aus der Sache zu stricken. Nun erwartete das Volk Roms, dass man ihm einen Sündenbock präsentierte, der für die vielen Toten und das augenscheinliche Prodigium öffentlich geschlachtet wurde (oder etwas vergleichbares, Hauptsache schön blutig), die Pontifices erwarteten Lösungsvorschläge, welche Götter man alles besänftigen sollte, und er stand nun hier und sollte wohl möglichst viele dieser Probleme auf einmal abdecken mit seinen Antworten.
Eigentlich eine perfekte Ausgangsposition. Er konnte sowohl seinen Patron als auch die Familie seiner Frau, vertreten durch Pontifex Flavius Gracchus, als auch seine eigene Familie mit ein paar kleinen Worten wunderbar besänftigen und sich gewogen machen. Natürlich war ihm ebenfalls daran gelegen, Flavia Celerina aus der öffentlichen Meinungsfindung herauszuhalten. Vielleicht sollte man auch den Rex Nemorensis ein für alle Mal zum Schweigen bringen, um sicherzugehen, dass nichts nach außen sickerte. Im Moment waren die Flavier als Verbündete zu wertvoll, um sie so bloßzustellen. Wäre die politische Lage eine andere und könnte er bei einer anderen Partei dadurch Punkte gutmachen, indem er die Flavier diesbezüglich hinterging, wäre es eine andere Sache. Aber er hatte keine andere starke Verbindung, die ihm ähnlich viele Vorteile verschaffen konnte – letztendlich ein Grund, eine Flavia zu heiraten – folglich musste er schon aus Eigennutz die Flavier schützen. Und hatte als kleinen Bonus vielleicht einen Gefallen bei eben jenen gut, wie auch bei seinem Patron, der ihn wohl nicht grundlos hierher zitiert und in eben jene Lage gebracht hatte.
Nun aber kam die Crux an der Sache: Eigentlich sollte diese Aufgabe das gesamte Collegium übernehmen, oder aber zumindest der Haruspex Primus. Wenn er hier eigenwillig Entscheidungen traf, könnte dies dort für Unmut sorgen. Sextus glaubte nicht, dass irgendwer eine seiner Entscheidungen in frage stellen würde, immerhin würde das die Fehlbarkeit einer Entscheidung durch einen Haruspex aufzeigen und damit Zweifel Tür und Tor öffnen. Zweifel war etwas, dass gegen das Collegium in der Bevölkerung nicht aufkommen durfte, schon gar nicht bei so einer gewichtigen Sache. Aber in Zukunft konnte ihm diese Sache dort das Leben schwer machen. Sehr schwer. Vielleicht schwer genug, um auf die Gefallen, die er sich heute hier erarbeitete, noch zurückgreifen zu müssen. Aber seine Ziele waren ohnehin höher gesteckt, als auf ewig nur Mitglied im Collegium zu bleiben. Warum folgen, wenn man auch führen konnte? Er war schließlich kein Schaf.
“Ich denke, die Angelegenheit ist von solcher Tragweite, dass keine voreiligen Schlüsse gezogen werden sollten.
Ich schlage also folgendes vor. Angesichts dessen, dass dies alles im Hain der Diana Trivia geschehen ist, aus den Lebern von drei Schafen Haruspizien zu lesen, um zu sehen, welche Götter erzürnt sein mögen.“ Er musste noch überlegen, ob er den Haruspex Primus bei diesem Opfer dabeihaben wollte, oder ob er eher manipulierbarere Mitbrüder dafür akquirierte. Die Risiko-Nutzen-Rechnung musste genauer kalkuliert werden. Sextus war kein Spieler.
Dass der Termin für die lustratio gesondert ermittelt werden sollte, betonte er nun nicht noch explizit. Das verstand sich von selbst, dass hierfür nur ein Tag mit sehr guten Vorzeichen in Betracht kam, um das Gelände neu zu weihen. Kurz überlegte Sextus, ob er jetzt schon eine seiner eben getätigten Überlegungen verbalisieren sollte, entschied sich dann aber dagegen. Das tat er lieber im Zuge der Haruspizien, vor möglichst gebanntem Publikum.
“Dies sollte möglichst rasch geschehen, im Zuge eines großen öffentlichen Opfers.“ Das Opfer sollte schon allein deshalb öffentlich sein, um den Mitbürgern zu zeigen, dass sich etwas tat und man nicht die Hände in den Schoß legte. Dass seine Worte dadurch sakrosankt würden, war ein netter kleiner Nebeneffekt.