Wie er gekommen war, so wollte er auch sofort wieder gehen. Er war empört darüber, dass sich eine Frau anmaßte, vor ehrenwerten Römern zu sprechen, noch dazu in einer fremden Casa, deren Gastgebern es eigentlich zugestanden wäre, einige Worte an ihre Besucher zu richten. Auch gereichte es ihm zu einem Empfinden höchsten Missfallens, dass dem Pater Gentis der Octavier keine Gelegenheit eingeräumt wurde, vielleicht etwas verspätet zu der Versammlung zu stoßen. Für einen Menschen von guter Erziehung war ein solches unannehmbares Verhalten Anlass zur Scham und Grund zu einer folgenden Entschuldigung, doch als sein Name fiel, konnte Sophus leidlich zurück nach Hause gehen. Oratio? Wieder legte er skeptisch die Stirn in Falten, hatte er doch lediglich eine kurze Ansprache vorbereitet. Letztlich machte er gute Miene zum bösen Spiel und nahm die Rednerposition ein.
Rhetorisches Improvisationstalent war nunmehr gefragt und so nutzte er die Zeit, welche ohnehin dazu bestimmt war, Ruhe unter der Zuhörerschaft aufkommen zu lassen, zu einer geistigen Gliederung seiner Ansprache, deren Formulierung in dieser kurzen Zeit freilich ungeschickt und mangelhaft ausfallen musste. Einen Moment lang schweifte sein Blick über die Gästeansammlung, ruhig atmete tief ein und aus, begann schließlich unvermittelt in etwa dieser Weise zu sprechen:
"Berühmter Männer Taten und Wesensart der Nachwelt im Gedächtnis zu halten, ist ein durchaus natürlicher Vorgang, der sich in ältesten wie in jüngsten Zeiten bewährt und erhalten hat.
Es fließen nunmehr die Jahre dahin, in denen keiner der vielen von sich behaupten könnte, noch wahrhaft und mit regem Geiste die uns schriftlich überlieferten Ereignisse von Actium erlebt zu haben und es darf getrost als tückische, ja befremdliche Prägung unserer Zeit erscheinen, dass selbst vereinzelte Bürger, denen von Geburt an die Offenheit des Geistes einer freien Sache mangelte, allen Widrigkeiten zum Trotze einem Gemeinwesen ins Gewissen reden, welches kein Gewissen hat.
Es vermag einem pflichtbewussten und aufrechten Redner in dieser Sache nicht verwehrt sein, an jene Gründe des verlorenen Geistes gemeinschaftlicher Staatsordnung zu erinnern – ohne Zorn und Parteiergreifung, mit jenem Blick, welcher aus der zweiten Erfahrung heraus geboren wird, sprechend, was ihm in die Backe kommt:
Dem einen Mann im Staat folgte Tiberius, an Wesen und Charakter anfangs gütig, mit zunehmendem Alter nichts als ein Scharlatan, später Claudius, ein herrischer und rachsüchtiger Mann, an großen Worten reich, an Bildung arm, tosend im Abgang – auf den Tyrannen folgte ein Tyrann und noch garstigerer Zögling dieser so genannten Ordnung. So ging es in einem fort und dem Menschen wurden mit fremder Hand die Feder geführt, die Lippen bewegt.
Mögt ihr euch entsinnen an jene Tage, dann erkennt ihr darin die Wurzeln der heutigen Nichtswürdigkeit Roms, dessen Glanz verbraucht, dessen Ruhm Einbildung, dessen Stolz Unkenntnis, dessen leeres Streben Neid ist. Offen anzuklagen um den Gewinn eines reinen Gewissens – dies ist mir aus Anlass und Sinn des heutigen Zusammentreffens nicht vergönnt und so werde ich kurz das Leben eines Verstorbenen beschreiben, dessen Charakterzüge und Eigenheiten selbst in oberflächlichster und nachlässigster Schilderung jene Kreaturen, die sich Römer schimpfen, so sie denn noch einen Funken der alten Tugenden erretten und bewahren konnten, zur Erblassung und Erkenntnis treiben mögen.
Es streben hochmütige Emporkömmlinge nach Konsulaten und Priesterämtern wie nach Beute, hier stiftet ein Träger des Ehrenamts Verwirrung, dort wütet ein frecher Prokurator und was nicht durch äußere Gefahr bedroht ist, durch ein töricht verursachtes Auflehnen der Bundesgenossen, treibt die innere Bedrohung zur schädlichen Vollendung.
Wie erquickend, belebend, besänftigend hier die Erinnerung an einen Mann der Tugend wirken kann!
Der Rückblick auf einen wahrhaft großen Staatsmann, dem stets die rechte Feuerluft an Sitte und Mäßigung zum Auftrieb genügte und nicht Bestechungssummen vermeintlicher Günstlinge.
Niemals voreingenommen oder übereilt entscheidend wirkte jener hervorragende Mann als Richter des Wahren und Gerechten, des Ehrenhaften und Aufrichtigen, niemals ein Ohr schenkend den heimtückischen Irrspielen tosender Narren.
Was die ewige Stadt der Vorväter an Schändlichkeit durchzieht, dringt bis hinab zu Haltung und Gesinnung der Bürgerschaft: Wie eine Seuche breitet sich von Iudäa her kommend ein widerlicher Spiegel von bitterer Galle über unser Meer aus, ballt sich zu einem verzehrenden Sturm, der nicht eher ruhen wird, bis Roma erneut in Asche liegt.
Wie erbauend, erhebend, versichernd hier die Kenntnis eines Mannes des Glaubens wirken kann!
Die alten Tempelanlagen Romas geschändet, ihre Mauern niedergerissen vom giftigen Pöbel, ihre Säulen gestürzt von der Menge Wut, vermochte es jene entfesselte Sturmgewalt nicht, des aufrechten Mannes Herz niederzuschmettern, welches sich in Demut und Ergebenheit dem Willen der unsterblichen Götter verschrieben hatte.
Wie es einem geschwächten Menschen nach langer Krankheit ergeht, der nach vielen Monaten der Bettruhe an goldenes Sonnenlicht geführt wird, so ergeht es uns, die wir im strahlenden, glänzenden Angesicht eines Crassus auf den rechten Pfad der Tugend und des Glaubens zurückgeführt werden.
Auf welche Art und Weise, so möchte vielleicht mancher anmerken, aber hat es jener vermocht, die giftige Schlange der raschen Versuchung mit dem Mute eines Löwen zu besiegen? Weshalb konnte sie ihr Gift nicht verabreichen, wo sie es doch bereits versammelten Vätern, Priestern, hohen Beamten und Kaisern eingeimpft hatte?
Es ist jener Kenntnis vom rechten und angebrachten Maß an Verhalten und Sitte zuzuschreiben, welche im Hause seiner Väter und Vorväter genauer, sorgfältiger, beschützender als jedes Familienvermögen weitergegeben wurde.
Was die Mutter, ein ausgezeichnetes und hingebungsvolles Exemplum römischer Treue, Zurückhaltung, sowie Tüchtigkeit an Strenge und Disziplinierung des jungen Geistes vermissen ließ, glich der Vater, ein harter und gerechter Mann von militärischer Haltung aus und führte das Bild eines Römers zur Vollendung,
So darf es nicht verwundern, dass er als junger und alter Mann wie einst der Hügel des Kapitols im Plündersturm der Kelten den verderbenden Zeiten trotzte mit einer Seelenruhe, welche nur den größten Männern der Stoa vergönnt war. Nicht der Legatsposten im wilden Germanien, nicht jener im bedrohten Syrien, ja nicht einmal jener im italischen Pfuhl selbstgefälliger Verderbtheit brach ihm das Rückgrat der Tugend.
Ohne jede Eitelkeit, wohl aber mit dem gebotenen Ernst strenger Würde, welche dem überaus seltenen und im Silberschein erwachender Hoffnung sprudelnden Quellbrunn einer glänzenden wie gnädig bedankten schöpferisch-erziehenden Bildung auswächst, wirkte er Taten des Glaubens, vollbrachte er tüchtige Werke, mächtigen Wurzeln gesunder Tugend entsprungen. Denn dieses muss klar sein: Wo es dem Menschen an den inneren Gütern ermangelt, kann er in leiblich-tätiger Hinsicht nicht fruchtbar wirken. Nicht etwa ins Gegenteil verkehrt sind jene Ursächlichkeiten, wie uns natürliche Exempla lehren: Ein gutes oder schlechtes Haus macht keinen guten oder schlechten Zimmermann, sondern ein guter oder schlechter Zimmermann macht ein gutes oder schlechtes Haus. Kein Werk macht einen Meister so, wie das Werk ist, sondern wie der Meister ist, danach ist auch sein Werk. Glaube und Tugend aber machen, ebenso wie sie fromm und redlich machen, so auch gute Werke. Nach dem Baum der Erziehung kommt die Frucht des Menschensohns und wenn der Baum am Bächlein steht, auf guter Erde und in gesunder Luft, dann wird auch die Frucht gesund und zum Nutzen des Erdkreises.
An Verdiensten und Ehrentafeln reich, entwirkte sich später ein freier Geist jener Frucht, welcher bald die ehrwürdigen Hallen und Tempel der Senatsstätten in heiligem Weben durchzog, dessen Kraft erst in der Geringschätzung versuchender Schenkungen entfaltet und für den allmählich verstehenden Betrachter in höchstem Staunen erkennbar wird: Wie frei ein Mann freien Geistes doch reden kann! Wie ungezwungen der schwungvolle Zug seiner Gesten! Wie sanftmütig verzeihend das wissende Lächeln auf den Lippen! Wie erbärmlich dagegen das Ausspucken verkrüppelter Gestalten! Wie niederträchtig und bemitleidenswert zugleich dagegen die plumpen, jeden Mangel an Bildung offenbarenden Zänkereien unterwürfiger Drückeberger, deren Reden platter sind als das platteste Land! Oh, Senat, strahlendes Antlitz und Trauerbild zugleich, hier offenbarst du deines Volkes Zwiespalt!
Es erfreut mein Herz, wenn ich als Redner in viel zu knapper Ausarbeitung die inwendigsten Züge eines aufrechten Menschen vor einer Menge an Bürgern vorlegen durfte, unter den Blicken fürsorglicher Gastgeber, deren Casa uns am heutigen Tage großzügige Unterkunft bietet. Mit wachsender Hoffnung erfüllt sich eines Römers jauchzender Geist, welchem die Begierde so vieler Menschen nach einem Rückblick in bessere, freiere Tage begegnet. Vielleicht, die unsterblichen Götter mögen es vergönnen, können einmal jene mit ähnlicher Seelenruhe zu den Ahnen gehen wie einst Claudius Aurelius Crassus, mein Vater, der in solcher Weise zu sprechen pflegte: ‚Es ist nicht nötig, dass ich lebe. Wohl aber, dass ich meine Pflicht tue.’
Lasst uns einem solchen Vorbilde lechzend nacheifern wie sonst nur ein habgieriger Landpfleger Bestechungssummen, lasst uns im Geiste der beinahe verlorenen Freiheit die Tugend ergreifen und festhalten! Dabei, meine Freunde, werde ich euch nahe sein und für kommende Tage jeden erdenklichen Segen wünschen."