Jeden Tag dasselbe. Jeden Tag, den er hier im Ludus verbrachte, hieß das. Und das immerhin war ein Vorteil seines Gladiatorendaseins – es war zuverlässig. Berechenbar.
Ganz anders als seine Herrin, deren Launen an manchen Tagen keine Grenzen zu kennen schien. Es gab Tage, an denen er völlig in Ruhe gelassen wurde, an denen er einfach nur der Arbeit nachging, die ihm aufgetragen wurde. Aber diese Tage waren eher selten. In aller Regel wollte die Flavia ihn um sich haben. Nun, das konnte er sogar verstehen, denn dass sie vorhatte ihn als ihren Leibwächter einzusetzen, das wusste er inzwischen – und dafür setzte man nicht einfach irgendjemanden ein, den man überhaupt nicht kannte und von dem man nicht wusste, ob man ihm vertrauen konnte. Er hätte es jedenfalls nicht getan, und sie schien ebenso zu denken. Zumindest vermutete Shayan das. Vielleicht hatte sie auch andere Beweggründe, vielleicht dachte sie auch gar nicht darüber nach, das konnte auch sein.
In jedem Fall wollte sie ihn häufig in ihrer Nähe haben, und ständig in der Nähe der Flavia zu sein, war keineswegs einfach. Die die in der Nähe waren, waren es, die die Launen abbekamen, die plötzlichen und teils schwer erfüllbaren Wünsche, und auch die Wutausbrüche, wenn etwas nicht so lief wie sie wollte.
Im Ludus war das anders. Hier wusste er stets, was ihn erwartete. Es gab keinen Augenblick, an dem nicht simples Zähne zusammenbeißen und durchhalten angesagt war, es gab keinen Moment, in dem er darüber nachdenken müsste, ob er etwas sagen sollte, konnte, durfte. Was nicht hieß, dass er sich immer daran hielt.
Oder dass es einfach war.
Denn das war es ganz und gar nicht. Shayan tat sich schwer damit, sich an die Abläufe im Ludus zu gewöhnen, wenn auch aus anderen Gründen wie die meisten Neulinge hier. Das Training war hart, aber damit hatte er kein Problem. Er übte verbissen, ignorierte die Schmerzen, die gerade in den ersten Tagen unglaublich schienen, und stellte mit einer gewissen Zufriedenheit fest, dass es nach und nach leichter wurde. Er wurde besser. Natürlich war zu merken, dass er tageweise im Ludus fehlte, aber das konnte er größtenteils durch zwei Dinge wieder wettmachen – zum einen dadurch, dass er nicht als völliger Anfänger gekommen war, und zum anderen dadurch, dass er auch in der Villa Aurelia trainierte, wann immer er die Zeit dazu fand.
Womit er hingegen ein Problem hatte, war das Verhalten, das gefordert war. Nie etwas sagen, auch dann nicht, wenn man etwas für falsch hielt.
Es war nicht bei der einen Strafe geblieben für ihn, die er sich gleich am ersten Tag eingehandelt hatte. Shayan tat sich schwer damit, zu schweigen, wenn etwas gegen sein Ehrgefühl verstieß, oder seine Auffassung von Gerechtigkeit. Weshalb er allerdings hin und wieder ungehorsam war, interessierte die Ausbilder, gelinde gesagt, einen Dreck. Und auch der Umgang mit den anderen Gladiatoren, die schon länger hier waren, war nicht einfach. Von den üblichenn Dingen, mit denen sie die Neulinge zu ärgern oder zu verschrecken versuchten, ließ Shayan sich nicht wirklich provozieren. Aber nachdem einmal klar geworden war, wodurch er sich provozieren ließ, war es für die Gladiatoren ein leichtes, auch ihn dran zu kriegen. Es gab Dinge, bei denen konnte er – vermutlich noch – nicht einfach tatenlos zusehen. Und jedes Mal zog es Konsequenzen nach sich, ob er nun einfach nur niedergebrüllt wurde oder sich die ein oder andere Strafmaßnahme einhandelte.
Abgesehen davon jedoch, dass diese kleinen und größeren Bestrafungen bei ihm aus anderen Gründen erfolgten als bei den meisten anderen, war das nichts Besonderes. Es gehörte zum Training dazu wie so vieles andere. Shayan akzeptierte es schlicht, es blieb auch kaum etwas anderes übrig. Das Training absolvierte er mit zunehmendem Elan und Können. Die Schindereien ignorierte er so gut als möglich. Die Strafen, wenn er sich welche einhandelte, ertrug er ohne Klagen – in dieser Hinsicht war er nach wie vor Soldat genug, steckte das alte Training ihm genug in den Knochen, dass er es einfach über sich ergehen ließ. Er wurde höchstens noch schweigsamer und zurückgezogener als ohnehin schon, verlor kaum ein Wort – was aber eher von Vorteil war, galt für ihn doch immer noch das Sprechverbot, ebenso wie für die anderen Neuen. Nur innerlich begann er zu hadern. Mit sich und seinem Schicksal, vor allem aber mit seinem Gott. Sein Glaube war und blieb unerschütterlich – aber gerade deshalb begann er sich mehr und mehr zu fragen, warum es gerade ihn getroffen hatte. Was er sich hatte zuschulden kommen ließen, im Krieg oder davor, um ein Leben wie dieses verdient zu haben, was es gewesen war, für das er nun derart Buße leisten musste. Oder war es nur eine Probe, auf die er gestellt wurde? Er wusste es nicht, und das Vertrauen, das sein Glaube ihm sonst gab, das Vertrauen darin, dass es richtig war, auch wenn er den Sinn nicht erkennen konnte, wollte sich diesmal nicht so einfach einstellen.
Und dann kam dieser Tag. Dieser Tag, an dem sie das erste Mal – nun, für die Neuen und damit auch ihn das erste Mal, jedenfalls – das Sterben zu üben hatten. Es war nichts, was unbekannt war, was geheim gehalten worden war. Insofern überraschte es keinen der Neulinge wirklich. Dennoch, davon zu hören und es zu sehen, waren zwei verschiedene Dinge. Und selbst in dieser Lage zu sein, war noch einmal etwas völlig anderes. Stumm, regungslos, mit einem Gesichtsausdruck, der nicht zu deuten war, sah Shayan sich das Schauspiel an, das vor seinen Augen stattfand. Erst einer der Neuen, ausgerechnet derjenige, der einer der Schwächsten schien, einer der am wenigsten Tauglichen. Dann einer der Gladiatoren. Und dessen Verhalten hätte keinen größeren Kontrast zu seinem Vorgänger bieten können. Kein Mucks war zu sehen, kein Laut war zu hören. Shayans Blick wanderte kurz zu dem Griechen, und seine Augen wurden einen Moment dunkler, als so etwas wie Mitgefühl in ihm aufstieg. Dass die doctores sich ihn als ersten ausgesucht hatten, war wohl Absicht gewesen. Einen größeren Effekt hätten sie nicht erreichen können mit der Darstellung des Juden, wenn sie nicht zuvor den Schwächsten malträtiert hätten.
Kaum war der Gladiator verschwunden, ging es weiter. Einer nach dem anderen kamen die Neuen an die Reihe, mussten sich niederknien, bekamen das Schwert ans Schlüsselbein gelegt, spürten wie es weggezogen wurde, hörten wie es niedersauste. Keiner brachte es auf Anhieb fertig, nicht weg zu zucken, geschweige denn erstarrt zu bleiben wie eine Statue. Auch beim zweiten oder dritten Anlauf hatten viele keinen größeren Erfolg, auch wenn einige dann doch nicht mehr ganz so weit zuckten. Und hin und wieder bekam einer das heiße Eisen zu spüren, wenn sich so gar keine Besserung einstellen wollte.
Die Ausbilder übten mit einem Mann, bis sie genug zu haben schienen, bevor der nächste gerufen wurde, und die ganze Zeit hatten die anderen zuzusehen. Und irgendwann war auch die Reihe an Shayan. Seine Kiefermuskeln spannten sich an, als er nach vorne trat und er dieselbe Position einnahm wie die anderen vor ihm. Er war... nicht aufgeregt. Nicht nervös. Er war bis aufs Äußerste angespannt, wie die Sehne seines Bogens, wenn er ihn für einen Kampf vorbereitet hatte.
Er hatte keine Angst vor dem Tod. Soldaten wurde für gewöhnlich die Angst vor dem Tod recht effektiv ausgetrieben, und spätestens wenn sie sich im Krieg Auge in Auge mit ihm sahen, geschah etwas recht Endgültiges. Wenn man dem Tod auf so vielfältige und brutale Weise begegnete, wie das im Krieg der Fall war, dann zerbrach man entweder daran – oder der Tod verlor irgendwann seinen Schrecken. Nein, es war nicht Angst, die ihn hellwach machte, die seine Muskeln zum Vibrieren brachte und seinen Körper in Alarmzustand versetzte. Was ihn zum Zerreißen angespannt machte war die Tatsache, dass Stillhalten, wenn ein Gegner zum tödlichen Schlag ansetzte, für ihn bisher nie eine Option gewesen war. Er war Krieger. Er kämpfte, bis zum Tod, wenn es sein musste, aber er hielt nicht einfach still wie ein Opferlamm, solange noch genug Kraft in ihm zur Gegenwehr war. Dieses simple Aufgeben – sein Leben so völlig in die Hände eines anderen Menschen zu geben – widerstrebte ihm zutiefst. Und doch war es genau das, was von ihm erwartet wurde, hier.
Die Anspannung, unter der er stand, nahm zu, als er schließlich kniete und das kühle Metall an seiner Schulter spürte. Stillhalten. Lautlos sagte er sich das in Gedanken vor, während er geradeaus starrte und unwillkürlich die Hände zu Fäusten ballte. Stillhalten. Immer noch lag die Schwertspitze auf seiner Haut, immer noch, immer noch... Stillhalten. Bis sie schließlich zurückgezogen wurde. Shayan wusste, mehr instinktiv denn bewusst, dass der Hieb kam, nahm das Zischen wahr, mit dem die Klinge durch die Luft sauste. Und er reagierte, bevor er sich ein weiteres Mal Stillhalten vorsagen konnte in Gedanken, reagierte, bevor er nachdenken oder sich beherrschen konnte, reagierte, wie er es jahrelang trainiert hatte. Er wartete nicht, bis der Schlag kam. Er gab seinem Gegner nicht die Gelegenheit, ihn so mühelos zu töten. Es war nichts, was er in diesem Moment bewusst hätte beeinflussen können, es war Instinkt und ein simpler Reflex, verstärkt durch ein Training, das in diesem Bereich in die genau entgegengesetzte Richtung gerichtet gewesen war wie das, das er hier im Ludus durchlief. Ein Krieger gibt nicht auf. Niemals. Nie.
Shayan ließ sich ansatzlos nach vorne fallen, drehte sich auf die Seite, noch bevor er auf dem Boden aufgekommen war, und hob die Unterarme, in der Absicht den Schwerthieb damit von empfindlicheren Körperteilen abzulenken. Was allerdings nicht nötig gewesen wäre, war der Hieb doch nicht gedacht gewesen, tatsächlich so weit vorzustoßen. Und noch bevor Shayan dem nächsten Reflex folgen und aufspringen konnte, geschah zweierlei, und das ziemlich zeitgleich. Zum einen begriff er, dass er, wieder einmal, einen Fehler gemacht hatte.
Zum anderen ließ ihn der Doctor das nun spüren.