Eine Stimme riss Livianus wieder aus seinen Gedanken und er dreht sich in ihre Richtung. Im ersten Moment durchfuhr ihm eine unsagbare Freude, als er bemerkte dass es seine Nichte Seiana war, die aus den dunklen Gängen der Casa trat und auf ihn zukam. Welche Sorgen hatte er sich um ihre Sicherheit gemacht. Das arme Kind war hier in Rom auf sich alleine gestellt und nur selten schafften es Briefe bis nach Tarraco, in denen sie ihm berichten konnte wie es ihr in Rom erging. Oft hatte er starke Schuldgefühle gehabt, sie hier zurückgelassen zu haben, vor allem während der Zeit der Belagerung. Doch da war es zu spät. Er konnte ihr nicht mehr helfen. Keinen von ihnen. Es blieb nur noch zu bangen, zu hoffen und zu den Göttern zu beten. Doch wie er nun selbst sah, hatten die Götter seine Bitten erhört und Seiana stand gesund und munter vor ihm. Lächelnd wartete er darauf, dass sie näher an ihn herantrat.
Im nächsten Moment jedoch, als der flackernde Schein der im Atrium aufgestellten Feuerschalen ihr Gesicht traf, erstarrte sein erwartungsvolles Lächeln. Es war nicht die Seiana, die er in Erinnerung hatte, als er Rom verlassen musste. Sie sah mitgenommen aus und wirke Müde. Keine Müdigkeit aufgrund der fortgeschrittenen Uhrzeit, sondern eine körperliche, tief steckende und allesumklammernde Müdigkeit, wie er sie schon oft, vor allem in Kriegszeiten bei Offizieren gesehen oder auch an sich selbst bemerkt hatte. Sie kam mit dem Druck der Verantwortung, der schwer auf den Schultern lastete und die Gedanken des Tages fast zur Gänze für sich beanspruchte. Und dünn war sie geworden. War es tatsächlich so schlimm gewesen? Erst jetzt nahm sich der Decimer das erste Mal so richtig Zeit sich umzublicken, seine Gedanken hatten ihn ja sofort zur Totenmaske seines Vaters geführt. Das Atrium selbst sah im Großen und Ganzen so aus, wie er es verlassen hatte, doch merkte er auch, dass etliches vom Mobiliar fehlte und die Wände, abgesehen von den Totenmasken seiner Vorfahren, die zum Glück dem ersten Anschein nach vollständig erhalten geblieben waren, vollkommen leer wirkten.
Sein Blick traf wieder auf Seiana. Nun war sie wieder da, diese Beklommenheit und die starken Schuldgefühle, die ihm fast die Luft zum Atmen abschnürten. Das Lächeln war zur Gänze verschwunden und machte stattdessen einer starren Maske der Verzweiflung Platz. Wie oft hatte er dieses Wiedersehen schon herbeigesehnt und wie oft hatte er sich in Gedanken ausgemalt, welch wundervoller und glücklicher Moment es werden sollte. Doch nun holte ihn die Realität wieder ein und sie kannte kein Mitleid. Livianus versuchte dennoch stark zu bleiben und wie immer in allen Lebenslagen Haltung zu bewahren, so wie man es von einem Mann seines Standes, seiner Vergangenheit und vor allem einem Familienoberhaut erwartete. Auch wenn er nun merkte, wie die Traurigkeit in ihm hochkroch und seine Augen feucht werden ließ.
Auf Silanas begrüßende und zugleich entschuldigende Worte ging er nicht mehr ein. Er hörte sie nicht mehr. Er wollte sie nicht sehen lassen, wie sehr er mit sich rang und hob stattdessen seine schwer gewordenen Arme, um sie ihr entgegenzustrecken. Gleichzeitig ging er die restlichen Schritte auf sie zu und nahm sie in die Arme.
"Komm her Kind! Ich bin so froh das es dir gut geht." nuschelte er in den Ärmel seines Reisemantels, der sich um Seianas schlanken Körper schloss und drückte sie fest an sich.