Livianus stand mit versteinerter Miene am offenen Fenster seines Officiums und sog die angenehm erfrischende Luft in seine Lungen. Das Wohngebäude des Gestüts, dass die Gens nach und nach zu einem prächtigen Landsitz ausgebaut hatte, lang etwas erhöht auf einer kleinen Hügelkuppe und bot einen prächtigen Ausblick auf das umherliegende Land, das soweit man blicken konnte fast ausschließlich den Decimern gehörte und neben der vorwiegend der Pferdezucht dienenden Wiesen und Koppeln auch der landwirtschaftlichen Nutzung diente und nebenbei auch einige Felder und kleinere Wälder miteinschloss. In seinem Blickfeld lag auch der Paddock, indem Meridius Enkelsohn gerade, wie bereits andere junge Decimer vor ihm, von Arbiscar Reitunterricht bekam. Sie waren zu weit entfernt um hören zu können was dabei gesprochen wurde oder um genauer erkennen zu können wie Aquila sich machte, aber dennoch ließ Livianus seinen Blick eine Zeit lang auf dem Paddock ruhen. Es war mehr ein gedankenverlorener Blick in diese Richtung, als der Versuch die Szenerie wirklich genauer zu beobachten.
Welche Unbeschwertheit das Leben in diesen jungen Jahren doch noch mit sich brachte. Eine Unbeschwertheit die auch Livianus nach seinem selbstgewählten Rückzug nach Hispania anfangs verspüren durfte. Bei seiner Rückkehr nach Tarraco hatte man ihm einen wahrlich überschwänglichen Empfang bereitet. Der Duumvir und die Honoratioren der Stadt waren angetreten um ihn aufs herzlichste Willkommen zu heißen und auch der amtierende Statthalter von Hispania Tarraconensis lud ihn bei jedem noch so kleinen gesellschaftlichen Ereignis in die Regia ein, um den nun heimgekehrten „großen Sohn“ der Stadt zu ehren und vermutlich auch um mit einem solchen Namen auf seiner Gästeliste seinen Festen einen höheren Stellenwert zu geben, schließlich hatte man hier nicht vergessen das Livianus ein Kriegsheld der Aufstände in Hispania gewesen war und für seinen Einsatz vom damaligen Kaiser mit der Corona Obsidionalis ausgezeichnet wurde. Derlei große Söhne gab es natürlich einige in Tarraco, doch auch Neider musste zugeben, dass die Decimer bisher die meisten von ihnen stellten und das vor allem in kürzester Zeit, wenn man nur an die herausragenden Karrieren von Livianus und seinen Brüdern, seinem Vater, oder seiner Vettern Meridius oder Lucidus dachte, von denen letzterer selbst über Jahre hinweg Statthalter der Provinz war.
Das erste Jahr seines vorzeitigen Ruhestandes verbrachte Livianus im Stadthaus der Decimer in Tarraco und genoss das gesellschaftliche Leben der Stadt und das Aufheben, dass teilweise um seine Person gemacht wurde, fernab von den Ränkeschmieden in Rom und vor allem fernab von Salinator in vollen Zügen. Es war ein angenehmes Leben, an das sich der Senator rasch gewöhnen konnte und Tarraco lag allem Anschein nach weit genug vom langen Arm Roms entfernt, um sich nicht weiter Sorgen zu müssen.
Doch nach dem Tod Valerianus und der Erhebung Salinator zum neuen Imperator wurde es recht rasch ruhig um Livianus. Ebenso wie manchmal aus heiterem Himmel der Wind dreht, änderte sich auch von einem Moment auf den anderen sein Status in der städtischen Gesellschaft Tarracos. Die Kontakte, die er bis dahin mit den vornehmen Familien der Stadt gepflegt hatte wurden von Tag zu Tag weniger, die Einladungen aber auch die Gäste blieben aus und auch der lebhafte Briefkontakt mit befreundeten Senatoren aus Rom versiegte nach wenigen Monaten zur Gänze. Allem Anschein nach erinnerten sich die Menschen in seiner direkten Umgebung wieder mit einem Mal daran, dass Livianus irgendwann bei dem nun neu eingesetzten Kaiser in Ungnade gefallen war und es jeder Zeit sein konnte, dass auch der Name des Decimers auf einer der in Umlauf gebrachten Proskriptionsliste auftauchen konnte. Dies würde dann möglicherweise auch Auswirklungen auf seine Umgebung haben und war Grund genug, um auch unter „Freunden“ die Angst vor den möglichen Konsequenzen zu schüren.
Livianus erkannte zum Glück die Zeichen der Zeit und beschloss kurzer Hand mit seinem Haushalt, den hier lebenden Familienmitgliedern und Sack und Pack auf das nahegelegene Landgut zu übersiedeln und sich so erneut aus der vermeintlichen Schusslinie zu bringen. In Tarraco war es zu gefährlich geworden denn Neider gab es immer und ein leise ausgesprochener Name in der Nähe des neugekrönten Kaiser konnte ausreichen, um den unangenehmen Decimer wieder zum Thema am Hofe zu machen. Es gab bestimmt den Einen oder Anderen, der daraus seine Vorteile ziehen konnte und vielleicht auch wollte. Auch wenn er sich Sorgen um die in Rom verbliebenen Familienmitglieder machte, konnte Livianus zu diesem Zeitpunkt nicht viel mehr machen um ihnen beizustehen, als das er sich von da an möglichst ruhig und unauffällig verhielt, was ganz und gar nicht seiner Art entsprach. Der einzige Lichtblick in dieser fast hoffnungslos scheinenden Zeit war sein Adoptivsohn Serapio, der mittlerweile in Rom weilte und Livianus hoffen ließ, dass dieser die Familie aus allen Problemen heraushalten konnte.
Selbst als die Nachricht von der Ausrufung des Patriziers Cornelius Palma zum Kaiser im Osten eintraf und der Bürgerkrieg damit unausweichlich schien, beschloss Livianus schweren Herzens zum Wohle der Familie in Hispania zu bleiben und nicht wie im ersten Überschwang geplant, sich Palma und seinen Leuten anzuschließen und gegen Rom zu marschieren um diesen verdammten Salinator vom Thron zu stürzen. Es hätte unvorhersehbare Folgen für die Familienmitglieder in Rom haben können, die Livianus keinesfalls riskieren wollte und konnte. Zum Glück hatte er in Rom noch seine Nichte Seiana, die es immer wieder schaffte ihm die aktuellsten Neuigkeiten zukommen zu lassen. Ihr letzter Brief, der bereits vor einigen Tagen eingetroffen war, schilderte jedoch ein mehr als beunruhigendes Bild der aktuellen Lage in Italia und seitdem hatte er auch nichts mehr von ihr gehört.
Bei diesem Gedanken wandte sich Livianus vom Fester ab und schritt die wenigen Meter zu seinem Schreibtisch zurück, wo er das Schreiben seiner Nichte, dass immer noch ganz oben auf einer Anhäufung von Dokumenten lag, erneut zur Hand nahm und die Zeilen überflog.
Marcus Decimus Livianus
Tarraco
Hispania
Werter Onkel,
seit unserem letzten Briefwechsel ist nicht allzu Zeit vergangen... dennoch hat sich in der Zwischenzeit hier etwas getan, was du wissen solltest.
Vielleicht hast du es schon aus anderen Quellen erfahren: Vescularius' Truppen haben im Norden Italias gegen die Legionen aus Germanien verloren. Was mit meinem Bruder ist, konnte ich leider noch nicht genau in Erfahrung bringen, aber es ist wahrscheinlich, dass er in Gefangenschaft geriet – ich bete zu den Göttern, dass er nicht gefallen ist. Fest steht jedenfalls, dass auch die Prätorianer in der Schlacht geschlagen wurden. Die Truppen ziehen Richtung Rom, und ich vermute, dies wird einer der letzten Briefe sein, die überhaupt die Stadt werden verlassen können; ich hoffe, dass mein Bote noch rechtzeitig aus Rom herauskommt und nach Hispania gelangen wird.
Aus dem Süden ist noch nichts genaues bekannt. Die Truppen des Corneliers sind in Italien gelandet, nach allem, was man hört, und Vescularius hat ihnen die Classis und Teile der Urbaner entgegen geschickt... aber es gibt in Rom bisher noch nicht einmal Nachricht davon, ob sie bereits aufeinander getroffen sind.
Vescularius ist in der Zwischenzeit dabei, die Bevölkerung Roms vorzubereiten auf die Truppen aus dem Norden... er hat die Vigiles zur Verteidigung der Stadt heranziehen lassen, darüber hinaus versuchen die Urbaner, weitere Soldaten zu rekrutieren. Ich selbst habe die Casa Decima inzwischen verlassen, da ich die Befürchtung habe, dass unser Haus eines der Ziele einer möglichen Plünderung sein wird, sofern Cornelius' Truppen tatsächlich die Stadt einnehmen werden... daher habe ich auch dafür gesorgt, dass die wichtigsten Unterlagen und einige Schätze an einen Ort gebracht wurden, der sicherer ist. Bewacht wird die Casa freilich dennoch, allerdings wird dieser Schutz nicht viel nützen, sollten die Truppen tatsächlich plündern, und sei es nur in den Häusern der Familien derjenigen, die zu hochrangigen Männern des Vescularius gezählt werden können. Aus diesem Grund habe ich auch beschlossen, dir einen Teil des Grundbesitzes zu überschreiben, den Faustus in meine Verantwortung übergeben hat, bevor er in den Krieg zog. Ich halte es für besser, wenn der Familienbesitz breiter verteilt ist. Die Verantwortung für einige Familienbetriebe habe ich deshalb auch an jüngere Verwandte abgegeben; zwei weitere – die Brauerei sowie das Weingut in Ostia – überschreibe ich Marcus Aquila. Ich bitte dich darum, ihn darüber zu informieren und ihn bei der Verwaltung anfangs zu unterstützen, falls er Hilfe benötigen sollte dabei. Meines Wissens nach war der Plan der Familie ohnehin, ihn bald nach Rom zu schicken... auf diese Art kann er bereits Verantwortung übernehmen.
Ich hoffe, du und die ganze Familie seid wohlauf – und ich hoffe, dass ich euch bald wieder Nachricht zukommen lassen, dann so Fortuna es will, mit einem positiveren Inhalt. Mögen die Götter euch alle behüten!
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Rechnete man die Zeit mit ein, die dieser Brief zu ihm gebraucht hatte, standen die Truppen Cornelius Palmas mittlerweile vor Rom, dessen war sich Livianus sicher, und als ehemaliger Praefectus Urbi wusste er zudem nur zu gut, dass der Vescularier in diesem Fall wohl wenig Chancen hatte, einer Belagerung lange Stand zu halten. Die aktuelle Lage in Rom, die Sorge um Serapio und den Rest der Familie, aber auch die möglichen Auswirkungen und Möglichkeiten, die ein Sieg Palmas nach sich ziehen konnte, ließen eigentlich nur eine Entscheidung zu, denn alles andere als ein Sieg Palmas war unwahrscheinlich.
Er legte den Brief wieder zurück auf den Stapel und ging erneut zum Fenster. Das Reittraining des jungen Aquila schien mittlerweile beendet zu sein, da alle den Paddock verlassen hatten. Livianus rief einen Sklaven zu sich und schickte ihn um Aquila und auch Flavus, den Enkel seines Vetters Maior zu holen. Er hatte lange genug gezögert ihnen von Seianas Brief zu erzählen, doch sie waren beide alt genug um sie an seinen Entscheidungen teilhaben zu lassen.