Beiträge von Neriman Seba

    Noch viel weiter war der Weg, die Hoffnung zerstört. Sollte ihr jemals die Flucht gelingen, zurück in ihre Heimat würde sie alleine nicht finden. Mit jedem Tag, jedem Schritt, der erneuten Überfahrt, sank ihr Kampfgeist und machte einer Hoffnungslosigkeit Platz, mit der sie jeder Anweisung Herodorus widerspruchslos Folge leistete. Bis, ja bis er sie mit Hectamus in die Stadt schicken wollte. Etwas in ihr regte sich, schrie regelrecht danach, sich Gehör zu verschaffen. Das ging nicht, das durfte er nicht von ihr verlangen. Hectamus wartete doch nur auf diese eine Gelegenheit. Und er gab sie ihm.


    Die Misshandlung, allein die verpatzte Chance, mit ihr - was auch immer er sich von ihr holen wollte. Er würde es bekommen - heute. Niemand, der sie schützen würde, niemand, der ihr helfen konnte. Bilder der Vergangenheit, der Schmerz - sie konnte nicht mit ihm gehen. Starr vor Angst blieb sie dicht bei Herodorus, schüttelte verzweifelt den Kopf, kramte nach der Tafel. Niemals - niemals...

    Die ersten Sonnenstrahlen kitzelten sie an der Nase. Als sie die Augen öffnete, war Hectamus verschwunden. Kein großer Verlust. Leider kam er wieder. Einzig der fremde Händler war ein Lichtblick, denn mit dem Ochsenkarren blieb ihr ein Fußmarsch erspart. Neriman rutschte in eine Ecke und zog die Beine an. Mit einem Ruck setzte sich der Karren in Bewegung. Gerade noch rechtzeitig griffen ihre Hände nach einer Strebe. So sehr sie sich erst gefreut hatte, so sehr wurde ihr das Holpern des Wagens zur Qual. Der Weg zur Hauptstadt war hoffentlich nicht allzu weit.

    Eine halbe Antwort. Immerhin. Eine Bestätigung, sie waren in Italia. Ihr Ziel - Die Hauptstadt des Imperiums? Was sollte sie sich darunter vorstellen. Das Imperium der Römer? Neriman wußte nicht viel darüber. In der Wüste war das unwichtig. Überleben in unmenschlicher Umgebung, Kampf gegen wilde Tiere, Viehzucht. Das war wichtig. Die Römer? Für sie Fremde, die ihnen ihre Waren abnahmen. Ein Glücksfall für ihre Sippe. Es war Nerimans erste Begegnung mit diesem Volk, und mit Massa. Massa... etwas lag in seinen Augen, dass sie ihn nicht vergessen konnte.


    Das Feuer, an dem sie auf die Rückkehr der beiden Ungeheuer warteten, knisterte neben ihrem zitternden Körper. Der Schein bewegte sich auf Herodorus Antlitz, verzerrte es zu hässlichen Fratzen, verzauberte es in ruhigen Wellen zu einer trauten Maske. Neriman beobachtete das Spiel der Flammen auf seinem Gesicht. Redselig war Herodorus nicht, nur wachsam, er ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Neriman hatte nicht die Absicht, wegzulaufen. Müde legte sie sich neben das wärmende Feuer und schloß die Augen. Der Schlaf wollte nicht kommen, zu aufgewühlt war sie von der langen Überfahrt und dem, was ihr noch bevorstand. In Gedanken träumte sie sich zurück in die Wüste, zu ihrer Familie, ihrem Vater, Abay. Ob sie wußten, ahnten, was geschehen war? Irgendwann kam Gorgidas und holte sie mit seinem Ruf aus ihrer Träumerei. Essen - endlich etwas ordentliches, das auch ihren Hunger stillen würde.

    Italia - hier war alles anders, ungewohnt, neu. Neriman war nie an ein Dorf gebunden, kannte die Weite der Wüste. Die Weite der Welt aber kannte sie nicht. Italia - war das das Land, in dem Massa lebte, bevor er in die Wüste kam? War er wieder hier? Ihr Herz tat einen Sprung, bevor es wieder in unendlichem Schmerz versank. Der Grund, der unwillkürliche Griff an ihren Hals. Da war nichts, nicht mehr. Grimmig ging ihr Blick zu Herodorus. Unter seinem Umhang konnte sie den Ring nur erahnen. Wieder zog sie ihr Büchlein hervor und ritzte eine Frage in das Wachs. Wo sind wir? Wohin bringst du mich? Ob er antworten würde, stand in den Sternen. Meistens tat er es nicht.


    Die Sterne - funkelnd begrüßten sie die beginnende Nacht. Nichts war hier wie in der Wüste, selbst der Sterne Plätze lagen hier anders. Vertraut und doch so fremd. Nichts war geblieben, nur Einsamkeit und Angst. Sie war müde, die Zeit auf dem Schiff zehrte an ihr, wie der Weg, der noch vor ihnen lag - und die Ungewissheit.

    Was Neriman niemals für möglich gehalten hätte, es ging ihr tatsächlich besser mit Gorgidas. Allmählich war sie sogar froh über seine Anwesenheit. Besonders und vor allem wegen Hectamus. Der schien Respekt vor dem anderen zu haben, zumindest hatte es den Anschein. So wähnte sie sich für den Rest der Überfahrt in Sicherheit. Hectamus Grinsen, das er ihr immer wieder entgegenschickte, wenn der Aufpasser nicht in der Nähe war, tat sie überheblich ab. Er konnte ihr nichts mehr tun. Nicht hier.


    Tagsüber war sie sich dessen sicher. Wenn sie allerdings nachts auf ihrem Lager lag, tat sie kaum ein Auge zu. Wenn ihr doch die Augen zufielen, quälten sie Alpträume, in denen die Hauptrolle dieses Ungeheuer spielte. Gorgidas, Herodorus - beide von ihm überwältigt. Hectamus widerliche Pranken griffen nach ihr, packten rücksichtslos zu. Seine Rache setzte dort an, wo vor einiger Zeit sein Vorhaben jäh unterbrochen wurde. Sein vernarbter, schwitzender Körper über ihr, sein widerlicher Geruch... Schweißnass lehnte sie schwer atmend an der Holzwand des kleinen Raumes und betete, die Überfahrt würde bald zuende gehen.

    Zwei üble Gesellen mehr - Neriman konnte sich etwas besseres vorstellen, als die Zeit auf dem Schiff zusätzlich mit ihnen zu teilen. Der erste, Gorgidas, ließ sich, genau wie sie, nicht zu einem Lächeln hinreißen. Neriman war das nur recht, sollte er für sich bleiben und sie in Ruhe lassen. Beim zweiten erhoffte sie sich das gleiche. Doch als eben jener aus dem Dunkel trat, wich sämtliche Farbe aus ihrem Gesicht. Starr vor Schreck widerstand sie dem Drang, wegzulaufen, doch der Becher, der eben noch locker in ihrer Hand gehalten wurde, rutschte aus ihren inzwischen eiskalten Fingern und fiel zu Boden, zerbarst dabei in tausend kleine Stücke. Die dunkelrote Flüssigkeit, eigentlich als Begrüßungstrunk gedacht, verteilte sich auf die Umstehenden, sog sich in Stoff und vom Rest bildete sich eine kleine Pfütze zu Nerimans Füßen. Einen Herzschlag lang, der endlos zu dauern schien, blieb ihr Blick auf Hectamus gerichtet. Sein Grinsen zeigte nicht das kleinste Anzeichen von Reue oder Demut. Die Spuren in seinem Gesicht waren nicht zu übersehen und eindeutig ihr zuzuschreiben. Er würde sich rächen dafür, sobald sich ihm eine Gelegenheit bot. Und es würde sich eine Gelegenheit bieten. Herodorus konnte nicht jede Sekunde bei ihr sein. Mit zitternden Fingern zog Neriman die Tafel, die sie immer bei sich trug, aus ihrem Beutel. Hektisch ritzte sie die Buchstaben in die Wachsfläche, dass man am Ende nur mit Mühe erkennen konnte, was es bedeuten sollte. Die Aufregung nahm ihr die Geduld, ordentlich zu schreiben.Nicht er, er wird mich nicht in Ruhe lassen,war zu lesen, wenn man sich die Mühe machte, es zu entziffern.

    Herodorus bekam nicht alles mit. So manche Hand verirrte sich an gewisse Körperteile, sobald er den Blick abwandte. Neriman war nicht imstande, sich dagegen zu wehren, jeder Tag an Bord dieses Schiffes schwächte ihren Widerstand. Schon lange gab sie es auf, nachts an Deck zu gehen, nach einer Fluchtmöglichkeit zu suchen. So blieb sie auch in dieser Nacht unter Deck, hüllte sich in eine Decke und wartete darauf, dass das Schiff seinen Weg fortsetzte.


    Diese Nacht aber war es anders. Herodorus brachte zwei Männer unter Deck. Beide sahen genausowenig vertrauenserweckend aus wie dieser Widerling in Alexandria. Ihr erster Impuls - weglaufen. Herodorus aber schien genau auf diese beiden gewartet zu haben. Vier Becher Wein. Das war ihre Aufgabe. Nur widerwillig schälte sie sich aus der wärmenden Decke, stand auf und füllte die Becher mit tiefdunkler Flüssigkeit. Ein Wein, der einem die Knie weich werden ließ, noch bevor er die Kehle hinabgeronnen war. Jedem der Drei übergab sie einen der Becher, der vierte? Sie behielt ihn in der Hand.

    Wie schon zuvor nahmen sie nicht den direkten Weg zum Hafen. Dunkle, verschlungene Wege, finstere Gassen. Am Hafen angekommen, ahnte sie noch nicht, was Herodorus plante. Seine Verhandlungen mit diesem Kapitän. Er wollte weg aus Alexandria? Wohin? Bei dem Gedanken, sich noch weiter von ihrer Familie zu entfernen, wurde ihr schlecht. Seine Wahl, das Schiff betreffend, und dieser "Kapitän " lösten ebenfalls ein flaues Gefühl in ihrem Magen aus. Was natürlich auch daher kommen konnte, dass sie den ganzen Morgen noch nichts gegessen hatte.


    Es war tatsächlich so. Herodorus schob sie gegen ihren Willen auf das Schiff, schärfte ihr ein, was ihre Aufgaben waren und brachte sie schließlich samt Gepäck unter Deck. Ihre Arbeit, das Schiff sauberzuhalten. Ein Unding bei der Meute, die sich Besatzung nannte. Küchenfee - Neriman mußte so einiges hinnehmen, sich gefallen lassen, was Herodorus nicht mitbekam. Diese zwielichtigen Gestalten gab es nicht nur an Land. Neriman fühlte sich ausgeliefert, konnte sich nicht wehren. Richtig, die Fahrt würde noch einige Tage dauern und jeder Tag war für Neriman ein Tag zuviel.

    Schluchzend blieb sie auf ihrer Seite des Bettes liegen, rollte sich ein wie ein kleines Kind. Diese Nacht war an Schlaf nicht mehr zu denken. Neriman heulte stumm in ihr Kissen. Dieser verdammte Ring. Wieso nur hing sie so sehr daran? Wieso konnte sie ihn denn nicht einfach vergessen? Diesen Soldaten mit dem dunkelgelockten Haar und seinen tiefbraunen Augen, die ihr Herz immer noch in Aufruhr versetzten, wenn sie nur daran dachte. Wieso nur konnte sie ihn nicht einfach vergessen?


    Aber auch ohne Ring, sie war eine Gefangene. Eine Gefangene, die Herodorus nicht einfach würde gehen lassen. Neriman wußte noch immer nicht, was er mit ihr vorhatte. Er hätte sie längst verkaufen können. Alle ihre Besitztümer waren mittlerweile in seinem Besitz. Was, also, wollte er denn noch? Eines zumindest wurde ihr in dieser Nacht immer klarer. Ihn überlisten, ihm entkommen, war unmöglich. Sich damit abzufinden, für sie beinahe ebenso unmöglich. Irgendwann ergab sie sich dieser Erkenntnis und die restliche Nacht gehörte ihren Tränen.


    Steh auf, wir müssen los ! Pack Deine Sachen. Mit rotverquollenen Augen blinzelte sie in den beginnenden Morgen. Sie mußte doch noch eingeschlafen sein. Neriman setzte sich auf. Die Hände lagen nicht mehr in Fesseln, Herodorus mußte sie gelöst haben, als sie noch schlief. Die Sachen packen? Sie sollte in der Küche arbeiten. Wozu also? Er gab, wie immer, keine Antwort, packte selbst. Einzupacken war ihrerseits nicht viel. Die Tafel, die zweite Tunika. Die andere trug sie schon über ihrer Hose. Tuch und Palla legte sie um, wobei sie das Tuch etwas weiter ins Gesicht zog, um ihre Augen zu schützen. Neriman spürte, wie sie brannten und auf die Helligkeit reagierten. Ansonsten, ihre restlichen Habseligkeiten lagen im Haus des Paulus, alles andere in den Händen Herodorus - oder hing um seinen Hals.


    Gemeinsam schlichen sie sich davon. Wieso der Abschied so leise ausfiel, erfuhr sie ebensowenig, wie das Ziel ihres Ausfluges. Neriman konnte nicht sprechen, Herodorus sehr wohl. Wenn er diesen Umstand des öfteren nutzen würde, könnte sie sich um einiges besser auf seine Vorhaben einstellen.

    Nicht einen Moment dachte sie daran, ihm das Messer in die Brust zu rammen. Sie hätte es tun sollen. So schnell, dass ihr keine Möglichkeit blieb, zu reagieren, legte sich seine Hand um ihren Hals. Allein der Schmerz nahm ihr die Luft zu atmen, öffnete ihre Hand und das Messer fiel klappernd zu Boden. Mit seinem ganzen Gewicht drückte Herodorus sie nach hinten, bis sie unglaublich verrenkt auf dem Boden lag. Neriman fürchtete, ihre Beine würden brechen. Es tat so schrecklich weh, dass es ihr die Tränen in die Augen trieb. Sein Dolch an ihrem Hals, starrte sie ihn mit vor Schreck geweiteten Augen an. Umerklich schüttelte sie den Kopf auf seine Frage, die Tränen flossen unaufhaltsam, der Dolch bohrte sich in ihre Haut. Neriman versuchte verzweifelt, ihre Beine seitlich hervorzubekommen, um sie auszustrecken, sich ein wenig Erleichterung zu verschaffen. Es ging nicht, sein Gewicht drückte sie unbarmherzig zu Boden, ließ ihr keinen Millimeter Bewegungsfreiheit. Der Schmerz wurde unerträglich, sie wollte nur, dass das aufhörte. Verstanden? Ja, sie hatte verstanden, sie nickte mehr mit den Augen, als es mit dem Kopf möglich war. Neriman hätte ihm alles versprochen, nur, um diesen elenden Qualen zu entkommen.

    Neriman schrak unmerklich zurück, als sie erkannte, um was es sich bei dem Werkzeug handelte. Messer in allen Längen und Breiten. Ein Blick zu Herodorus. Was, um alles in der Welt, war er? Besser, sie würde es nicht erfahren. Schnell schnappte sie sich das kleinste, prüfte es auf seine Schärfe. Es durfte nicht versagen, mußte das Band durchschneiden wie Butter.


    Leise schlich sie zum Bett zurück. Lautlos wie schon vorher, kniete sie sich neben ihn. Neriman mußte sich zusammennehmen, ihr Herz raste, es durfte nichts schiefgehen. War es im Raum noch heißer geworden? Die Aufregung nahm ihr die Luft. Vorsichtig hob sie die Hand mit dem Messer, mit der anderen nahm sie den Ring zwischen zwei Finger, hob ihn ein wenig - Neriman hielt den Atem an.

    Der zweite Knoten. Neriman fluchte innerlich über die Kraft, mit der Herodorus sie zusammengezogen hatte. Feine Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn, brannten in den Augen. Der nächste Knoten. Einer nach dem anderen mußte schließlich unter ihren geschickten Fingern nachgeben. Erst war die linke Hand frei, dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, auch die rechte. Sorgfältig darauf bedacht, das Seil nicht übermäßig zu bewegen, knotete sie beide Enden so zusammen, dass nichts ins Rutschen kommen konnte. Neriman blieb liegen, ruhte sich einen Moment aus. Was als nächstes? Der Ring!


    Herodorus schien noch immer nichts bemerkt zu haben. Wie aber sollte sie an den Ring kommen, ohne ihn zu wecken? Neriman wurde klar, wie unsinnig ihr Plan war. Kein Dolch, kein Messer, nichts, um den Ring freizubekommen. Ihr Dolch, irgendwo versteckt. Ihn durchsuchen ging nicht. Einfach weglaufen, ihm irgendwo auflauern, um den Ring zu rauben? Keine gute Idee. Schon bei dem Gedanken, den Ring zurückzulassen, zog sich ihr Herz zusammen. Die Wahrscheinlichkeit, seinen Besitzer jemals wiederzusehen, war nicht größer, als ihre Schwester wiederzufinden. Beides würde sie niemals, auch wenn die Hoffnung blieb. Trotzdem oder gerade deshalb war ihr der Ring wichtig. Der Ring, das Tuch - ihr Bruder hätte sich über sie lustig gemacht. Ihm genügte die Erinnerung. Neriman konnte das nicht, konnte auf diese "Dinge" nicht verzichten.


    Wieder hinlegen, die Hände ans Bett binden, als wäre nichts gewesen? Das konnte sie ebenfalls nicht. Vielleicht war es die vorerst letzte Gelegenheit. Sich lautlos bewegen, anschleichen, davonschleichen, das war ein ewig andauernder Wettkampf zwischen ihr und ihrem Bruder . Neriman beherrschte das wie kein anderer. Eine Gelegenheit, dieses Können unter Beweis zu stellen und aus dem Bett zu rutschen. Leise schlich sie um Herodorus herum, ihn nicht aus den Augen lassend. Das "Werkzeug". Neriman wußte nicht, was er da vor ihr verstecken wollte. Neugierig schlich sie dort hin. Vielleicht gab es dort etwas, das Band um seinen Hals durchzuschneiden.

    Es war stickig, es war warm und ihre Lage unbequem. Die Kleidung für eine Nacht in diesen Häusern völlig unpassend. Das Bett mit diesem ... Scheusal? zu teilen, machte es nicht einfacher. Er war ihr gegenüber zwar anständig, wenn man von der Fleischbeschau in der Ruine absah, trotzdem war es ihre Freiheit, die er erbarmungslos in Besitz nahm, daraus seinen Vorteil zu schlagen versuchte. Neriman sehnte sich gerade in diesem Augenblick nach der Wüste, der Kühle der Nacht, den Sternen, der unendlichen Weit, die vor ihr lag, wenn sie abends mit ihrem Bruder am Feuer saß. Ihr Bruder, ihre Familie, das, was noch von ihr übrig war - eine kleine Träne, die sich unaufhaltsam ihren Weg über ihre Wange suchte und still im Bett versickerte. Als wäre sie niemals da gewesen.


    Es dauerte eine Weile, dann schien Herodorus eingeschlafen zu sein. Neriman lag noch immer wach, versuchte, sich wenigstens auf die Seite zu drehen. Mühsam, mit den festgebundenen Händen. Vielleicht konnte sie die Knoten irgendwie aufbekommen. Ein erster Ansatz, das Seil zu lockern, die Hände aus den Schlingen zu bekommen - aussichtslos. Sie waren zu fest geknotet. Pause. Ihr Blick ging zu Herodorus. Er schien nichts davon bemerkt zu haben. Erst jetzt fiel ihr auf, dass seine Kapuze nach hinten gerutscht war, sie sein Gesicht freigab. Neriman richtete sich ein wenig auf, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er war jünger, als sie vermutet hatte, und eigentlich - ganz hübsch. Neriman schreckte vor dem Gedanken zurück. Er war ihr Entführer und sie hasste ihn. Wie, um das noch zu bestätigen, fiel ihr Blick nun auf den Ring - ihren Ring. Mit einem Ruck schnitt sich die Fessel in ihr Handgelenk, als sie danach greifen wollte. Elender Mistkerl!


    Es war Nacht, er schien zu schlafen, es war ihre Chance. Neriman legte sich so bequem es irgendwie ging. Mit der einen Hand tastete sie die Schlinge um die andere Hand ab, fand die Knoten. Sie waren so fest gezogen, dass sie sie kaum öffnen konnte. Mit den Zähnen? An die Hände kam sie nicht heran, dafür war das Seil zu kurz gespannt. Sie mußte es also weiter versuchen, zog und zerrte, fluchte innerlich über die Kraft, mit der er die Knoten zugezogen hatte. Immer wieder ein prüfender Blick zu Herodorus. Der erste Knoten begann sich zu lockern.

    Sie blieb ihm eine Antwort schuldig. Wenn er ihr den Ring nicht geben wollte, mußte sie ihn sich holen. Irgendwann. Die Steine waren nicht ganz so wichtig, sie gefielen ihr nur, waren ein schönes Spielzeug. Die Tafel war eindeutig nützlicher, vor allem schneller in der Anwendung. Einzelne Steinchen auf ein Brett zu sortieren, dabei zog sich eine Unterhaltung schon sehr in die Länge. Aber auch dieses Beutelchen würde sie sich wiederholen. Irgendwann.


    Vielmehr allerdings stellte sich ihr die Frage, was Herodorus da aus ihrem Blickfeld schaffte. Hatte das etwas mit seiner Arbeit für diesen Cleonymus zu tun, oder mit der Nebelkrähe? Obwohl Herodorus nicht unbedingt so aussah, als würde er mit ihm zusammenarbeiten wollen. Neriman versuchte, doch noch etwas zu erkennen, aber Herodorus achtete darauf, ihr keinen Einblick zu gewähren. Dann kam er zurück. Sein Gewicht drückte die Auflage des Bettes tiefer, als er sich zu ihr setzte. Neriman rückte ängstlich ein Stückchen von ihm weg. Ob sie noch etwas sagen wollte? Natürlich. Was er von ihr wollte, wieso sie hier war, was es mit den beiden Männern auf sich hatte - so viele Fragen.


    Sie war müde. Keine Buchstaben, die sie in die Tafel ritzte, sondern zwei Hände, die sich ihm entgegenstreckten. Dass er sie zusammenbinden würde, hätte sie sich denken können, auch wenn sie etwas anderes erhofft hatte. Er traute ihr nicht, ebensowenig wie sie ihm. Auf den Bauch legen, sie versuchte es. Unbequem, so zu schlafen, es nahm ihr die Luft. Was blieb ihr übrig. Der Druck der Kordel um ihre Handgelenke, nicht zu wissen, was auf sie zukam - das und die Gewissheit, eine Gefangene zu sein hielten den Schlaf fern.

    Zögernd betrat Neriman das Zimmer. Hier sollte sie also mit ihm die Nacht verbringen. Neugierig nahm sie den Raum in Augenschein, dann ging ihr Blick zurück zu Herodorus. Noch immer wußte sie nicht, was er eigentlich von ihr wollte. Die Gespräche beim Essen waren eher verwirrend, als aufschlußreich, wobei sie wenigstens zu verstehen glaubte, in welcher Beziehung Herodorus zu diesem Cleonymus stand. Welche Rolle sie dabei spielen sollte?


    Neriman setzte sich auf die Bettkante, legte die Tafel auf ihren Beinen ab und wartete, bis Herodorus ihr gegenüber Platz nahm. Was sie konnte? Viehherden hüten, Wasser in der Wüste finden, Spuren deuten. Natürlich war sie erfahren in allem, was eine Frau zu tun hatte, dazu gehörte auch kochen. Gelernt hatte sie glücklicherweise ein wenig das Lesen und Schreiben, vor allem aber das Rechnen. Sollte sie ihm das wirklich verraten? Sie wußte nichts von seinen Gedanken, für sie gab es nur eines, das noch wichtiger war. Deshalb nahm sie die Tafel und schrieb, drehte sie dann zu ihm um.


    Es war das erste mal während ihres Besuches, dass Neriman ihr Tuch vom Gesicht nahm, als die Speisen aufgetischt wurden. Die Schreibutensilien legte sie vorsichtig beiseite, um sie nicht zu beschädigen. Vielleicht hätte sie sich bedanken sollen. Vielleicht hätte sie es getan, wäre sie freiwillig hier. So aber nahm sie es als kleine Entschädigung. Viel mehr als das hätte sie verdient. Ihre Freiheit - Neriman verlor allmählich die Hoffnung. Hier stand sie noch viel mehr unter Beobachtung. Vor allem dieser Nebelkrähe traute sie kein bisschen.


    Ein Blick auf die Spezialitäten des Hauses und ihr Magen meldete sich lautstark. Lange hatte sie nicht mehr solch erlesene Speisen gesehen, geschweige denn, vorgesetzt bekommen. Das Essen im Haus des Paulus war zwar nahrhaft, jedoch in keinster Weise hiermit zu vergleichen. Der Laib Brot, den sie von Herodorus bekam, noch weniger. Es verwunderte sicher nicht, dass sie ohne zu zögern zugriff. Der Unterhaltung folgte sie nur beiläufig. Allzuviel hatten die Herren sich ohnehin nicht zu sagen.

    Ob ein Bett oder zwei, schlimmer konnte es im Moment nicht kommen. Die Nebelkrähe war nicht dumm. Bemerkte er doch, was augenscheinlich niemand wissen sollte. Es war trotz allem ein offenes Geheimnis. Was blieb ihr, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Nach Aufforderung nahm sie am Tisch Platz, machte jedoch keinerlei Anstalten, ihr Tuch auch nur über den Mund herunterzuziehen. Nur, um erneut an ihrem Getränkt zu nippen, zog sie es ein Stückchen über die Lippen, bevor sie den Becher schießlich abstellte. Jemand reichte ihr die von Herodorus geforderten Schreibutensilien. Ehrfürchtig strichen Nerimans Fingerspitzen über die Tafel, drehten andächtig den verzierten Griffel. Das war besser als der Sand, vielleicht sogar besser als ihre Steinchen auf dem Brett, die Herodorus ihr abgenommen hatte. Während sie weiter die Gabe als glücklichen Vorwand nutzte, sich nicht am Gespräch beteiligen zu müssen, lauschte sie der Unterhaltung nicht weniger interessiert.


    Tascus - Nebelkrähe. Neriman würde sich wohl eher zweiteren Namen merken. Die beiden teilten also ein Talent. Stand die Frage im Raum, welches es sein könnte. Diebstahl? Menschenraub? Diese Nebelkrähe stand also über Herodorus? Die beiden tauschten zumindest oberflächlich Nettigkeiten aus. Neriman war nicht entgangen, dass beide es nicht ernst meinten. Jeder für sich alleine, das wäre schon eher ihre Arbeitsweise. Ihr Blick hob sich in Richtung Herodorus, als dieser sie erneut, nicht ohne Unterton, ansprach. Neriman nickte, wie er es wollte. Geld verdienen - da blieben ihr nur wilde Spekulationen, um welche Art "Arbeit" es sich handeln konnte. Sicher war, wenn sie sich umsah, dass es nicht legal sein würde. Umso dringender brauchte sie einen Plan. Einen Plan, den Ring an sich zu bringen und so schnell als möglich zu verschwinden. Unterdessen ließ sie sich nichts anmerken, tat teilnahmslos und ritzte beiläufig etwas in die Tafel. Dann, nachdem Herodorus einen tiefen Zug Wein genommen hatte, schob sie sie zu ihm. Nun endlich beantwortete sie seine Frage, konnte er ihren Namen lesen - Neriman Seba.

    Nicht getrennt von ihm? Nicht nur das, weit weit weg träfe es noch besser. Allein die Vorstellung, die Nacht mit ihm in einem Zimmer, womöglich noch in einem Bett zu verbringen, ließ sie schaudern. Wenn sie daran dachte, was er ihr in der Ruine angetan hatte. Allerdings hielt er sich dort und auch sonst zurück, bewahrte sie sogar vor diesem Monste. Nur, wer garantierte, dass er nicht doch andere Absichten hatte, einzig die passende Gelegenheit abwartete?


    Fast hätte sie ihr Gegenüber mit den Augen um Hilfe angefleht, da wies Herodorus sie mit seinem ernsten Blick in ihre Schranken. Ergeben senkte sie den Kopf, hob ihn allerdings ebenso schnell wieder, als er Schreibzeug verlangte. Einen Brief wollte Herodorus sicher nicht verfassen. Konnte es sein, dass ihm inzwischen klar wurde, dass ihr etwas entscheidendes fehlte - eine Stimme? Neriman hatte wenig Hoffnung. Selbst die Frage nach ihrem Namen schien eher rhetorischer Natur.


    Dafür interessierte ihn dieser andere Mann umso mehr, der gemeinsam mit Cleonymus den Raum betreten hatte. Den Becher Wein in der Hand, nippte sie dezent und beobachtete die Gestalt über den Rand hinweg. Zurückhaltung war keine seiner Tugenden, oder aber, er war hier zuhause. Herodorus schien er jedenfalls nicht fremd zu sein.

    Neriman blieb nur eine Möglichkeit, Herodorus begleiten. Ohne ihn mit diesem Monster in diesem Loch zu bleiben, war absolut keine Option. Herodorus Bedingung für ihre Sicherheit, keine Fluchtpläne - und ob sie Fluchtpläne schmiedete. Immer wieder. Und ebenso oft verwarf sie sie auch. Keine Flucht ohne Ring und der hing sicher um Herodorus Hals. Also folgte sie ihm durch unheimliche Gassen und finstere Gegenden, bis sie schließlich ihr Ziel erreichten. Herodorus Ziel. Ihres wäre der Hafen, ein Schiff, das sie nach Hause bringen würde. Oder zumindest das Haus des Paulus. Ob ihre kleine Gruppe sie schon suchen würde? Eine Nacht nicht in ihrem Bett war nichts ungewöhnliches. Wahrscheinlich sorgten sie sich noch nicht einmal.


    Als sie den Saal betraten, war Neriman von dem enormen Gegensatz überwältigt. Nach dem dunklen Keller, in dem nur ein Strohlager und ein Schemel zur Ausstattung zählten, strahlte die Einrichtung hier mehr als Gemütlichkeit aus. Schwere dunkle Holzmöbel, farbenprächtige Ausstattung. Neriman achtete kaum auf das Gespräch der beiden Männer. Ihr fiel jedoch auf, dass man sie bei der Frage nach ihren Wünschen ignorierte, denn die ging einzig an Herodorus. Man dachte doch wohl nicht, sie wäre eine Sklavin? Wobei ihr auch das letztlich egal war. Im Moment war sie ohnehin weniger als das. Was sie hier sollte und was man von ihr wollte - Neriman hatte absolut keine Ahnung. Trotzdem hob sie erstaunt den Blick, als Herodorus sie seine Begleitung nannte. Noch mehr Verwirrung. Dafür aber schenkte sie ihm ein zaghaftes, dankbares Lächeln.

    Erleichterung. Ihre Befürchtung, er würde ihrem Wunsch nicht nachkommen, erwies sich als völlig unbegründet. Während er sich zur Tür drehte, riss sie ein Stück Stoff aus ihrem alten Kleid und wusch sich damit, trocknete sich mit dem restlichen Stoff, der noch übrig war, ab. Immer einen Seitenblick auf Herodorus gerichtet, striff sie schließlich eine der Tuniken über und legte sich die Palla um. Darunter trug sie noch immer ihre Hose, um die Schultern das Tuch, das sie nun über die Haare zog, das Gesicht aber noch frei lassend. Möglicherweise sah das alles etwas seltsam aus, doch mit der Art, die Beine ungeschützt zu lassen, wie es diese Römer taten, konnte sie sich nicht anfreunden. Auf ihr Tuch durfte sie ebensowenig verzichten, auch nicht, wenn es, wie er meinte, in eine bessere Gegend ging.


    Nachdem sie sich noch einmal vergewissert hatte, dass alles gut saß und an seinem Platz war, ging sie zum Stroh und hob das Brot auf. Wer wußte schon, was er mit ihr vorhatte und wann sie das nächste mal etwas zu essen bekam. Gierig riss sie ein kleines Stück heraus und schob es in den Mund, dann tippte sie Herodorus auf die Schulter, breitete die Arme aus, um zu zeigen, dass sie fertig wäre. Was war sie froh, aus diesem Loch herauszukommen, noch besser wäre allerdings, er würde sie einfach wieder freilassen. Zuvor aber, gab es noch etwas zu tun. Der Ring...