Beiträge von Neriman Seba

    Vielleicht hätte sie sich die Ohren zuhalten sollen, so bekam sie jeden Schlag, jedes Stöhnen ebenso deutlich mit, als hätte sie direkt zugesehen. Er hat es verdient. Das Bündel noch immer krampfhaft festhaltend, wartete sie geduldig, bis Herodorus sein Werk vollendet hatte, dann drehte sie sich um. Das Ungeheuer sah nun viel weniger wie ein Ungeheuer aus. Zumindest für den Moment mußte sie vor ihm keine Angst mehr haben. Noch immer verstand Neriman aber nicht, wieso der Kerl sich überhaupt von Herodorus verprügeln ließ. Er mußte doch viel stärker sein, zumindest sah er so aus. Vielleicht war er aber einfach nur viel zu dumm.


    Als Herodorus verschwand, legte sie das Bündel auf den Boden und schälte sich aus den Resten ihres Kleides. Sie war gerade im Begriff, eine der Tuniken herauszusuchen, als sich die Türe erneut öffnete. Erschrocken hielt sie den Stoff vor ihren Körper. Nur notdürftig bedeckt stand sie vor ihm, als er auf sie zukam, die Schüssel in den Händen. Mühsam nahm sie ihm auch die noch ab, stellte sie neben das Bündel auf den Boden. Wasser schwappte daneben, der Stoff rutschte, entblöste mehr, als ihr lieb war. Bevor sie sich wieder aufrichtete, zog und zupfte sie den Stoff, so gut es eben ging, zurecht.


    Neriman hoffte darauf, er würde noch einmal den Raum verlassen oder sich dezent umdrehen, was er aber nicht tat. Nachdem er sich um das Brot gekümmert hatte, blieb er abwartend vor der Türe stehen. Ihren Namen? Mit nur einer Hand versuchte sie, ihm mit den ihr zur Verfügung stehenden Zeichen, ihren Namen zu nennen. Ihr war klar, er würde es nicht verstehen, selbst, wenn sie ihn buchstabieren würde. Vielleicht würde er aber endlich bemerken, dass sie nicht sprechen konnte. Und um sich endlich etwas überzuziehen, bewegte sie ihren Finger im Kreis, was bedeuten sollte, er möge sich doch bitte umdrehen. Dieses Zeichen mußte er auf alle Fälle verstehen.

    Immer weniger wurde ihr Schluchzen, je sicherer sie sich fühlte, wenn man in ihrer Situation überhaupt von sicher sprechen konnte. Auf die Frage, ob er ihr denn etwas zu essen gegeben hätte, schüttelte sie den Kopf, deutete in die Ecke des Raumes, in der das Brot gelandet war. Erst nach einer Weile, die er sie noch hielt, schob er sie langsam von sich. Während Herodorus sich von ihr entfernte, wischte sie sich mit den Händen über die aufgequollenen, brennenden Augen und die tropfende Nase, beschämt darüber, dass sie sich so hatte gehenlassen. Um auch die restlichen Spuren ihrer Tränen loszuwerden, nutzte sie die Überreste ihres in Fetzen gerissenen Kleides. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingerspitzen über ein paar Kratzer, die sie abbekommen hatte, als ihr das Kleid von den Schultern gerissen wurde. Glücklicherweise war das alles, das sie von dem Übergriff davongetragen hatte.


    Ihr Blick hing noch immer an dem Kerl, der da am Boden lag, dass sie nicht mitbekam, wie Herodorus die Türe nur schloss und nicht verriegelte, weshalb sie ihm dazu eine Antwort schuldig blieb. Die hätte ihm ohnehin nicht gefallen. Etwas verblüfft nahm sie aber das Bündel Kleidung aus seinen Händen entgegen. Neriman hob gerade die Stoffe ein wenig auseinander, um zu ergründen, was er ihr mitgebracht hatte, da rührte sich das Ungeheuer erneut. Fast wäre ihr das Bündel aus den Händen geglitten, doch Herodorus hatte die Situation noch immer unter Kontrolle.


    Das Monster von einem Mann hatte eine seltsame Auffassung von Spaß. Neriman fand keinen Spaß an seinen Spielchen und es hatte ihn auch in keinster Weise interessiert. Da half auch sein bittender Blick nicht, mit dem er um Gnade bettelte. Sollte Herodorus ihn bestrafen? Neriman drückte schützend die Kleidungsstücke an ihre Brust. Sie sollte diese Entscheidung treffen. Schließlich nickte sie Herodorus zu und wandte sich schnell ab, vermied es dabei, ihren Peiniger anzusehen. Das hat er verdient.. versuchte sie sich zumindest einzureden, ihre Entscheidung zu begründen. Schließlich hätte er ihr fast das Einzige genommen, das sie noch besaß - abgesehen von ihrem Leben.

    Der Kampf war so gut wie aussichtslos. Neriman könnte ihm die Augen auskratzen, doch sie kam weder in die Nähe, noch schien es ihm etwas auszumachen. Wild um sich schlagend, kämpfte Neriman um ihre Unschuld, drückte die Hände gegen Hecatomnus Oberkörper, seinen widerlichen Küssen zu entkommen. Aus dem Augenwinkel dann eine Bewegung. Der Schemel, auf dem sie vorhin noch gesessen hatte, sauste auf das Ungeheuer herunter und traf krachend sein Ziel. Neriman zuckte zusammen, hielt inne. Alles ging auf einmal so schnell. Noch ein Schlag, diesmal ins Gesicht. Der Mann brach über ihr zusammen, das volle Gewicht fiel dabei auf ihren Oberkörper, dass sie kaum noch Luft bekam. War er schon schwer, als er seine Sinne beisammen hatte, so spürte sie jetzt, welche Masse dieses Monster ihr entgegensetzte. Kein Wunder, dass sie nicht das geringste gegen ihn ausrichten konnte. Verzweifelt stemmte sie sich gegen seine Schultern, bis Herodorus ihr die Last abnahm. Keuchend holte sie Luft, Herodorus verpasste unterdessen dem Kerl noch einen Tritt. Erst, als sie sich vergewisstert hatte, dass keine Gefahr mehr drohte, nahm sie dankbar die dargebotenen Hände und richtete sich auf, hielt dabei am Stoff ihres Kleides fest, dass es nicht gänzlich von ihrem Körper glitt. Zitternd stand sie schließlich vor Herodorus und genau in diesem Moment fiel alle Angst und Anspannung von ihr ab. Ohne nachzudenken, lehnte sie sich schluchzend an seine Brust, war so froh, dass er noch rechtzeitig zurückgekommen war. Für diesen Moment war es ihr auch völlig gleichgültig, dass er ihr Entführer und daher ebenso ein Verbrecher war wie der Kerl, der da auf dem Boden lag.

    Beim Wort Ausziehen zog sie ihr Kleid noch enger vor ihrem Körper zusammen, ließ auch nicht locker, als der Stoff unter seiner Hand nachgab und riss. Oh doch, sie wollte, dass der Chef etwas mitbekam. Er sollte alles mitbekommen, und vor allem, sollte er es JETZT mitbekommen. Hoffnungsvoll ging ihr Blick zur Tür, erwartete sie sehnsüchtig, dass diese aufgehen mochte. Ihre Hoffnung aber wurde jäh zerstört, als sie herumgerissen und vom Gewicht ihres Peinigers ins Stroh gedrückt wurde. Abwehrend hob sie eine Hand, versuchte, zu verhindern, was weiter geschah. Als mit einem Ruck auch auf der rechten Seite ihre nackte Haut freigelegt wurde, tauchte vor ihr das Bild ihrer Mutter auf. Die letzten Sekunden, in denen sie sich schützend vor Neriman stellte und ihr Leben gab für das Leben ihres Kindes. Nein, das durfte nicht umsonst gewesen sein.


    Hatte der Kerl nicht gesagt, sie hätten wenig Zeit, bis der Chef wiederkommt? Wenn Herodorus wirklich nicht lange wegblieb, wenn sie das Monster noch einige Zeit hinhalten konnte... Neriman ließ den Stoff ihres Kleides los, bündelte alles an Kraft, das sie aufbringen konnte. Mit aller Macht wand sie sich unter ihm, strampelte mit den Beinen , boxte mit den Fäusten auf ihn ein, richtete ihre Finger gegen sein Gesicht, um mit ihren Nägeln tiefe Wunden in seine Haut zu schlagen. Wenn es ihr auch nicht gelingen sollte, sich gegen das Unvermeidliche zu wehren, so sollte er wenigstens ebenso leiden wie sie.

    Nein! Nein!! Alles in ihr schrie, doch kein Laut kam über die Lippen. Neriman wich vor dem Ungeheuer zurück, wurde nur kurz von dem Brot abgelenkt, das achtlos in der Ecke landete. Immer weiter zog sie sich zurück, bis sie schließlich rücklings an die Wand stieß. Die Finger glitten suchend über den kalten Stein - kein Ausweg. Das Blut rauschte in ihren Ohren, ihr Herz raste. Geh weg!! Geh weg! Neriman schüttelte heftig den Kopf, er lachte nur. Grob wurde sie an den Schultern gepackt und auf das Stroh geworfen. Keine Sekunde blieb sie so liegen, rappelte sich auf und rutschte zurück, bis sie mit dem Rücken zur Wand saß. Die Beine angezogen, schüttelte sie nur immer wieder den Kopf.


    Er kam näher, ihre Hände suchten im Stroh nach etwas Greifbarem. Nichts, da war nichts. Nur dieser widerliche Kerl, der wie ein Berg über ihr stand. Angewidert verzog sie das Gesicht, als er seinen Umhang öffnete, starrte auf den Körper, den er ihr in seiner Gier darbot. Vernarbt, mit Muskeln bepackt, sah er nicht aus, als würde sie ihm irgendwie entkommen können. Sein Blick versprach kein Mitleid. Nerimans Augen füllten sich mit Tränen. Nein, sie wollte das nicht. Er beugte sich zu ihr. Neriman hob abwehrend die Hände, drückte sich noch enger gegen die Wand. Bitte, bitte, nicht! Schluchzend drehte sie den Kopf zur Seite, schloß die Augen.


    Sie konnte schon seinen Atem spüren...

    Neriman wollte antworten, da drehte er sich wieder um und ging zur Tür. Hecatomnus - ein Sklave? Oder war das hier eine Räuberhöhle und es gab noch mehr von Herodorus Sorte? Der Gedanke ließ sie erschaudern. Seine Worte beruhigten sie daher nicht im geringsten. Schon gar nicht, als sie erkannte, wer dieser Hecatomnus war, als dieser plötzlich im Türrahmen stand. Unwillkürlich zuckte sie zusammen. Dieser Blick. Hilfesuchend ging der ihre zu Herodorus, der den Kerl tatsächlich in seine Schranken wies. Eine seltsame Situation. Ein Schrank von einem Mann, so unterwürfig wie ein kleines Hündchen.


    Als beide schließlich draußen waren, stand Neriman auf und überprüfte die Tür. Verriegelt. Verzweifelt rüttelte sie daran - nichts. Das Fenster war vergittert, das Gitter fest im Stein verankert. Wie sollte sie hier nur jemals herauskommen. Nicht einmal schreien konnte sie. Vielleicht etwas aus dem Fenster hängen? Sie fasste an ihren Hals. Ein Schock. Das Amulett war weg. Damit war sie dem Leben schutzlos ausgeliefert. Sie erinnerte sich nicht, dass Herodorus es ihr abgenommen hätte, dann lag es vielleicht noch in der Ruine. War das die Hoffnung auf ihre Rettung? Wenn Djadi und die anderen nach ihr suchen würden, wenn sie das Amulett finden würden... Ihr Herz schlug schneller vor Aufregung. Ein Stück Stoff von ihrem Kleid. Neriman riss einen Streifen ab, wollte ihn gerade ans Gitter binden, da hörte sie, dass jemand sich an der Tür zu schaffen machte. Schnell schob sie den Stoff in ihre Hose, wartete hoffnungsvoll, bis sich die Türe öffnete.


    Ihr Hochgefühl wurde schlagartig bis in den tiefsten Keller gezogen, als sie erkannte, dass es dieses Ungeheuer war, das erneut im Raum stand. Neriman konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Hecatomnus tatsächlich Herodorus Warnung ernst nehmen würde. Herodorus war nicht da, sie waren alleine. Wer sollte ihn also hindern? Niemals hätte sie gedacht, dass sie sich Herodorus zurückwünschen würde. Gerade jetzt, da dieser Widerling ihr den Laib Brot hinhielt, tat sie aber genau das. Sie wünschte sich, Herodorus würde wiederkommen, denn das Spiel wollte sie nicht mitspielen. Sie wollte sich nichts verdienen. Schon gar nicht, weil sie wußte, wie. Sollte er sein Brot doch behalten. Statt, auf ihn zuzugehen, wich sie ein paar Schritte zurück und schüttelte den Kopf.

    Das Haus, zu dem er sie führte, ließ von außen schon erahnen, was sich im Inneren bestätigte. Es war keine Villa, die Einrichtung spärlich. Er gab ihr keine Zeit, sich umzusehen, führte sie direkt zu einer Treppe. Hinunter, dann durch eine Türe. Der Raum dahinter war ebenfalls nur karg ausgestattet. Wie geheißen, nahm sie auf dem Schemel Platz, mit dem Überwurf und den Handfesseln etwas umständlich. Ihr Blick folgte ihm zur Tür und wieder zurück. Die Türe war verriegelt, das schürte erneut ihre Furcht. Noch immer wußte sie nicht, was er von ihr wollte oder mit ihr vorhatte. Der Überwurf wurde abgenommen, dann die Fesseln. Neriman atmete erleichtert auf, rieb sich die Handgelenke. Das Seil hatte seine schmerzenden Spuren hinterlassen.

    Ein neuer Schatten legte sich auf ihre Seele, als der Ring unter dem Stoff verschwand. Dass er an ihrer Kleidung zupfte, nahm sie schon gar nicht mehr wahr. Alles, was er an Vorbereitung mit ihr anstellte, ließ sie widerstandslos über sich ergehen. Nicht einmal sein Dolch machte ihr mehr Angst. Es war, als hätte er ihr mit dem Ring alle Hoffnung genommen.


    Allein die Beine gehorchten ihr wieder und als er sie an sich zog, nickte sie. Wie, allerdings, sollte sie nicht auffallen mit der aufgeplatzten Lippe, der blutigen Wange und der zerrissenen Kleidung? Sein Überwurf bedeckte nur das letztgenannte und ihre gefesselten Hände. Mit ersten, vorsichtigen Schritten bewegte sie sich auf den Ausgang zu. Ihre Hoffnung, es würde ihnen jemand begegnen, erfüllte sich nicht, dafür sorgte er, indem er sie ständig hinter Hausecken zog und in andere Straßen schob. Dagegen wurden die Gassen immer dunkler, durch die er sie führte. Alleine hätte sie sich hierher niemals verirrt. Angestrengt versuchte sie, sich den Weg, trotz der Dunkelheit, gut einzuprägen.

    Oh ihr Götter - NEIN! Neriman drehte den Kopf zur Seite und schloß die Augen, die sich erneut mit Tränen zu füllen drohten. Nachdem ihre Hände gefesselt und ihr Kleid heruntergezogen war, erwartete sie das Schlimmste. Dabei wollte sie ihm nicht zusehen, wollte nicht sehen, wie er ihren Körper schändete. In ihrer Verzweiflung versuchte sie, an etwas anderes zu denken, doch ihre Gedanken kehrten immer wieder in das verfallene Haus zurück, als würden sie von ihm angezogen. Ihr Herz raste. Noch nie war ihr ein Mann so nah gekommen. Gleich würde er...


    Nichts geschah, im Gegenteil, er zog ihr Kleid wieder hoch. Seine Worte waren deutlich. Was aber wollte er dann, wenn nicht ihren Körper? Er rutschte nach unten, ihre Hose mit ihm. Die kläglichen Versuche, das zu verhindern, scheiterten schon an seinem Gewicht auf ihren Füßen. In diesem Moment wäre sie lieber gestorben, als so vor ihm zu liegen. Das Gefühl der Scham war nicht in Worte zu fassen. Wieso tat er ihr das an? Neriman wagte nicht, ihn anzusehen. Seine Blicke waren auch so fast körperlich zu spüren.


    Mit einem Mal kamen ihr die Mädchen auf dem Sklavenmarkt in den Sinn. Wollte er sie dort verkaufen? Keine Zeit, über ihr mögliches Schicksal nachzudenken, er schien wieder etwas Neues entdeckt zu haben. Sie hörte die Münzen klimpern. Das Geld war dafür gedacht, zurück zu ihrer Familie zu kommen. Neriman wand sich unter ihm. Dann, was noch viel schlimmer war, hielt er plötzlich den Ring in seinen Händen, ihren Ring - Massa´s Ring. Er musste irgendwie abgerissen sein. Den durfte dieses Ekel nicht haben, niemals. Der Ring war doch alles, was sie jemals von Massa haben würde. Ohne den Ring blieb nur noch die Erinnerung, und die würde mit der Zeit immer mehr verblassen, das wußte sie.


    Als er sich den Ring um den Hals band, wand sie sich wieder unter ihm, schnaubte, zog an den Füßen, drehte die Hände in den Fesseln. Das Seil gab nicht nach, drückte sich immer enger um ihre Handgelenke. Mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung schaute sie zu ihm auf. Wenigstens die Hose zog er wieder hoch und ein kleines Stückchen Sicherheit kehrte mit ihr zurück. Keine Sekunde nahm sie jedoch den Blick von dem Ring um seinen Hals, als er ihr half, sich aufzusetzen. Neriman blinzelte, ihr Kopf schmerzte, ihr wurde schwarz vor Augen. Nur jetzt nicht ohnmächtig werden. Mit allerletzter Kraft nickte sie und versuchte, mit seiner Hilfe aufzustehen. Seine Fragen, auf die er ohnehin keine Antwort zu erwarten schien, blieben unbeantwortet.

    Er zog ihren Kopf immer weiter nach hinten, dass sie unwillkürlich nach Luft schnappte. Alles spannte, ihre Kehle, das Rückgrat, selbst die Muskeln im Nacken protestierten unter dem Druck. Sie bekam kaum noch Luft und es schmerzte fürchterlich. Jeder andere hätte den Schmerz laut in die Nacht geschrien. Wäre es nicht so finster, und stünde er nicht hinter ihr, er hätte zumindest ihre Tränen gesehen. So konnte er nur hören, wie ihr Körper reagierte, er mit seinen Knien die letzte Luft aus ihrer Lunge presste.


    Wild mit den Beinen zappelnd, rang sie noch immer nach Atem, als der Kerl plötzlich losließ. Da war keine Zeit mehr zu reagieren, die Hände nach vorne zu nehmen, um sich zu schützen. Ohne den geringsten Widerstand schlug ihr Gesicht auf den Boden. Neriman atmete hörbar aus - und schmeckte Blut. War es ein Steinchen gewesen oder einer ihrer Zähne? Ein kleiner Riss bildete sich auf ihrer Lippe, der sicher dick anschwellen und ihr sonst so hübsches Gesicht für absehbare Zeit entstellen würde. Doch viel schlimmer war der höllische Schmerz, mit dem sich ihr Gesicht in die Erde grub. Die einzige Erleichterung war, dass ihr nun das Atmen ein wenig leichter ging, wenn man von dem Gewicht auf ihrem Rücken absah.


    Eines jedenfalls hatte er erreicht. Ihr Wille war gebrochen. Zumindest, bis er anfing, ihr Kleid aufzureißen und über die Schultern zu ziehen. Sie spürte die kalte Abendluft, die über ihre zarte Haut strich und schämte sich tatsächlich, dass dieser fremde Kerl sie so sehen konnte. Noch einmal nahm sie alle Kraft, die ihr noch geblieben war und drückte sich vom Boden ab, versuchte, das Übel abzuwerfen, ihn loszuwerden. Ergebnislos, für den Kerl war es höchstens ein leichtes Schütteln. Resigniert sank sie in sich zusammen. Nun würde er sich nehmen, was er begehrte und danach - wohl noch ihr Leben. Neriman drehte den Kopf zur Seite, versuchte, mit tränenverhangenen Augen einen letzten Blick auf die Sterne zu erhaschen, dann nahm sie keuchend und mit letzter Kraft die Hände auf den Rücken und ergab sich in ihr Schicksal.

    Immer wieder musste sie aufpassen, nicht an den herumliegenden Steinen umzuknicken. Dementsprechend langsam und kräftezehrend war der Weg zu dem Mauervorsprung, und nicht nur deshalb. Sein unbarmherziger Griff, die verbogene Haltung drückten ihr immer noch die Luft ab. Kalter Schweiß lief tröpfchenweise an der Schläfe herab.


    Knie dich hin. Der Druck, auf die Knie zu gehen, schmerzte durch die offene Wunde, die Erleichterung, als der Griff nachließ, gab ihr kurzzeitig etwas Luft - bis der Kopf weiter nach hinten gezerrt wurde. Die Augen weit aufgerissen, erwartete sie schon fast, dass er ihr nun die Kehle durchschneiden würde.


    Keuchend kniete sie vor ihm. Nicht einmal ihren angestauten Tränen freien Lauf zu lassen, geschweige denn zu atmen, wagte sie, als er ihr den Dolch an die Wange hielt. Unendlich langsam und vor allem umständlich, versuchte sie, sich aus dieser Stellung hinzulegen. Vorsichtig tasteten die Hände vor, folgte ihr Körper nach, bis sie auf dem Bauch lag. Ein wenig zögerte sie noch. Wenn sie ihm ihre Hände auf dem Rücken preisgab, war es vorbei mit jeglicher Gegenwehr und damit einer möglichen Chance auf eine Flucht.

    Den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, riss sie der Ruck so kraftvoll nach hinten, dass ihr war, als würden sämtliche Haare ausgerissen. Seine Umklammerung nahm ihr einen Sekundenbruchteil die Luft. Neriman keuchte schwer, kam auf ihm zu liegen. Trotzdem ließ er ihr keine Verschnaufpause, zog sie noch fester, drückte seine Wange an ihre. Sie konnte ihn fühlen, riechen, ihr Herz schlug wild, seine Stimme klang zornig. Es wurde klar, von ihm war kein Mitleid zu erwarten. Das Ziehen ihrer Haare trieb erneut Tränen in ihre Augen. Die Steine hatten ebenfalls ihre Spuren hinterlassen, ein aufgeschlagenes Knie, eine zerrissene Hose. Heftig atmend versuchte sie, die geschenkten Sekunden zu nutzen, sich zu konzentrieren, nach einem Ausweg zu suchen. Fast unmöglich in ihrer Lage. Er zischte es ihr ins Ohr, was er wollte. Langsam aufstehen - Neriman fiel es schwer, sich aufzurichten, nach hinten gezogen und festgehalten. Es gelang schließlich mit Mühe, sie stand wieder auf ihren Füßen, die Knie brannten, ihr ganzer Körper schmerzte. Er hielt sie noch immer viel zu fest, als dass sie einen erneuten Versuch wagen konnte. Wenn er nur nicht ihren Dolch gefunden hätte, das wäre DIE Gelegenheit gewesen.

    Er drückte sie auf die Knie - hinsetzen. Neriman wagte kaum zu atmen, solange der kalte Stahl ihren Hals berührte. Jede noch so kleine, unbedachte Bewegung und er zog sich mühelos durch ihre Haut, hinterließ eine weitere, sanft schimmernde Wunde. Als er schließlich die Klinge von ihr nahm, sackte sie unwillkürlich in sich zusammen, atmete wieder frei durch. Für einen Moment, dann wieder der Griff in ihr Haar und der Ruck, der sie nach hinten zog. Ein Schrei, nicht nur vor Schmerz, vor allem aus Verzweiflung, blieb ihr im wahrsten Sinne des Wortes in der Kehle stecken. Kein Laut, nur das Rascheln ihres Kleides durchtrennte die nächtliche Stille. Sie spürte seine widerlichen Hände auf ihrem Körper, an Stellen, die nie ein Mann hätte berühren dürfen. Ein Einziger vielleicht, der, der sie zur Frau nehmen würde. Vielleicht war es aber auch das letzte und einzige Mal, dass ein Mann sie so berühren würde, denn vielleicht waren das die letzten Stunden ihres jungen Lebens.


    Der Dolch - ihre letzte Hoffnung, den durfte er nicht bekommen. Neriman wandt sich in seinem Griff, versuchte, seine Hand, den Dolch zu greifen. Aussichtslos, schon zog er noch fester an ihren Haaren, dass sie schmerzerfüllt zu ihm aufsehen musste. Hilflos ließ sie die restliche Durchsuchung über sich ergehen. Sehr gründlich war er nicht, fand nur den Beutel mit den Steinchen. Wertvoll für sie, sicher absolut wertlos für ihn. Noch einmal machte sie einen schwachen Versuch, ihm die Beute zu entreißen. Er war darauf vorbereitet, steckte ungerührt alles ein.


    Wer bist du? Seine Frage klang wie Hohn. Was würde ihr Name ändern? Und wie sollte sie ihm sagen, wer sie war? Die einzige Möglichkeit waren die Steinchen, und die hatte er. Neriman versuchte, ihm mit den Händen etwas mitzuteilen. Sinnlos, ihn interessierte weder die Antwort, noch, was sie tat. Mit einem Ruck zog er sie wieder hoch, stieß sie in eine Ecke. Ein abschätzender Blick zu dem, das einmal die Türe war, der Kerl setzte sich unweit davon auf einen Vorsprung, herrschte er sie an. Zieh dich aus! Ausziehen? Hier? Vor ihm? Entgeistert starrte sie ihn an. Wollte er sich erst an ihrer Angst weiden? Sie erniedrigen, bevor er...


    Für einen Moment stahl sich Massa in ihre Gedanken, seine Bitte, in die Wüste zurückzukehren. Was wußte er denn schon? Was wußte er über ihr Leben, ihre Hoffnungen, ihre Träume - ihren Schmerz. Unzählige Tränen sammelten sich, liefen über Wangen und Hals, verschleierten den Blick. Auch, wenn der schmale Mond nur wenig Licht spendete, lieber würde sie sterben, als sich vor diesem Fremden auszuziehen. Alle Gedanken ausgeschaltet, rannte sie deshalb los, dachte weder an die Aussichtslosigkeit ihrer Flucht, noch an die Konsequenzen. Sie lief einfach nur, rannte auf den Ausgang zu, übersah dabei einen der herumliegenden Steine, stürzte, schlug der Länge nach auf den Boden, rappelte sich wieder hoch und versuchte, schnellstmöglich den rettenden Türrahmen zu erreichen.

    Ihr Rücken bog sich unter dem Druck und die Klinge an ihrem Hals raubte ihr für einen Moment den Atem. Die Knie waren im Begriff, nachzugeben und vor ihrem Auge tauchten Bilder auf, die sie schon längst vergessen glaubte, und die sie noch weniger sehen wollte. Keine Zeit über irgendetwas nachzudenken, sein Flüstern war unmissverständlich und vertrieb sämtliche Gedanken wieder, bis auf einen - den Dolch an ihrer Kehle. Ein Fehler und sie war tot.


    Neriman ließ sich widerstandslos ins Innere der Ruine ziehen. Hoffnung, dass irgendjemand vorbeikommen, sie sehen und retten würde, hatte sie keine. Es war Nacht, es war dunkel und es war abgelegen. Selbst der Dolch in ihrem Stiefel kam ihr vor, als wäre er so weit entfernt wie die Wüste. Bitte, bitte, tu mir nichts... hätte sie zu gerne gesagt, oder gezeigt. Die Steinchen mit den Buchstaben und Zeichen, die sie ebenfalls bei sich trug, waren ihr in dieser Situation keine Hilfe. Neriman stieg über herumliegende Steine. Ein kurzes Stolpern und ein feiner, rot schimmernder Schnitt zog sich über ihre Haut. Kein Laut kam über ihre Lippen. Wie auch, sie war stumm. Das konnte der Kerl natürlich nicht wissen. Im Innern blieb ihr schließlich nichts, als zu warten, was der Mann von ihr wollte.

    Nur mit Hose und einem leichten Überkleid aus heller Seide saß Neriman auf den Ruinen eines verlassenen Hauses am Rande des Viertels, die Beine angezogen, mit den Händen umschlungen, das Kinn auf die Knie gelegt. Ein sanfter Luftzug spielte mit ihren langen, dunklen Haaren, die auf den Schultern von ihrem heruntergezogenen Tuch gehalten wurden. Ihr Blick ging zu den Sternen. Der Mond stand als schmale Sichel am Himmel und spendete kaum Licht, trotzdem war es nicht wirklich finster. Im Vergleich dazu war die Dunkelheit der Wüste undurchdringlicher, der Sternenhimmel klarer, die Nacht schwärzer. Vielleicht war es aber auch nur die Erinnerung, die alles zu einer vollkommenen Einheit verband.


    Für Neriman stand fest, sie wollte hier weg, zurück zu ihrer Familie, ihrer vertrauten Umgebung, ihrem alten Leben. Solange sie auch hier war, diese Stadt würde niemals ihre Heimat werden. Die restliche Gruppe sah das anders. Ihnen ging es hier besser, die meisten fanden Arbeit, Freunde. Sogar ihre Cousine knüpfte zarte Bande zu einem ausländischen Händler. Kaum vorstellbar, dass jemand sich ihr widersetzen konnte, ohne von ihr davongejagt zu werden. Neriman schmunzelte bei dem Gedanken, hing aber bald wieder ihren eigenen Gedanken nach. Für sie gab es hier nichts mehr. Alle Hoffnungen zerschlagen, davongesegelt, in Luft aufgelöst. Der neue Glaube war nichts für sie. Wie konnte auch ein Gott, der selbst seinen eigenen Sohn unsäglich leiden ließ, die Güte besitzen, ihnen zu helfen. Gut, vielleicht half er durch die Hand des Mannes, der ihr die kleinen Steinchen in liebevoller Kleinarbeit fertigte, oder Thabit die Krücken, auf denen er selbständig in ein neues Leben gehen konnte. Mehr Hilfe bekamen sie nicht. Wie sollte ein Gott alleine das auch alles schaffen.


    Ein Geräusch. Neriman zuckte erschrocken zusammen, rutschte von der Mauer und duckte sich hinter den Steinen. In Gedanken versunken, war sie unaufmerksam geworden. Die Gefahren, die hier lauerten, waren um einiges vielfacher als in der Wüste. Dort waren es nur die Stämme der Blemmyer, vor denen sie sich in acht nehmen mußte, oder wilde Tiere. Das kannte sie. Hier konnte ihr jeder gefährlich werden, und das zu jeder Zeit. Angestrengt horchte sie in die Dunkelheit. Ihr Herz raste, das Blut pochte in den Ohren. Schritte, die näher kamen. Ihre zitternden Finger tasteten zu dem Dolch in ihrem Stiefel. Neriman hielt den Atem an...


    Stimmengemurmel - nur ein Liebespaar. Erleichtert richtete sie sich wieder auf, als die beiden um die nächste Ecke verschwanden. Nur langsam beruhigte sich ihr Herzschlag. Sie sollte vorsichtiger sein, und vor allem sollte sie allmählich zurück, bevor ihr Fehlen bemerkt wurde. Außerdem musste sie zusehen, ihre Reisekasse an einen sicheren Ort zu bekommen. Unter ihrem Kleid verborgen trug sie nämlich den Beutel mit dem Gegenwert ihres Schmuckes, den sie wenige Stunden zuvor versetzt hatte. Nur zwei Dinge wurden verschont: ihr Amulett und der Ring von Massa, den sie um den Hals trug. SEIN Ring - vielleicht der größte Schatz, den sie jemals besitzen würde. Ein Schatz, mit einer immer noch schmerzenden Erinnerung.


    Es half nichts, sie konnte die Vergangenheit nicht zurückholen, nur nach vorne sehen. Und vorne, da war ihre Familie. Djadi wußte von ihren Plänen und wollte sie nicht alleine reisen lassen. Vor ein paar Tagen fand er tatsächlich eine Gruppe Händler, der sie sich anschließen konnte. Sie würde zwar nicht so schnell vorwärts kommen, aber um einiges sicherer. Djadi, der sie mittlerweile kannte - und sicher auch von ihren nächtlichen Ausflügen wußte - nahm ihr außerdem das Versprechen ab, die Gruppe nicht zu verlassen, bevor sie in ihrem Dorf ankamen. Nur widerwillig hatte sie zugestimmt. Ohne das wäre sie tatsächlich im ersten Ort, den sie erreichen würden, auf eigene Faust weitergezogen. Und um ihm zu zeigen, dass er sich auf sie verlassen konnte, mußte sie schleunigst ins Haus des Paulus zurück. Noch ein letzter Blick auf den Sternenhimmel, dann wandt sie sich zum Gehen.

    Zuallererst wünsche ich allen ein
    gesundes, glückliches Jahr 2012!!


    Und nun zu meinem eigentlichen Anliegen :)


    Es wäre schön, wenn ich die Personen aus meinem Umfeld nicht selbst spielen müsste. Das ist etwas langweilig, denn ich weiß immer schon vorher, wie sie reagieren.
    Falls der ein oder andere Interesse hätte, ich würde mich freuen.


    Und weil Friede, Freude, Eierkuchen zwar schön ist, das Leben aber nicht nur daraus besteht, suche ich auch das Böse 8)


    Bei Interesse, Antwort unter Chiffre .... na, ihr wißt schon ;)

    Die Geste glich einer Drohung, Neriman hielt erschrocken die Luft an. Sie war sicher, er würde keine Sekunde zögern, die Waffe zu benutzen. Djadi wich ebenfalls keinen Zentimeter zurück, straffte seinen Oberkörper, hielt dem Blick stand. Er selbst war unbewaffnet, ihm blieben im Ernstfall nur die Fäuste. Aus der Menge erhob sich nun lautes Gemurmel. Nerimans Blick war gebannt auf die beiden Kontrahenten gerichtet. Wären sie in der Wüste, sie wäre dazwischengegangen, hier konnte sie Situation nicht einschätzen. Massa hatte Recht, Alexandria war nichts für sie, sie hätte einfach bei ihrem Stamm bleiben sollen, in der Wüste. Dafür war es jetzt zu spät. Jeden Moment konnte einer der beiden den ersten Schritt tun.


    Fast schmerzlich zogen sich die Sekunden, fühlten sich an wie Minuten. Nerimann war gerade im Begriff, die Augen zu schließen, da erhob sich eine Stimme, ein Name wurde gerufen. Der vermeintliche Angreifer zog sich nach einem kurzen Blickkontakt zurück, ein anderer Mann trat aus dessen Schatten. Humpelnd, auf einen Stock gestützt kam er näher. Nicht drohend, eher freundlich. Neriman erkannte das Gesicht sofort. Es war der, den sie in ihrer Wut fast umgerannt hätte. In seiner Hand lag die verlorene Kette. "Sie sagt Danke." meinte die Cousine beiläufig, als Neriman mit einer entsprechenden Geste nach dem Schmuckstück griff. Es kam Kinah dabei nicht in den Sinn, irgendetwas zu erklären, als ihre nächste Schimpftirade den neu Dazugekommenen traf. "Ich glaub das einfach nicht. Nur wegen einer verlorenen Kette schickst du diesen.. diesen... dein elendes Schoßhündchen los? Ich dachte, mein Herz bleibt stehen. Sind wir hier denn unter Wilden?" Das Gezeter entlockte Djadi nur ein Schmunzeln. Er kannte sie und ignorierte die weiteren Worte. Auch die Gruppe von Schaulustigen löste sich murrend auf, nachdem klar wurde, dass es nichts zu sehen gab. Etwas Spannung und Abwechslung, das wäre was gewesen, aber doch kein zeterndes Weib. Neriman zog Kinah zu sich und schenkte dabei dem Fremden ein entschuldigendes Lächeln, sprach halb zu ihm, halb zu ihrer Cousine mit ihren Händen. "Sie möchte sich entschuldigen. Sie sagt, es täte ihr leid, dass sie dich vorhin umgerannt hat." Man sah Kinah ihren Unmut an, diese Entschuldigung auszusprechen. Mehr Freude bereitete es ihr, diesem Aco einen mehr als tadelnden Blick zuzuwerfen. So ging man schließlich nicht mit unschuldigen Bürgern um. "Sie kann nicht sprechen, deshalb drückt sie sich mit ihren Händen aus. " Es war Djadi, der den beiden Herren die sicher ungewöhnliche Situation erklärte. Da er aber immer noch nicht wußte, weshalb der Größere der beiden hinter Neriman herwar, blieb er weiter misstrauisch.

    Ein Korb, der zu Boden fiel, ein markerschütternder Schrei, Menschen, die sich erschrocken umdrehten. Auch Neriman, denn nur einen Wimpernschlag später rannte Kinah, ihre Cousine, mit geballten Fäusten und wüsten Beschimpfungen an ihr vorbei auf einen Kerl zu, der soeben die Hände nach ihr ausstreckte. Ein Hühne von Mann, dessen Anblick Neriman augenblicklich zurückweichen ließ. Ihr lautloser Schrei verhallte ungehört unter dem Tuch, das nur ihre großen, überraschten Augen freiließ. Kinahs Gezeter aber alarmierte die Männer, die mit ihnen unterwegs waren. Schnell waren sie zur Stelle, zwei von ihnen stellten sich schützend vor Neriman und drängten so den vermeintlichen Angreifer zurück, einer packte ihre Cousine von hinten an den Armen und versuchte, ihr Einhalt zu gebieten. Es gelang nur bedingt, man hätte ihr auch noch den Mund zuhalten müssen. Zappelnd und fluchend keifte sie weiter vor sich hin. Unterdessen schob sich auch Djadi durch die kleine Ansammlung von Schaulustigen, die sich mittlerweile um die Gruppe gebildet hatte. Allein sein besonnenes und entschlossenes Auftreten sorgte gewöhnlich für Ruhe. Kinah hielt das nicht zurück, erst, als er dem Fremden gegenüber stand, gab sie Ruhe. Djadi musterte den Mann abschätzig. In seinen Augen blitzte Argwohn, drohend erhob er die Stimme. "Ich rate dir, rühre sie nicht an! Was willst du von ihr?" Er stand mit seinem Gegenüber auf augenhöhe, groß, muskulös, was allerdings unter den weiten Kleider nur zu erahnen war. Eine Entführung inmitten dieser Menschenmassen? Unvorstellbar, aber welchen Grund sollte es sonst dafür geben. Unzählige Augen waren auf die Beiden gerichtet. Im Hintergrund balgten sich Kinder völlig ungerührt um kullernde Äpfel und verstreute Trauben. Sogar ein Laib Brot fand seinen Abnehmer. Niemand kümmerte sich darum, viel zu aufregend war das Schauspiel vor ihrer Nase. Neriman selbst war, wie so viele, neugierig auf die Antwort.

    Die kleine Gruppe fiel unter den bunten, fremdländischen Besuchern kaum auf. Allein Thabit, der ohne Hilfe nur mühsam laufen konnte, erregte bei dem ein oder anderen für einen kurzen Moment Aufmerksamkeit. Ein Bein war seltsam verdreht, das Knie steif angewinkelt und seine Hüfte schmerzte bei jedem Schritt. Aufrecht gehen war ihm deshalb von alleine garnicht möglich. Seit seiner Kindheit war er auf Hilfe angewiesen. Paulus, bei dem sie hier in Alexandria wohnten, hatte irgendwann eine wunderbare Idee. Aus einem Stück Holz schnitzte er ihm so etwas wie eine Krücke, auf die er sich stützen konnte. Mit viel Übung in den letzten Wochen, war er nun soweit, dass er sich alleine über den Markt bewegen konnte. Das war aber auch schon alles, was dieser Paulus für ihn tun konnte. Und für sie? Ein Brettchen und kleine Würfelchen mit Buchstaben darauf. So konnte sie selbst die Worte finden, war nicht auf jemanden angewiesen, der für sie sprach. Ein Glück, dass sie schreiben und lesen konnte. Aber Heilung... das fanden sie beide nicht. Wie sollte auch ein Mann alleine schaffen, was viele in der Vergangenheit nicht vollbrachten? Ihre Hoffnung auf ein unbeschwertes Leben endete damit hier in Alexandria. Und genau wie die Hoffnung, wieder sprechen zu können, begrub sie an diesem Ort ihre restlichen Träume. Was ihr blieb war ein Tuch, ein Ring und die Erinnerung. Und vielleicht eine Zukunft. Was sollte sie also noch hier? Die Menschen, bei denen sie untergekommen waren, führten ein beeindruckendes Leben mit ihrem Glauben. Aber an nur einen Gott konnte sie nicht glauben, egal, wie anrührend die Geschichten waren. Nein, Neriman wollte nur noch nach Hause. Sie sehnte sich nach ihrem Leben in der Wüste, ihrem Vater und noch mehr nach ihrem Bruder.


    Das war aber nicht ihre Entscheidung. Also folgte sie den anderen zum Markt, um, wie immer, einmal die Woche die nötigen Lebensmittel einzukaufen. Für Neriman eine willkommene Abwechslung. Hier gab es soviel Schönes, auch Nutzloses. Am schlimmsten aber waren die Sklaven - Menschen, gehandelt wie Vieh. Wieder musste sie mit ansehen, wie man einen nach dem anderen vorführte. Männer, Frauen ...schrecklich anzusehen war es, wenn Kinder verkauft wurden. Neriman biss sich auf die Zunge, bis sie Blut schmeckte, fühlte mit zitternden Fingern nach ihren Dolch unter dem dünnen Stoff. . Reiß dich zusammen - nicht jetzt! Halb blind vor Wut wandt sie sich ab und hastete davon. Ein, zwei Schritte. Den Mann, der ihr dabei im Weg stand, sah sie erst, als sie unsanft gegen ihn stieß. Mit einer Mischung aus Wut und erschrockenem Bedauern sah sie an ihm hoch, stolperte dabei rückwärts. Eine Entschuldigung wäre angebracht. Hilfesuchend blickte sie um sich. Ihre Gruppe stand ein paar Stände weiter, niemand, der sich umsah. Wie sollte sie dem Mann nur klarmachen, dass sie nicht sprechen konnte und es ihr leidtat? Ratlos zuckte sie mit den Schultern, formte mit den Händen eine entschuldigende Geste und eilte davon. In ihrer Aufregung entging ihr, was fast schon zu erwarten war. Die kleine Muschelkette, ein Geschenk für die kleine Rachel, war beim Zusamenstoß aus ihrem übervollen Korb gerutscht und hätte beinahe unter ihrem Fuß ein Ende gefunden.

    Neriman erwiderte kurz ihr Lächeln und wandt sich schließlich wieder den Kämmen zu, die nun ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zogen. Endlich schien auch dem Händler aufzufallen, dass sie damit so ihre Schwierigkeiten hatte. Als sie nämlich ihr Tuch ein wenig nach hinten schob und versuchte, sich mit dem einen die Haare zu kämmen, kam er herum und nahm ihn ihr lächelnd aus der Hand. "Darf ich?" Dann schob er ihr eine Strähne beiseite und steckte sie mit dem Kamm fest. Neriman tastete vorsichtig danach. Fest - dafür war er also gedacht. Eine leichte Röte zeigte sich auf ihren Wangen. Wie peinlich, dass sie sich so wenig mit diesen Dingen auskannte. In der Wüste gab es wenig Gelegenheit, sich hübsch zu machen und wenn gefeiert wurde, dann hatten sie Bänder und Perlen, ähnlich denen, die es auch hier zu kaufen gab. "Wunderbar! Als wäre er nur für dich gemacht und hätte bis heute darauf gewartet, dieses wundervolle Haar zu schmücken! Der Preis ist dagegen eine Verschwendung!" Dramatische Gesten umrahmten seine Ansprache und als der Preis genannt wurde, blieb ihr der Mund offen. Vorsichtig nahm sie das Schmuckstück aus ihrem Haar. Der Händler beeilte sich, ein neues Angebot zu mache, er fürchtete wohl, sie würde einfach gehen. Umso erstaunter war Neriman, dass er den Preis fast halbierte. Das entlockte ihr nun doch ein belustigtes Lächeln. Diese Kämme gefielen ihr, aber sie wollte ihr Geld eigentlich nicht verschwenden. Nicht dafür. Während sie den Kamm unschlüssig in der Hand hielt, verschwand der Mann mit einer kurzen Entschuldigung aus ihrem Blickfeld. Neriman drehte sich um. Zufrieden stellte sie fest, dass die Frau neben ihr tatsächlich die blauen Bänder bezahlte. Neriman konnte sich gut vorstellen, wie hübsch sie damit aussehen würde. Den Dank konnte sie jedoch nur mit einem Lächeln erwidern. Kein Ton kam über ihre Lippen. Wie auch, sie war ja stumm. Das war vielleicht auch gut so, denn sonst hätte sie sie sicher auf den Diebstahl angesprochen. So wanderte nur ihr Blick an die Stelle, an der sie den Beutel vermutete und sie wunderte sich, dass Diebinnen so nett sein konnten.