Beiträge von Neriman Seba

    Nach vorne gebeugt schob sich Neriman über die Treppe ins Obergeschoß. Bei der unsanften Fortbewegung blieb keine Gelegenheit, die Tafel in ihrer Tasche zu verstauen, allenfalls sie etwas ungeschickt vor den Bauch zu halten. Oben angekommen, sah Neriman sich nach einem Fluchtweg um, doch es waren nur Türen und Vorhänge, von denen sie nicht wußte, was sich dahinter verbarg. Vorbei an zwei Männern, die sie im Vorübergehen kurz musterte, standen sie schließlich vor einer Tür, die ihr "Begleiter" ansteuerte.


    Neriman versuchte, sich seinem Griff zu entziehen, um ihm zu zeigen, dass sie nicht dorthinein wollte. Dabei rutschte der reich verzierte Griffel ihrer Tafel aus seiner Halterung und rollte unbemerkt unter eine Truhe, die im Gang an einer Wand stand. Garicus ließ ihr unterdessen keine Chance, zu entkommen, hielt sie weiter fest und wartete auf eine Antwort. Nach einem ihr unbekannten Wort, dass durch die geschlossene Tür drang, öffnete ihr "Begleiter" und schob sie unsanft in den Raum. Dort saß ein Mann, offensichtlich der Besitzer dieses Gasthauses oder zumindest der Chef dessen, der nun endlich seine Hand von ihrem Nacken nahm. Reflexartig rieb sie mit der freien Hand über die Stelle und beobachtete dabei die beiden Männer. Etwas seltsam muteten die hilflosen Versuche an, mit denen Garicus ihr etwas mitteilen wollte. Neriman meinte zu verstehen, dass es um die Tafel ging und sie zeigen sollte, was darauf zu sehen war. Entschlossen trat sie an den Tisch und drehte das Bild so, dass Askan es richtig sehen konnte. Ein Schiff, Wellen - dazu das Wort Ostia. In ihren Augen eine stumme Bitte um Verstehen.


    Trotz ihrer Nervosität blieb sie ruhig, wartete geduldig auf eine Reaktion und lauschte. Aus dem unteren Teil des Hauses war nichts außergewöhnliches zu hören. Neriman fühlte sich für einen Moment etwas sicherer. Um nicht allzuviel Aufsehen zu erregen, vermied sie deshalb, von den Männern zu erzählen, die scheinbar hinter ihr her waren.



    Sim-Off:

    und bei mir dann die Arbeit, tut mir leid

    Es war zum Verzweifeln. Er musste doch wenigstens verstehen, dass sie von hier weg wollte. Neriman wollte sich losreißen, sein fester Griff aber ließ das nicht zu. Endlich sprach er wieder, verstehen konnte sie auch diese Worte nicht, nur ein wenig seine Zeichen. Sein Tonfall allerdings war deutlich, den kannte sie nur zu gut. Weil sie nicht sprechen konnte, dachte man, sie würde nicht verstehen. Zwar war es in diesem Fall anders, gekränkt war sie trotzdem - und zeigte ihm das mit einem deutlichen Blick. Ein anderer Ort, eine andere Situation, sie hätte es ihm noch deutlicher klargemacht.


    Ihre Wut legte sich, als er endlich in Bewegung kam und sie von dieser Tür wegschob. Es war nicht die Richtung, in die sie ursprünglich wollte, jedoch besser als hier stehen zu bleiben. Neriman beschwor sämtliche Götter, ihre Verfolger noch etwas aufzuhalten. Trotzdem wurde ihr mit einem mal ein wenig mulmig. Es war nicht klar, wohin der Kerl die bringen wollte, was er überhaupt von ihr wollte. Neriman wehrte sich gegen den Druck seiner Hand. Sie wußte leider nur zu gut, was Männer von Frauen wollten ...

    Verstand er denn nicht? Es war doch die Schrift der Römer, das musste er doch... Bevor Neriman noch klar wurde, dass er nicht lesen konnte, packte er sie an der Schulter und zwang sie damit in die Knie. Unwillkürlich griff sie nach dem Dolch in ihrem Stiefel, kam aber rechtzeitig zur Besinnung. Mit seinen starken Armen wäre sie schneller tot, als er einen Kratzer abbekommen würde. Statt dessen deutete sie erneut in die Richtung, in die sie laufen wollte und sah ihn mit flehendem Blick an. Das musste er doch verstehen. Ihre Panik steigerte sich immer mehr. Sie musste dringend hier weg. Wie sollte sie ihm das nur klarmachen? Es blieb einfach keine Zeit mehr, das sollte ihm ihr gehetzter Blick zur Tür eigentlich zeigen.

    Erschrocken starrte Neriman den Mann an. Die Sprache - hätte sie sie nur erst gelernt. Ihr Plan war nicht ausgereift und viel zu überstürzt hatte sie sich entschlossen. Neriman starrte diesen überaus kräftigen Kerl weiter an, während sie mit zitternden Fingern und immer noch wild rasendem Puls nach ihrer Tafel kramte und zerrte.


    Endlich hielt sie sie in Händen und schlug auf, was dort noch immer geschrieben stand - Ostia. Blieb immer noch das Problem, dass drei Männer hinter ihr her waren und sicher ebenso bald durch diese Tür traten. Neriman deutete in eine Richtung, die ihr aussichtsreich erschien. Ob es eine Küche war, oder ein Hinterausgang, vielleicht auch ein Gang, der zu Unterkünften führte. Einerlei, sie musste nur einfach hier weg und schickte sich an, dort hin zu laufen. Daran wollte sie sich auch von diesem Türwächter nicht hindern lassen.

    Ihre Augen gewöhnten sich nur langsam an die gegensätzlichen Lichtverhältnisse. Welche Art Haus sie soeben betreten hatte, war im ersten Moment nicht klar. Es sah nach einer Gaststube aus. Nur der Geruch verwirrte. Sie musste erst wieder zu Atem kommen.


    Neriman entging nicht, dass es sich um ein etwas nobleres Haus handelte, während ihr Blick den erhofften Hinterausgang suchte. Es waren auffallend hübsche Damen anwesend. Und die Männer... So wirklich wollte sich der entscheidende Gedanke nicht greifen lassen. Vielmehr suchte sie eilig eine Möglichkeit, sich zu verstecken. Sollte sie tatsächlich verfolgt werden, blieb ihr keine Zeit.

    Es dauerte eine Weile, bis ihr Herz, das vor Aufregung - oder mehr - schneller schlug, seinen ursprünglichen Rhythmus wiederfand. Was blieb war ein Schmerz, der sich nicht so leicht vertreiben ließ. Sie hätte zu ihm gehen sollen. Nun war es zu spät. Neriman war alleine auf sich gestellt und musste dringend jemanden finden, der sie nach Ostia brachte. Etwas unauffälligere Kleidung wäre von Vorteil, entblößte Beine konnte sie sich aber nicht vorstellen. Es nutzte also auch nichts, etwas zu stehlen.


    Neriman blieb, wie sie war, fragte ein paar der Händler mit Hilfe ihrer Tafel, doch noch immer erfolglos. Das dauerte viel zu lange. Herodorus und seine Gesellen waren sicher schon auf der Suche nach ihr. Immer wieder blickte sie sich um, suchte die Menschenmenge nach bekannten Gesichtern ab. Ergebnislos. Das verschaffte ihr etwas mehr Zeit. Trotzdem sank ihre Hoffnung immer weiter.


    Irgendwann fielen ihr diese dunklen Gesellen auf. Vielleicht Zufall. Sie kannte keinen der drei. Neriman änderte die Richtung, lief im Kreis, ging schneller, dann langsamer. Panik stieg auf. Sie war nicht geflohen, um anderswo erneut entführt zu werden. Noch wußte Neriman nicht, für wen die Männer arbeiteten. Hektisch suchte sie nach einem Ausweg. Als sie meinte, ein wenig Vorsprung zu haben, flüchtete sie in eine der Gassen, die vom Markt weg führten. Eine Garküche oder Gasthaus, etwas in der Art musste sich doch hier finden. Vielleicht die Möglichkeit, durch einen Hinterausgang zu entkommen. Völlig abgehetzt stürmte Neriman durch die nächstbeste Tür und schloss sie eilig hinter sich.

    Resigniert ließ Neriman die Tafel sinken. Ein Schiff, Wellen, darunter ein Wort in ihrer Sprache - Hafen. Immer wieder hielt sie die Zeichnung vor unbekannte Gesichter. Immer wieder wurde sie enttäuscht. Jedes Kopfschütteln nahm etwas von der Hoffnung, jedes Schulterzucken ein Stück Zuversicht. Am Ende blieb Verzweiflung. Noch ein letzter Versuch und sie hatte zumindest etwas Glück. Der Junge verstand ihre stumme Frage, vermutlich sogar ihre Sprache. Ganz sicher wußte sie es, als er ihr antwortete. Vor Glück machte ihr Herz einen Sprung, bis es erneut unbarmherzig an seinen Platz gedrückt wurde. Kein Hafen, zumindest nicht in dieser Stadt. Zwei Tagesmärsche, es sei denn, sie fände eine Mitfahrgelegenheit. Ob dann allerdings die Münzen genug waren, die Neriman noch übrig hatte? Wenn ihr nur mehr Zeit bliebe.


    Ein Blick in eine der dunklen Gassen ließ sie erstarren. Gorgidas. Einer der Helfer Herodorus. Blitzschnell versteckte sie sich hinter der Hauswand, in der Hoffnung, er hätte sie nicht entdeckt. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Noch einmal überwand sie sich, lugte um die Ecke - und atmete erleichtert aus. Gorgidas entschied sich für eine der Spelunken, in die kein vernünftiger Mensch einen Fuß setzen würde. Glück für sie, an die armen Mädchen dort wollte sie gar nicht denken.


    Es gab etwas anderes, um das sie sich kümmern musste. Einen Wagen finden, um nach Ostia zu gelangen. Es gab sicher einen Händler auf diesem Markt, der genau diese Richtung einschlagen würde, sie musste ihn nur finden. Den Namen der Stadt in der Sprache der Römer hatte der Junge noch auf ihrer Tafel hinterlassen. Damit und mit dem "gefundenen" Geld sollte sich eine Möglichkeit finden. Auf ihrer Suche blieb ihr Herz erneut fast stehen. Allein seine Stimme hätte sie blind unter allen Besuchern erkannt. Sofort ging ihre Hand an die Stelle, an der sich sein Ring befinden sollte. Er war vertieft in die Auslage eines Händlers. Eine kleine Götterstatue, das hatte Neriman mittlerweile gelernt. Überall auf den Märkten in diesem Land wurden sie verkauft. Ebenso wie in ihrem.


    Noch widerstand Neriman dem Drang, zu ihm zu laufen. Er könnte ihr helfen. Ein Schritt in seine Richtung. Oder ihr erneut zeigen, wie wenig sie für ihn bedeutete. Das Herz lag im Kampf mit ihrem Verstand. Der Ring war weg. Wie sollte sie ihm das erklären? Ein Schritt zurück. Sie konnte nicht zu ihm. Und sie wollte nicht zurück zu Herodorus. Neriman drehte sich um, ging in die gänzlich verkehrte Richtung. Wurde schneller und lief einfach nur blind davon.

    Für alle, die im Moment auf mich warten.


    RL-bedingt fehlt mir gerade die Zeit, weiterzuschreiben. Dieser Zustand wird möglicherweise noch ein bis zwei Wochen andauern.


    Dann wird Neriman ihren Weg aber auf alle Fälle fortsetzen.


    (Ich bin selbst schon ganz neugierig ;) )

    Eine der ruhigeren Seitengassen, die an den Markt grenzten:
    An eine Hauswand gelehnt, rang Neriman nach Atem. Das Herz hämmerte wild, in den zitternden Händen ein überaschendes Geschenk - ein Wink des Schicksals? Im Laufe eines handfesten Streites hatte einer der beiden Männer seinen Geldbeutel an sie verloren, nicht ganz freiwillig. Während Neriman das Gerangel beobachtete, lag das Säckchen vor ihr auf dem Pflaster, einer stummen Aufforderung gleich. Neriman konnte nicht widerstehen. Ein Griff, ein kurzer Blick. Sie wurde entdeckt, konnte entkommen. Nun stand sie hier. Tausend Gedanken in ihrem Kopf. Mit einem tiefen Atemzug lehnte sie ihn gegen die Wand, schloss für einen Moment die Augen.


    Da war der Ring - und da waren die Münzen. Ihre Freiheit. Der Ring. Eine Erinnerung. Bis nach Alexandria war sie gereist, in der Hoffnung, ihn wiederzusehen. Die Hoffnung wurde erfüllt, doch er war wieder gegangen. Wie konnte sie es ihm verdenken? Ein Blick an sich hinunter, die Tunika, darunter die Hose, die Stiefel. Viel edler die Römerinnen mit ihren kunstvollen Frisuren, feinste Stoffe, teurer Schmuck. Neriman gehörte nicht hierher. Von ihm blieb alleine der Ring. Nicht mehr. Eine Erinnerung. Vergangenheit. Die Münzen könnten ihre Zukunft bedeuten. Eine Fahrkarte zurück nach Ägypten. Ihre Heimat. Ihre Familie. Neriman ballte die Faust über ihrem Herzen. Die Sehnsucht schmerzte. Mehr, als der Verlust? War dieser Ring ihr Leben wert? Der Kuss...


    Eine Träne bahnte sich ihren Weg, zog eine feuchte Spur über die Wange, trocknete im feinen Windhauch, der durch die Gasse striff. Neriman wußte, sie musste es versuchen. Entschlossen stieß sie sich von der Hauswand, durchquerte erneut den Markt. Ein unscheinbares Messer ihr erster Kauf. Unbeobachtet wanderte es in ihren Stiefel. Ihr nächstes Ziel der Hafen. Nur, in welcher Richtung lag der? Und dann war da eine noch größere Gefahr. Sie durfte weder Herodorus noch Hectamus in die Arme laufen. Neriman ging weiter, lief, um die Angst loszuwerden, ihr Plan könnte schneller ein Ende finden als ihr lieb war.

    Als würde irgendjemand glauben, dies wären ihre Brüder. Neriman zuckte nur mit den Schultern und folgte Herodorus. Wären die beiden ihr ähnlicher, wäre die Geschichte durchaus glaubhaft. Gespannt war sie, was Herodorus erzählen würde, weshalb sie in diese Stadt wollten. Je näher ihre kleine Gruppe dem Tor kam, desto weiter zog Neriman das Tuch in ihr Gesicht, bis nur noch die Augen zu sehen waren. Bei der Aufforderung des Wachhabenden blieb sie sofort stehen und wartete mit gesenktem Blick. Waffen hatte sie keine, die Antwort überließ sie Herodorus. Unterdessen musterte sie die Füße des Soldaten. Der Traum kam ihr wieder in den Sinn. Alle Legionäre trugen wohl diese Art von Schuhen.

    Ein Windhauch flog über die Dünen, trug kleine glitzernde Körnchen über aufgetürmte Sandberge, formte elegante Spitzen, grub weiche Täler. Der selbe Windhauch griff unter das Tuch, strich beruhigend durch die dunklen Strähnen, hob den seidenen Stoff, wie auf unsichtbaren Schwingen, lockte, forderte, zog sie hinaus - aus der Wüste, aus der Familie, aus ihrer Welt.


    Der Windhauch, er verflog, ließ das Tuch zurück, es sank zu Boden, sank wie sie - auf Knien griff sie danach. Dahinter auftauchende Männerfüße in gut sitzenden caligae. Ihr hoffnungsvoller Blick hob sich, wurde niedergedrückt. Hände, die nach ihr girffen, sie fortzogen. Fort von der Hoffnung, dem Tuch - von ihm. NEEEIIIIIN.....


    Neriman schlug verzweifelt um sich, trat mit den Beinen. Wir sind da, wach auf... Allmählich glitt sie in die Wirklichkeit zurück. Nur ein Traum. Langsam richtete sie sich auf, blinzelte in die Helligkeit des Tages. Das war also die Heimat dieser Römer. Neugierig ließ sie ihren Blick über die Landschaft wandern, lugte über die Schulter des Händlers, dann löste sie ihr Tuch, um es erneut ordentlich über die Haare zu breiten und festzubinden. Die Tunika, ihre Hose, alles war nach der langen Reise in besserem Zustand als ihr Gemüt. Noch immer lastete der Traum schwer auf ihrer Seele. Wenn nur ihr Bruder jetzt bei ihr wäre. Seufzend lehnte sie sich erneut an die Seitenwand des Wagens, umschlang die Beine mit den Armen und hing ihren Gedanken nach. Vielleicht war Rom eine Chance.

    Er war noch am Leben. Neriman dankte den Göttern und unterdrückte weiter ihre Übelkeit. Gut, dass sie die Tafel hatte, selbst, wenn sie sprechen könnte, im Moment hätte sie nicht gewußt, wie. Er hat mir nichts getan. Mir geht es schlecht. schrieb sie ihm auf und reichte ihm die Tafel. Den Wein hatte sie verschwiegen. Dass Hectamus ihr tatsächlich nichts angetan hatte, war ihr immer noch ein Rätsel. Er hätte leichtes Spiel gehabt, ihr Zustand ließ kaum Gegenwehr zu.


    Um darüber nachzudenken, war nicht der geeignete Zeitpunkt. Auch nicht, über Herodorus Frage. Trotzdem nahm sie die Tafel wieder aus seinen Händen, zog die Platte glatt und ritzte erneut eine Botschaft hinein. Was soll ich arbeiten? Vieh hüten? Trotzig reichte sie ihm die Tafel und lehnte sich erneut an die Wand in ihrem Rücken, holte tief Luft. In Rom würde es sicher keine Viehherden geben. Ob man mit kochen, waschen, nähen oder sticken Geld verdienen konnte? Immerhin konnte sie schreiben, das war offensichtlich. Dass auch Rechnen zu ihren Fähigkeiten zählte, musste niemand wissen. Sollte er sich doch etwas überlegen, sie wollte nur nach Hause zurück.


    Laut schnaufend drückte sie den Kopf gegen das Holz. Ihr war so schlecht, dass ihr die Tränen kamen, als sie sich zur Seite lehnte und erneut übergab. Danach war ihr alles egal. Sie rollte sich wieder auf der anderen Seite des Wagens zusammen und wollte nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Neriman schloß die Augen und wartete auf den erlösenden Schlaf.

    Wenn sie doch nur etwas sagen, ihm erklären könnte. Dafür war keine Zeit. Mit allerletzter Kraft warf sie sich nach vorne und so auf Herodorus Arm, dass die Klinge vom Hals des Ungeheuers rutschen musste. Der Kopf dröhnte, die Übelkeit kehrte wieder. Neriman hing zwischen den beiden und hielt sich die Hand vor den Mund. Tief durchatmen...


    Herodorus und Hectamus rückten immer mehr in den Hintergrund. Neriman rutschte an der Seitenwand entlang zu Boden, lehnte den Kopf dagegen, schloss die Augen und holte tief Luft. Einatmen - ausatmen. Bis in ihrem Inneren alles seinen rechten Platz wiederfand. Erst dann hob sich ihr Kopf und ihre Augen öffneten sich, suchten, zu ergründen, ob Herodorus von seinem Vorhaben abgekommen war.

    Neriman dachte, es würde nie ein Ende nehmen, doch irgendwann beruhigte sich ihr Magen und sie rollte sich zusammen wie zuvor. Die Hände, die sich von hinten gegen sie schoben, ignorierte sie wie die Tatsache, dass ihr Anblick und der ihres Umfeldes alles andere als angenehm war. In ihrem Kopf war kein Platz für Gedanken dieser Art. In ihrem Kopf war überhaupt kein Platz für Gedanken, nur Leere, ein gähnendes, dunkles Loch. Neriman verlor sich darin und fiel und fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf.


    Aus dieser Tiefe drangen Stimmen. Etwas zog sie heraus aus der Tiefe. Eine bekannte Stimme - Herodorus. Was hast du gemacht? Diese Frage stellte er ihr und Neriman schüttelte noch immer im Stroh liegend, den Kopf. Nichts, ich habe nichts gemacht. Stöhnend versuchte sie, sich aufzurichten, zu rechtfertigen. Der Druck, der sich hinter ihrer Stirn ausbreitete, zwang sie wieder hinunter. Bei einem erneuten Versuch, sich aufzurichten, presste sie die Hand gegen ihre Schädeldecke, in der Hoffnung, ihr Kopf würde nicht platzen. Blinzelnd öffnete sie die Augen. Sie saß auf der Ladefläche eines Wagens und die Stimme? Die kam von vorne. Schwankend zog sie sich an der Seitenwand hoch und schob sich in Richtung Kutschbock.


    Herodorus war dabei, Hectamus seine Klinge in den Hals zu drücken. Die Frage galt also gar nicht ihr, sie galt diesem Ungeheuer. Unter anderen Umständen hätte sie Herodorus noch ermuntert, ihm sein Leben zu nehmen. Diesmal allerdings rührte sich in ihrem Inneren Mitleid. Mit diesem Scheusal? Neriman tastete über ihren Körper. Die Kleidung war nicht zerrissen wie das letzte mal. Zwar fühlte sie sich abscheulich, daran war der Wein schuld, nicht Hectamus. Was sollte sie tun? Das Blut floss aus der Haut, als wäre es schon zu spät. Laut trat sie mit dem Fuß gegen die Seitenwand und hangelte sich daran festhaltend, weiter vorsichtig auf ihren wackeligen Beinen auf Herodorus zu.

    Erschüttert blickte Neriman in Richtung des Opfers seiner Unbeherrschtheit. Wieso tut er das? Ihr war klar, der arme Kerl wollte nur helfen, nun lag er selbst auf dem Boden und krümmte sich. Der Drang, ihm zu helfen, wurde von ihrer eigenen momentanen Unfähigkeit, sich weiter als ein paar Zentimeter vorwärts zu bewegen, unterbunden. Mit beiden Händen drückte sie gegen den Fußboden, die Taverne drehte sich immer schneller um sie herum und der Boden schwankte, dass sie selbst im Sitzen das Gefühl hatte, herunterzufallen. Bitte, bitte, mach, dass es aufhört. Selbst, als sie die Augen schloss und sämtliche Götter um Hilfe anflehte, änderte sich nichts.


    Als sie schließlich Hectamus starke Arme spürte, die sie vom Boden hoben, sträubte sie sich nicht länger und ließ sich einfach fallen. Schwer lag sie in seinen Armen, den Kopf an seine Schulter gelehnt, kurz davor, sich in das Reich der Träume zu verabschieden. Sie bekam nichts mehr mit, weder die Blicke der Leute, noch, wie Hectamus sich seinen Weg mit den Schultern "freischaufelte". Die Erde hatte endlich aufgehört, sich zu drehen, statt dessen schwirrte ihr der Kopf und das Schaukeln in seinen Armen trug nicht gerade dazu bei, die wachsende Übelkeit zu mildern, die langsam von ihrem Magen aufstieg. Im Gegenteil. Ihr war elendig schlecht.


    Nach einem schier endlosen Marsch legte Hectamus sie auf dem Wagen ab. Neriman blinzelte kurz, rollte sich im Stroh zusammen wie ein kleines Kind und schlief fast augenblicklich ein. Der Wagen ruckelte los und zog sie mit in einen unruhigen Schlaf. Die Hand hob sich hilfesuchend an ihren Hals und umschloss im Traum den Ring, der dort schon lange nicht mehr hing. Wie ein böses Omen legte sich diese Gewissheit auf ihre Seele und mit einem Mal schreckte sie hoch, um sich zu übergeben.

    Mit fahrigen Händen versuchte sie, die wilden Strähnen zu bändigen und unter das Tuch zu stecken, was solange hielt, bis sie die Finger wieder hervorzog. Noch ein zweiter, dritter Versuch, dann gab sie nach und hob resigniert den Becher an die Lippen, leckte gierig den letzten Tropfen Wein, der sich am Rand des umgedrehten Kruges sammelte, und sah erstaunt auf, als Hectamus sie zum Gehen aufforderte. Die dargebotenen Hände ignorierte sie wie alles an ihm und erhob sich wackelig von ihrem Stuhl. Neriman visierte die Tür an. Nach den ersten Schritten sackte das Blut aus ihrem Kopf und sammelte sich schwer in den Beinen. Das Innere der Taverne verschwamm zu einem unergründlichen Bild und wurde immer dunkler. Dieses Mal fiel sie nicht, wie damals in Alexandria, einfach um. Dieses Mal zog sie gedanklich eine gerade Linie bis zur Tür und setzte angestrengt einen Fuß vor den anderen. Dabei standen ihr genau diese Füße im Weg, dass sie ins Straucheln geriet und nach vorne fiel. Ihr Schrei erstarb tief in ihrer Kehle, mit weit aufgerissenen Augen und hektisch rudernden Armen suchte sie Halt, es gab keinen. Nur den im letzten Moment aufstützenden Händen verdankte sie es, dass sie sich bei dem Sturz nicht die Nase brach. Lediglich ein kleines Rinnsal Blut zog sich von ihrem rechten Nasenloch zu ihrer Oberlippe, zeichnete mit winzigen Tröpfchen seine Spuren in den staubigen Boden. Neriman wischte instinktiv mit dem Handrücken darüber und verteilte es bis über die rechte Wange, während sie sich in eine sitzende Position brachte. Erschrocken starrte sie auf die verschmierte Hand, hob sie mit wirrem Blick den neugierigen Blicken der anderen Gäste entgegen, als wollte sie sagen - Helft mir!!

    Der dritte Krug ließ sich nach den ersten beiden leichter leeren, denn der Geschmack war in eine Gewohnheit übergegangen, als hätte sie nie etwas anderes getrunken. Auf Nerimans Lippen lag inzwischen ein Grinsen, das sich dauerhaft auf ihrem Antlitz eingebrannt zu haben schien. Ihre Augen nahmen nur noch das wahr, was sich direkt vor ihr bewegte, und das war Hectamus, der noch einen vierten Krug orderte. Warm war ihr schon lange nicht mehr, eher heiß, und diese Hitze zeigte sich überdeutlich auf ihren glühenden Wangen. Das Tuch, das ihr Haar bedeckte, wurde von ihren Händen immer weiter gelüftet, dass einzelne, dunkle Strähnen ihr ungeordnet ins Gesicht hingen. Neriman machte sich nicht die Mühe, sie wieder ordentlich unter den Stoff zu stecken oder sie wenigstens aus dem Gesicht zu streichen. Viel zu schwer waren ihre Glieder und wäre sie gestanden, ihre Knie hätten sicher schon nachgegeben. Selbst Hectamus hatte seine Wirkung, ihr Angst einzuflösen, verloren. Immer noch grinsend stützte sie ihren Kopf auf den angewinkelten Arm. Nicht gerade damenhaft lümmelte sie ihm gegenüber und schob den leeren Becher von sich, als der Wirt den frisch gefüllten vor ihr abstellte. Es dauerte eine Weile, doch auch dann war dieser ebenfalls geleert.

    Der Wein rann schwer durch ihre Kehle, zog kribbelnd bis in die Zehenspitzen. Neriman war ihn nicht gewohnt, schon gar nicht unverdünnt. Nur langsam gönnte sie sich das Getränk, das sich wohlig warm in ihrem Körper ausbreitete. Hectamus schlang sein Essen ohne Anstand hinunter. Neriman, die mindestens ebenso hungrig war, zwang sich, nicht wie ein wildes Tier über den Puls herzufallen. Während sie noch mit Essen beschäftigt war, schüttete ihr Begleiter den Wein nur so in sich hinein. Täubchen - Neriman bedachte Hectamus mit einem tadelnden Blick, den er ebenso ignorierte wie ihren Vorsatz, den Wein langsam zu trinken. Ohne auf ihn zu achten, beendete sie ihr Mahl und seufzte innerlich vor Dankbarkeit, nach langer Zeit wieder ordentliches Essen in ihren Magen bekommen zu haben.


    Mittlerweile wurde ihr Platz von drei Krügen eingerahmt, die bis auf einen unberührt blieben. Ihr Gegenüber wurde unwirsch, als er das bemerkte. Trink jetzt... Neriman zuckte zusammen und nahm den ersten Krug, führte ihn zum Mund. Ein paar kleine Schlucke, dann war er geleert. Umgedreht hielt sie ihn vor Hectamus, um ihm zu zeigen, dass sie durchaus seiner Anweisung folgte. Das Problem war, dass sie zwei weitere Krüge vor sich stehen hatte. Neriman legte unschlüssig die Finger um den Zweiten, nippte ein paar mal. Der Erste zeigte bereits Wirkung. Ihre Wangen überzog eine zarte Röte, der Blick wurde glasig. Die Beine fühlten sich schwer an, dafür vertrieb eine ungewohnte Leichtigkeit allmählich die hässlichen Gedanken aus ihrem Kopf. Fast schon mit einem Lächeln auf den Lippen leerte sie ihren zweiten Krug.

    Mit dem größtmöglichen Abstand folgte sie Hectamus. Sein Grinsen verhieß nichts gutes. Als sie außer Sichtweite waren, bestätigten seine Worte nur, was sie ohnehin schon wußte. Er wollte seinen Spaß - mit ihr. Immer fester hielt sie die Tasche umklammert, bis sie das Stadttor erreichten. Die Wachen, Händler, die vielen Menschen in den Straßen, hier war sie sicher vor ihm. Davon ging sie aus, als sie das Tor passierten und auf den Marktplatz zugingen. Natürlich folgte sie seiner Anweisung und spielte seine kleine Schwester. Wie sollte sie auch etwas anderes behaupten, stumm wie sie war.


    Hectamus redete mit einem Händler. In ihr wuchs der Wunsch, einfach loszurennen, sich irgendwo zwischen den Wagen und Ständen zu verstecken, ihrem Entführer und dessen Handlanger zu entkommen. Der Händler sah zu ihr herüber. Neriman lächelte so freundlich es eben ging. Wohin sollte sie laufen? Zu spät, Hectamus kam zurück und überraschte mit seiner Frage. Beim Wort Hunger meldete sich zumindest ihr Magen lautstark. Leugnen war zwecklos. Die Reise hatte ihre Spuren hinterlassen. Neriman war um einiges schmaler geworden, die Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter ihrer Haut ab. Nicht nur die, doch das blieb unter ihrem Gewand verborgen. Hunger? Natürlich hatte sie Hunger. Allerdings traute sie seiner Freundlichkeit weniger als dem Abstand zwischen ihnen. Das Grummeln in der Magengegend wurde lauter, der Hunger gewann gegen ihren Argwohn. Ihr Nicken bestätigte, was ihr Bauch ohnehin schon verraten hatte.

    Täubchen... Täubchen? - sie war kein Täubchen, und ihr war eher danach, ihm die Augen auszukratzen, als mit ihm zu gehen. Wenn sie nur etwas hätte, diesen Gedanken in die Tat umzusetzen. Ihr Dolch - ohne ihn fühlte sie sich hilflos. Er war die einzige Sicherheit in der Wüste. Die Menschen waren nicht weniger gefährlich. Nur ein kleiner Moment der Unachtsamkeit...


    Neriman zweifelte nicht an Herodorus Drohung, Hectamus zu töten, sie zweifelte jedoch an Hectamus Beteuerung, ihr nichts zu tun. Natürlich hatte Herodorus recht. Diesem Ungeheuer würde niemand sein Gefährt anvertrauen, geschweige denn, ihm überhaupt vertrauen. Darum ging es nicht. Es war ihr Körper, den er wollte. Wenn nicht, dann doch zumindest Rache für die durch sie verschuldete Demütigung. Neriman glaubte diesem Ungeheuer kein Wort.


    Ihre Finger tasteten unterdessen weiter nach der Tafel. Der Stilus war herausgerutscht, lag lose in ihrer Tasche. Mit dem Druck ihrer suchenden Hände bohrte sich die Spitze durch die Stoffschichten und stieß in ihren Oberschenkel, dass sie innerlich aufstöhnte. Mit der Erleichterung der Erkenntnis umfasste sie den Griffel und ihre verzweifelte Miene entspannte sich sichtlich. Sie hatte die Waffe bereits in ihrer Tasche. Wenn er mich anfasst, töte ICH ihn! Mit einem tiefen Atemzug machte sie sich Mut und nickte ergeben. Sie sollten gehen und es hinter sich bringen.