Beiträge von Neriman Seba

    Es zählte nicht gerade zu ihren Stärken, jemandem unauffällig zu folgen. In der Wüste, dort, wo sie zuhause war, gelang es ihr spielend, sich unbemerkt anzuschleichen, konnte sie sich fast geräuschlos bewegen. Das war hier aber unnötig. Viel zuviele Menschen auf viel zuwenig Platz. Es herrschte Gedränge, es war laut - und es war bunt. Neriman konnte sich nicht lange auf die junge Frau konzentrieren, der sie eigentlich folgen wollte. Ein Stand mit Tüchern und Stoffen zog sie magisch an und ehe sie sich versah, hatte sie eines davon in der Hand. Das Tuch war dem, welches sie trug, sehr ähnlich, allein die Stickereien fehlten. Und noch etwas war anders. Vorsichtig strich sie über den Stoff. Er war viel feiner, fast federleicht. Neriman hob es mit fragendem Blick dem Händler entgegen und erschrak, als sie den Preis hörte. Empört schüttelte sie den Kopf, wie ihre Cousine es immer tat und zeigte mit den Fingern, was sie zahlen wollte. Der Mann schien verwundert darüber, verstand nicht so recht. Als ihm klar wurde, dass Neriman nicht sprechen konnte, änderte sich sein Verhalten. Er gestikulierte wild mit den Händen und sprach gedehnt, als hoffte er, sie würde ihn so besser verstehen. Der Preis, den er nun nannte, war immer noch zu hoch. Schmunzelnd schüttelte Neriman erneut den Kopf und zeigte ihm entschuldigend ihre leeren Hände. Ein unschuldiger Blick, traurig, enttäuscht. Das rührte den Händler so sehr, dass er ihr das Tuch tatsächlich zu ihrem Preis verkaufte. Neriman wollte kein Mitleid, aber für das Tuch nahm sie es hin. Sie ertrug seine mitleidigen Blicke und schenkte ihm noch ein dankbares Lächeln, als er ihr das Tuch aushändigte.


    Unglaublich. Und das Tuch? Neriman malte sich aus, wie sie es ihrer Schwester in die Hände legen würde. Erinnerte sich an deren Blick, wie ausgelassen sie sich freuen konnte. Dachte daran, wie sie es ebenso kunstvoll besticken würde wie dieses, das Neriman um den Kopf trug. Neriman ging weiter, fühlte das neue Tuch mit ihrer Wange, packte es dann aber traurig in ihren Beutel. Niemals wieder würde sie dieses Lachen sehen, nie wieder... In ihren Gedanken vertieft kam sie schließlich zu einem Stand mit Haarschmuck. Erschrocken zuckte sie zusammen, als sie die Frau erkannte. Die Frau, um deren Geheimnis sie wußte, welches sich unter ihrer Tunika verbarg. Was sollte sie tun? Ansprechen ging nicht, ohne Stimme. Was würde es auch bringen. Den Beutel würde sie sicher nicht zurückgeben und die Opfer kannte Neriman ohnehin nicht. Neben ihren Überlegungen studierte sie die anspruchsvolle Auslage, die sich ihr darbot. Haarnadeln, goldene Fäden, kunstvolle Ornamente, Haarteile - Neriman sah der Frau beim Ausprobieren zu. In ihr helles Haar geflochten, würden die blauen Bänder einen hübschen Kontrast bilden. Vielleicht noch ein paar Perlen dazu. Gepaart mit einem freundlichen Lächeln legte sie ihr eins der blauen Bänder hin, sah sich unterdessen weiter um. Reich verzierte Kämme wurden ihr vom Händler angeboten. Unschlüssig nahm sie einen in die Hand, drehte ihn hin und her. Ein kostbares Stück, aber unpraktisch, fand sie. Viel zu klein - wie sollte man sich damit nur die Haare kämmen? Hübsch anzusehen war er ja.

    Neriman saß auf großen, steinernen Stufen, nicht weit von der Stelle, an der ihr Massa begegnete. Er war schon lange nicht mehr in der Stadt und ihre Begegnung - nur ein Hauch auf ihrem Lebensweg. Sie fühlte noch immer seine starken Arme, mit denen er sie hielt, sein Kuss, wenn auch nur auf ihrer Stirn. Hörte noch immer dieses eine Wort, das sie niemals wieder hören wollte. Abschied. Was in den wenigen Minuten, als sie in seinen Armen lag, so hoffnungsvoll begann, zerbrach mit diesem einen Wort. Abschied - Dabei hatte sie ihn gerade erst wiedergefunden. Der Schmerz brannte damals tief und würde wohl für immer in ihr wüten, hätte sie ihn nicht ebenfalls dorthin verbannt, wo so vieles verborgen lag. Geh bitte zurück zu deiner Familie, zu deinem Vater und deinem Bruder. Alexandria ist nichts für dich. Während sie über Massa´s Bitte nachdachte, beobachtete sie die Menschen zu ihren Füßen. Reges Treiben herrschte auf dem bunten Markt. Überall wurde gefeilscht, getratscht - gestritten. Vielleicht sollte sie wirklich zu ihrer Familie zurück. Wären ihre Geschwister hier, hätte sie sie sicher schon gefunden.


    Als sie aufstand, um sich auf den Rückweg zu machen, entdeckte sie einen Sklaven, der mit mehreren Stoffballen bepackt wurde. Für einen kurzen Moment meinte sie, ihren Bruder zu erkennen, beim zweiten Hinsehen ließ sie jedoch enttäuscht die Schultern hängen. Er war es nicht. Neriman wollte sich abwenden, da musste sie mit ansehen, wie sich eine Frau eben diesem Sklaven näherte und ihm etwas stahl. Was, das konnte sie nicht erkennen, beeilte sich jedoch, die Treppe herunterzukommen, sich durch die Menschen zu wühlen. Die Diebin war in eine andere Richtung gelaufen. Wem folgen? Sie entschloss sich für die junge Frau. Weshalb, wußten sie selbst nicht so genau.

    Sprach er tatsächlich ihre Sprache? Und dann so viele Fragen. Nebensächlich. Viel wichtiger war, er war hier, bei ihr. Mit einem dankbaren Lächeln streckte sie die Hand nach ihm aus, strich ihm vorsichtig über die Wange. Noch immer konnte sie kaum glauben, dass er es tatsächlich war. 'Lass mich nie mehr los' baten ihre Augen, während sie sich, von den anderen unbemerkt, sehnsüchtig anlehnte. In seinem Blick glaubte sie, von ähnlichen Gefühlen zu lesen. Sein Herz, sie konnte es schlagen hören. Mindestens ebenso schnell wie ihres. Er war ihr so nah - sie dachte an den Kuss in der Wüste und wünschte sich nur einen Moment alleine mit ihm. Wenn sie wenigstens sprechen könnte, sie wollte ihm so viel sagen, hatte so viele Fragen.


    In der Zwischenzeit hatte sich ihre Cousine wieder gefangen. Sie beantwortete seine Fragen eher unwirsch, ungeachtet der Tatsache, dass er ihnen geholfen hatte. Wie sollte sie auch ahnen, dass Neriman ihn kannte. "Eigentlich geht dich das nichts an, aber wir sind hier, weil wir hoffen, dass sie und einer unserer Freunde hier Hilfe bekommen. Deshalb haben wir die lange Reise auf uns genommen. Wir entstammen der gleichen Familie, also weiß ich auch, woher sie und wir kommen. Hier wohnen wir bei einem, der sich Christ nennt. Er wohnt in diesem Judenviertel, falls du das kennst."


    Neriman konnte den Argwohn ihrer Cousine in deren Stimme hören. Mit ein paar Handbewegungen machte sie ihr klar, dass sie ihn kannte und er es sicher nur gut meinte. Nur, sie zu tragen, dafür war der Weg zu weit. Sie sollte ihm sagen, dass sie selbst gehen konnte und es ihr schon viel besser ging. Das tat sie dann auch, in einem etwas versöhnlicherem Ton. Trotzdem musterte sie ihr Gegenüber mehr als skeptisch, schließlich war sie es, die für das Wohl ihres Schützlings verantwortlich war.

    Warmes, dunkles Nichts - um sie herum einfach nur Nichts. Absolute Stille. Stimmen, Geräusche, nichts davon drang durch die Dunkelheit. Was um sie geschah lag weit entfernt. Weder von den Menschen, die sich neugierig um sie drängten, noch von den verzweifelten Versuchen ihrer Cousine, sie aus ihrer Ohnmacht zurückzuholen, bekam sie etwas mit. Neriman ergab sich völlig der Einfachheit dieses Zustandes.


    Irgendwann änderte sich etwas. Ihr war, als würde sie schweben. Getragen wie auf Wolken. War das der Tod, der sie holen kam? Ihr Name - seine Stimme. Sie wollte ihr folgen, ihn finden. Ihre Augen zuckten. Dann wurde es wieder still. Die Stimme war verstummt, Neriman fiel wieder zurück. Dunkelheit. Ihr Atem ging ruhig, der Schatten kühlte ihr vom Tuch befreites Gesicht. Flüssigkeit, die auf ihre Lippen tropfte. Ein vorsichtiges Schmecken. Fremde Stimmen - dann wieder Stille.


    Eine wundervolle Stille. Es gab keinen Grund, diesen Ort zu verlassen, bis sie sie wieder hörte, diese Stimme, seine Stimme. Nur ganz leise, so weit entfernt. Aber es war SEINE Stimme. Diesmal wollte sie sie nicht wieder verlieren, hielt sich daran fest, wurde magisch von seinen Worten angezogen, die sie doch nicht verstand. Wieder zuckten ihre Augen, öffneten sich einen kleinen Spalt, schlossen sich wieder, erschrocken über die ungewohnte Helligkeit. Jemand hielt sie in den Armen, sie konnte es spüren. Ein neuer, neugieriger Versuch. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das grelle Sonnenlicht. Massa? Die Augen fragend auf ihn gerichtet. Wann war sie eingeschlafen, dass sie schon wieder von ihm träumte? Einmal kurz geblinzelt, aber er war noch da. Allmählich kam die Erinnerung, sie waren auf dem Markt unterwegs. Ihre Cousine? Suchend drehte sie den Kopf. Sie stand nicht weit von ihnen, war ganz bleich, genauso ihr Begleiter, der schützend den Arm um sie hielt. Noch ganz schwach, brachte Neriman eine kurze Frage mit ihren Händen zustande. Was ist passiert?


    Die Cousine kniete sich neben sie, nahm ihre Hand. "Du bist einfach umgefallen. Es ging alles so schnell. Der Mann hat dich in den Schatten gebracht, etwas zu trinken besorgt. Geht es dir wieder gut?" Die Furcht in ihrer Stimme war seltsam. So kannte sie ihre Cousine nicht, die immer alles im Griff hatte. Natürlich ging es ihr gut. Um das zu zeigen, wollte sie aufstehen, sank aber fast augenblicklich wieder in die starken Arme, die sie hielten. Ihr Kopf - vorsichtig tastete sie an die schmerzende Stelle, verzog das Gesicht. Über ihr immer noch Massas dunkle Augen, die sie besorgt und ebenso fragend musterten. Sein Blick weckte verborgene Gefühle. Egal, weshalb er hier war, sie in seinen Armen hielt, sie wollte diesen Moment für immer festhalten.

    Das Talent war ihrer Cousine in die Wiege gelegt. Sie feilschte auf Teufel komm raus und am Ende stand das Geschäft des Mannes vor dem Ruin und seiner Frau und den 14 Kindern ein elender Hungertod bevor. Neriman war sicher, der Preis würde ihn keineswegs umbringen. Auch sie würden ihre Erzeugnisse niemals unter Preis verkaufen. Schmunzelnd verfolgte sie deshalb das grummelige Gesicht des Alten, als er missmutig vor sich hinfluchend die Ware übergab. Schon beim nächsten, bereits interessiert wartenden Kunden pries er fröhlich lächelnd seine überaus hochwertige Auslage an, als wäre nichts geschehen. Neriman grübelte kurz darüber nach, ob es ihr auch gelingen würde, so geschickt zu handeln, wenn sie es denn könnte. Unterdessen bepackte die Cousine ihren armen Begleiter mit dem zusätzlichen Päckchen, was dieser mit einem leisen Aufstöhnen quittierte und dabei genervt die Augen verdrehte.


    Ihm war nach einer Pause und auch Neriman fand mittlerwile die Hitze unerträglich. Ihr Mund war trocken, der Durst schnürte ihre Kehle zu. Unerbittlich brannte die Sonne auf den überfüllten Platz, auf dem sich kein Luftzug regte. Sie sollte das Klima gewohnt sein, doch die Luft hier war anders, schwerer zu ertragen als in der Wüste. Zudem hätte sie zuhause ihr Zelt niemals ohne ihren Beutel mit Wasser verlassen, auch nicht ohne ihre Kräuter. Beides war diesesmal im Haus des Paulus zurückgeblieben, was sie nun bitter bereute. Der Durst wurde zur Qual, die Hitze erdrückend. Feucht glänzte ihre Haut im Sonnenlicht, kleine Schweißtröpfchen perlten von ihren Schläfen abwärts. Ein Stand mit Tee oder Ähnlichem musste doch auf diesem riesigen Markt zu finden sein. Suchend blickte sie sich um, hob die Hand über die Augen, um sie vor der Sonne abzuschirmen. Genau in diesem Moment schob sich ein Mann an ihr vorbei, drückte ihren Arm unsanft gegen die Stirn. Nichts Ungewöhnliches bei den Menschenmengen, die zwischen den bunten Verkaufsständen drängten. Und doch war es dieser kurze Moment, der flüchtige Blick, der ihr Herz ins Stolpern brachte. Da waren diese wilden Locken, die ihr noch so vertraut in Erinnerung waren, als wäre es gestern gewesen. Sie wollte sich vergewissern, noch einen zweiten Blick erhaschen, stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe hinwegsehen zu können. Ohne Erfolg, er war bereits verschwunden, im Gewühl untergetaucht. Enttäuscht schüttelte sie den Kopf, als wollte sie die Erinnerung loswerden, eine Hoffnung, die sich ohnehin nie erfüllen würde. Es war der Durst, so redete sie sich zumindest ein, der ihr hier einen Streich spielte, ihr Traumbilder schickte. Oder war es die Hitze?


    Während Neriman noch ihren Gedanken nachhing, diskutierten ihr Begleiter und ihre Cousine lautstark darüber, ob denn nun ägyptische Kosmetik oder doch orientalische Waffen für das Überleben in der Wüste wichtiger wären. Natürlich war ihre Cousine in dieser Auseinandersetzung der klare Verlierer, was sie jedoch nie im Leben zugeben würde. Sie war störrisch, wollte immer Recht behalten, und wußte sich durchzusetzen. Nicht unbedingt Eigenschaften, die sich ein Mann bei seiner Frau wünschen würde. Eben deshalb war sie wohl auch noch nicht verheiratet. Ein Schicksal, das Neriman mit ihr teilte, wenn auch aus anderen Gründen.


    Die Diskussion nahm kein Ende. Derweil gab Neriman die Richtung vor. Die, in der der Unbekannte verschwunden war. Die beiden bekamen davon kaum etwas mit, folgten ganz automatisch und liefen fast in sie hinein, als die Menge vor ihnen ins Stocken geriet. Drei Kamele - wunderschöne Tiere. Wehmütig dachte sie an zuhause, ihre Herden, ihre Familie, Abay... Ihr Blick folgte der kleinen Karawane und mit einem Mal war ihr, als setzte ihr Herz einen Schlag aus. Da stand er, unweit von ihr. Nur wenige Schritte, zu weit, ihn zu berühren. Trotzdem, er konnte es nicht sein. Das war kein Soldat. Er trug auch nicht das Tuch. Alles nur Einbildung, die Hitze - Schweißperlen sammelten sich auf ihrer Haut, die Knie wurden weich, ihr Herz raste. Massa - war der letzte Gedanke, als sie haltsuchend um sich griff. Ob jemand ihren Fall abfangen oder sie schmerzhaft auf dem Boden aufschlagen würde? Undurchdringliche Dunkelheit fing sie auf und hüllte sie ein wie weiche Watte. Kein Laut mehr - einfach nur Stille...

    Sie dankten dem gütigen Mann und folgten ihm, ihr zukünfiges Lager zu beziehen. Während die Männer aufbrachen, das Gepäck aus dem Gasthaus zu holen, halfen die beiden Frauen der Hausherrin bei der Zubereitung der Mahlzeit. Das kleine Mädchen war ebenfalls eine fleissige Helferin und während sie gemeinsam kochten, nutzten sie die Zeit für ein erstes, näheres Kennenlernen.


    Sie waren eben fertig, da trafen auch die Männer ein. Das Gepäck wurde aufgeräumt, der Tisch gedeckt, bevor schließlich alle hungrig auf ihren Stühlen saßen. Der Raum war erfüllt vom Duft der köstlichen Speisen und Neriman lief das Wasser im Mund zusammen. Wie es bei ihnen Brauch war, warteten sie, bis Paulus Platz nahm. Er war der Herr des Hauses, wie bei ihnen der Älteste. Erst, wenn der begann, durfte gegessen werden. Wie allerdings die Sitten hier bei den Christen waren, darüber wußten sie noch nicht Bescheid. Darauf war Neriman ebenso gespannt wie auf diesen Gott, von dem Paulus sprach.

    Wieviele Tage waren sie nun schon in Alexandria? Neriman hatte aufgehört zu zählen. Mit jedem Tag schwanden die Hoffnungen, die ihr diese Stadt schenken sollte. Die Aufnahme ins Haus des Paulus war ein Segen gewesen. Er, die Frau und das Kind, sie waren wie eine Familie und so ein kleines bisschen ein zuhause für sie geworden. Wie wichtig das für sie war, niemand ahnte es. An dem Tag, an dem ihre Mutter starb, flüchtete sie in diese, ihre eigene Welt. Niemand konnte ihr hier wehtun. Nur wenige fanden überhaupt einen Zugang, nur wenigen gewährte sie einen kleinen Einblick. Ihr Vater, ihr Bruder, die kannten sie. Massa - seine Augen - ohne Mühe war es ihm gelungen. Sie hätte es nicht zulassen dürfen. Schwer hing sein Ring über ihrem Herzen. Noch immer schlich sie jeden Abend in die Dunkelheit, suchte am Himmel nach dem Delfin und konnte nicht glauben, was so offensichtlich war. Sie würde ihn nie wiedersehen.


    Um sich abzulenken, hatte sie ihre Cousine überredet, mit ihr zum Markt zu gehen. Ein paar Geschenke für ihre Gastgeber waren schon längst überfällig. Ein kleiner Beitrag zum Unterhalt konnte auch nicht schaden. Den beiden folgte ein mürrischer Aufpasser, dem unschwer anzusehen war, dass er sich lieber in eine der Tavernen verzogen hätte. Stattdessen war er dazu genötigt worden, zwei aufgedrehte Weiber zu begleiten, die nichts anderes als bunte Stoffe, Schmuck, Parfum und anderen Frauenkram im Kopf hatten. Zum Dank durfte er dann auch noch ihre Einkäufe schleppen. Es wurde lauter, ein Sklavenhändler pries seine Ware an. Vor ihm stand ein kleines Mädchen, unbekleidet, man konnte ihm die Scham ansehen, so vor den vielen Menschen zur Schau gestellt zu werden. Und Angst, schreckliche Angst. Ein Stich ins Herz. Neriman wandt sich ab, zog ihre Cousine hektisch weiter. Die Ausgelassenheit war dahin, starr war ihr Blick auf die Stände gerichtet. Gewürze und Weihrauch - allmählich wurde das Zittern ihrer Hände weniger. Verborgen unter ihrem Gewand spürte sie den Dolch. Zu gern hätte sie ihn gerade jetzt benutzt, irgendwann würde dieser Tag kommen. Stattdessen aber wies sie ihre Cousine an, einen guten Preis für die Ware auszuhandeln, die sie aussuchte, so, als wäre nichts gewesen.

    Djadi dankte Paulus von ganzem Herzen. Dass sie hierbleiben durften, war ein Glücksfall. So mussten sie nicht weiter in dem Gasthaus wohnen, was ihm schon wegen der Frauen missfiel. Die Gegend dort schien ihm nicht sicher, er kannte die Geschichten. "Ich weiß nicht, wie ich dir und deiner Familie dafür danken kann. Selbstverständlich werden wir uns nach den Regeln dieses Hauses richten. Auch unsere Arbeitskraft steht euch selbstverständlich zur Verfügung." Das war für sie alle selbstverständlich. Niemand scheute davor, zuzupacken, wenn es nötig war, das waren sie schon von zuhause gewohnt. Zuhause - soweit war es mittlerweile weg, dass es fast unwirklich schien.


    Neriman musste schmunzeln, als Paulus sich zusätzlich noch an sie wandte. Trotzdem lächelte sie ihn dankbar an. Ihrer Cousine gab sie ein paar Zeichen, und diese sprach dann für sie. Auch auf ihren Lippen lag ein leichtes Schmunzeln. "Herr, sie versteht alles, was man sagt. Nur ihre Stimme, die hat sie verloren, als sie ein Kind war. Sie sagt, sie ist dankbar für das Angebot, hier bleiben zu dürfen und ist schon gespannt, etwas über eueren Gott zu erfahren." Neriman nickte wie zur Bestätigung. Gerne hätte sie ihm selbst geantwortet, doch so sehr sie sich auch anstrengte, es ging nicht. Wie oft hatte sie es versucht, immer wieder, immer erfolglos. Die Hoffnung, es könnte sich eines Tages etwas daran ändern, war schon lange begraben. Es war wohl ihr Schicksal.


    Neugierig warteten sie nun alle, zu sehen, wo sie schlafen konnten. Die Regeln würde er wohl noch erklären, am meisten interessierten jedoch seine Geschichten. Zumindest die Offenheit und Freundlichkeit der Menschen in diesem Haus beeindruckten, auf ihrem Weg waren ihnen nicht viele begegnet, die so herzlich waren.

    Djadi sah erst ihn, dann seine Hand unschlüssig an, nahm sie dann aber und drückte sie. Für ihn eine ungewöhnliche Art, sich zu begrüßen. "Sei gegrüßt, Paulus. Wir kommen aus Nubien. Unsere Stämme leben dort in der Wüste. Ein Stück Erde, das für uns Leben, für viele aber den Tod bedeutet. Der lange Weg hierher war mühsam, hielt aber auch so einiges bereit, über das wir nur staunen konnten. Der Grund, weshalb wir diesen Weg überhaupt erst auf uns nahmen, war die Suche nach dir. Schon in den Dörfern, in denen wir unsere Waren verkaufen, hörten wir von deinem Gott, und so viele unglaubliche Geschichten, dass wir unbedingt mehr darüber erfahren wollten. Wir hoffen, du kannst uns etwas über ihn, und seine Wunder erzählen. Und vielleicht auch helfen." Dabei blickte er sich um, zu Thabit und Neriman, die diesen Paulus aufmerksam musterten.


    Neriman lächelte freundlich. Dieser Paulus schien ein ebenso herzlicher Mensch zu sein wie seine Frau und seine kleine Tochter. Ungewöhnlich fand sie nur, dass die drei augenscheinlich alleine hier lebten. In ihrem Stamm und auch in den Orten, durch die sie reisten, waren es immer viele Generationen, die zusammenlebten. Es gab sicher Gründe, wieso es hier anders war. Und vielleicht, im Laufe ihres Aufenthaltes, würden sie auch mehr darüber erfahren. Nun aber ergriff erneut Djadi das Wort. Er stellte einen nach dem anderen ihrer Gruppe vor, wobei Neriman sicher war, dass Paulus und dessen Gattin sich die Namen nicht auf Anhieb würden merken können.


    Als Neriman an der Reihe war, gab auch sie ihm die Hand, nickte aber nur. Djadi erklärte, wieso sie keinen Ton von sich gab. "Neriman kann nicht sprechen, sie versteht aber, was man sagt. Ihre Cousine begleitet sie, da sie ihre Sprache spricht. Nicht die, die wir kennen, sie nutzen die Hände dazu." Als wäre es ganz selbstverständlich, fuhr er mit der Vorstellung fort, bedankte sich am Ende noch einmal für die herzliche Gastfreundschaft und überließ das Wort wieder dem Hausherren.

    Paulus, das war also sein Name. Neriman musterte die Frau und das kleine Mädchen. Die beiden waren so gastfreundlich, wie sie es von ihrer Familie kannte und fühlte sich schon fast ein wenig zuhause. Djadi bedankte sich und sie alle folgten der jungen Frau ins Haus. Drinnen war es viel kühler, angenehm - und überaus gemütlich. Neriman sah sich neugierig um. Es war nicht anders als in anderen Häusern. Was hatte sie erwartet? Immer weniger glaubte sie, dass die vielen Geschichten wahr sein konnten, die man ihnen über den Mann erzählte. Das hier sah aus wie eine ganz normale Familie, nichts anderes, nichts außergewöhnliches.


    Allerdings wußte die Frau, weshalb sie hier waren. Vielleicht hatte sie auch einfach nur geraten. Djadi übernahm, wie schon an der Tür, das Antworten. "Ja, den suchen wir. Ich danke dir für die Gastfreundschaft. Wir kommen tatsächlich von weit her, waren lange unterwegs und kamen erst gestern hier an. Ist er denn zuhause?" Neriman wollte fast nicken. Sie hatte schon die ganze Zeit das Gefühl, sie würden beobachtet, oder zumindest belauscht. Ein Gefühl, das ihr Gänsehaut bereitete. Vielleicht aber irrte sie sich nur und es war einfach nur die Kühle im inneren des Hauses, die sie frösteln ließ. Niemand sonst schien etwas zu bemerken.

    Neriman rechnete mit allem, nur nicht mit einem kleinen Mädchen, das ihnen die Tür öffnete. Warum, wußte sie selbst nicht genau. Wahrscheinlich hatte sie einfach mit einem alten Mann gerechnet, ähnlich den Priestern, oder zumindest einer imposanten Erscheinung, niemals aber mit einem Familienvater. Vielleicht passte ihre Vorstellung auch nur viel besser zu diesem Gott aus den Geschichten und sie übertrug sie deshalb auf seine Anhänger. Nun war sie wirklich neugierig. Ein Blick zurück zu den anderen. Ihnen schien es ebenso zu gehen. Thabit, der von zwei Jungen gestützt wurde, auch wenn er eigentlich alleine gehen konnte. So war es einfach leichter für ihn. Mit dabei waren auch noch zwei junge Männer, die für ihren Schutz sorgen sollten und eine ihrer Cousinen, die schon älter war, aber noch immer nicht verheiratet. Als Anstandsdame sozusagen, darauf hatte ihr Vater bestanden. Sie war zwar etwas seltsam, aber Neriman konnte sie recht gut leiden. Und mit ihr konnte sie sich "unterhalten". Was auch nicht ganz unwichtig war, hier, so weit weg von zuhause.


    Die Kleine an der Tür war hübsch und hielt Nerimans Blick gefangen, während Djadi das Reden übernahm. Auf der langen Reise war er so etwas wie ihr Anführer geworden. Der Oberste ihrer Gruppe, der Saih ihrer kleinen "Familie". Auch sein Blick verriet, dass er verwirrt war, fing sich aber schnell wieder und ging ein wenig in die Knie, um mit dem Mädchen auf Augenhöhe zu kommen. "Wir sind auf der Suche nach einem ganz besonderen Mann. Er soll hier wohnen. Ist denn dein Vater oder deine Mutter zuhause?" Das Mädchen hatte eine ganz besondere Ausstrahlung. Sie war so hübsch... und unschuldig. Bestimmt musste sie noch nicht viel Leid in ihrem kurzen Leben erfahren. Im Gegensatz zu ihr, und fast allen ihrer kleinen Gruppe.

    Besonders beliebt schienen diese Juden hier nicht zu sein. Aber auch Neriman konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es nur einen Gott geben sollte. Dass ein Gott durch einen Menschen einen anderen heilen könnte, schon dreimal nicht. Aber neugierig war sie, das konnte sie nicht leugnen. Immerhin zeigte man ihnen die Richtung, in der dieses Viertel lag, jedoch nicht, wo sich dieser Christ genau aufhielt. Das interessierte hier offentsichtlich auch niemanden. Daher gaben sie das Fragen auf und suchten ersteinmal besagten Teil der Stadt. Auf dem Weg dorthin blieben ihre Augen nie still auf eine Richtung ausgerichtet, nutzte sie jede Gelegenheit aus, sich umzusehen. Immer wieder suchte ihr Blick in den Gassen, spähte in Tavernen, flog über Plätze, in der Hoffnung, ihn zu finden. Nichts, der Gesuchte war nie dabei. Sie sollte ihn besser vergessen, er hatte das sicher schon längst getan. Und ihre Geschwister - die Hoffnung, sie zu finden, war noch viel geringer. Mutlos folgte sie den anderen. Vielleicht würde ja wenigstens diese Hoffnung belohnt.


    Irgendwann kamen sie dort an. Endlich begegnete man ihnen auch freundlicher bei ihrer Frage. Allerdings schien es selbst unter Juden und Christen Unstimmigkeiten zu geben. Die christliche Gemeinde war isoliert, wie die Juden von den Römern. Neriman war schon gespannt, den Grund dafür zu erfahren. Wenn auch ihr Aufenthalt hier in Alexandria vorwiegend andere Gründe hatte, auf diese Christen war sie schon neugierig. Auf der Reise hierher hörten sie immer wieder die wundersamsten Geschichten vom Sohn dieses Gottes. Unglaublich, was dieser Mann vollbracht haben sollte, bevor er ans Kreuz genagelt wurde. Was Neriman nicht verstand war, wieso man jemanden kreuzigen konnte, der ohne Medizin Menschen heilen konnte. Wenn man bedachte, was manche dieser Kräuter kosteten. Das würden sie sicher bald erfahren.


    Vor einem kleinen Haus blieben sie stehen. Hier sollte er wohnen? Neriman hatte sich eher einen prunkvollen Bau vorgestellt, so wie die Tempel, an denen sie vorbeigekommen waren. Oder wenigstens etwas Ähnliches. Etwas enttäuschend. Sie klopften an und warteten gespannt.

    Kein Problem für Neriman, den Weg zurückzufinden. Sie wäre nicht die Tochter ihres Vaters, hätte sie sich verlaufen. Es war immer noch früh genug, wenigen zu begegnen. Selbst Djadi saß noch immer schnarchend vor der Tür. Neriman stupste ihn in die Seite, bevor sie schnell im Zimmer verschwand und grinsend die Tür schloss. Nach und nach wurden auch die anderen wach. Nach einem ausgiebigen Frühstück wollten sie losgehen. Kein Tag sollte ungenutzt verstreichen, zu lange würde auch ihr Geld nicht reichen. Zimmer, Essen, alles war soviel teurer, als sie es gedacht hätten. Es war eben eine ganz andere Welt, als die, die sie kannten.


    Schon der Wirt wurde befragt, ob er wüßte, wo sich dieser Christ, wie man ihn nannte, aufhielt. Erst traf sie ein verwunderter Blick, dann überlegte er doch. Wie er denn hieße? Aber einen Namen wußten sie nicht. Daher konnte er auch keine genauere Auskunft geben. Nur soviel erfuhren sie, dass es eine jüdische Siedlung in der Stadt gab. Vielleicht sollten sie dort mit ihrer Suche beginnen. Zuerst aber widmeten sie sich dem Frühstück. Essen war etwas sehr wichtiges für sie, und als alle satt und gestärkt waren, machten sie sich auf den Weg.

    Es war früher Morgen, als sie ausgeruht und voller Tatendrang erwachte. Sehr früher Morgen, die Sonne war gerade im Begriff, über den Erdenrand zu klettern und draussen war noch alles still. Ein Blick durch den Raum, alles schlief, das gleichmäßige Atmen wirkte beruhigend. Nicht auf sie. Je länger sie wach war, desto unruhiger wurde sie. Leise schlüpfte sie in ihre Schuhe, schnürte sie sorgfältig über den weiten Hosenbeinen. Das Tuch noch mit geschickten Fingern ordentlich um Kopf und Gesicht gewickelt, ein letzter Blick in die Runde - ihr Gepäck. Sie würde rechtzeitig zurücksein, das wichtigste, den Ring, trug sie ohnehin um den Hals. Langsam schlich sie aus dem Raum, wäre fast über Djadi gestolpert. Er saß, nein, lehnte schief an der Wand, halb vor ihrer Türe. Neriman mußte grinsen. Dahinter konnte nur Abay stecken. Ein Glück, dass Djadi nicht annähernd so ausdauernd war. Vorsichtig stieg sie über dessen Beine, schlich leise die Treppe hinunter und zur Hintertür hinaus.


    Eine schmale Gasse, nicht unbedingt vertrauenserweckend. Sie beeilte sich, von hier weg, in eine bessere Gegend zu kommen. Der Raum wurde größer, heller. Hier sah es deutlich besser aus. Prachtvolle Häuser, breite Straßen, aufmerksam prägte sie sich ihren Weg ein. Ob sie zum Hafen zurückfinden würde? Neriman lief und staunte und irrte eher ziellos immer weiter. Den Hafen fand sie tatsächlich. Warmer Wind wehte vom Meer herüber, zerrte an ihrem Tuch. Wie gerne hätte sie es abgenommen, den leichten Hauch in ihrem Haar gespürt und sich von ihm in heimliche Träume entführen lassen. Seufzend ging sie weiter. In einem solchen Hafen war es niemals still, und sie nicht wirklich alleine. Also blieb das Tuch, wo es war. Neugierig sah sie sich um. Es gab wohl auch einen Markt hier, um vieles größer, als die, die sie kannte. Überhaupt war hier alles so groß, dass sie sich fast unscheinbar klein fühlte. Die Sonne stieg immer höher. Sie sollte wieder zurück, bevor irgendjemand ihr Fehlen bemerkte. Trotzdem blieb sie noch eine Weile. Das Meer, seine Weite, erinnerte an die Wüste, schenkte ihr ein kleines Gefühl von Heimat.

    Ist vielleicht nicht ganz das richtige Thema,


    aber falls Aulus Decimus Paulus in irgendeiner Form hier anwesend sein sollte, so möge er doch bitte einmal in seinem Posteingang nachsehen.



    DU HAST POST 8)

    Unendliche Erleichterung. Vorsichtig trat Neriman auf die wankenden Bretter, die ans Schiff gelegt waren, um an Land zu kommen. Das Schaukeln war furchtbar und als ihre Füße endlich festen Boden berührten, hätte sie am liebsten laut gelacht. Aber was war das? Die Erde bewegte sich ebenso wie das Schiff, das sie gerade hinter sich gelassen hatte, schaukelnd und unruhig. Erschrocken hielt sie sich am nächstbesten Arm fest, sonst wäre sie tatsächlich gestürzt. Lautes Gelächter vom Schiff drang zu ihr herüber, die Männer amüsierten sich köstlich über den hilflosen Anblick, den sie wohl abgab. Neriman drehte entrüstet den Kopf, bedachte jeden einzelnen mit einem bösen Blick und hätte ihnen zu gerne ein paar Verwünschungen entgegengeschleudert, hätte sie gekonnt. Nur langsam verflog der Äger, ihre Begleiter kamen nach und nach von Bord und allmählich hielt auch der Boden wieder still, so dass sie den helfenden Arm wieder loslassen konnte. Die Männer gingen derweil wieder ihrer Arbeit nach, nur hier und da war noch ein leises Kichern zu hören.


    Geduldig wartete sie mit ihrer kleinen Gruppe, bis das Gepäck abgeladen war. Ein Karren wurde gebracht, auf den alles aufgeladen wurde. Nerimans Aufmerksamkeit wurde aber schon bald davon abgelenkt. Sie stand staunend da und bekam den Mund nicht mehr zu bei all der überwältigenden Vielfalt, die es hier zu sehen gab. Sie kannte bislang nur kleine Dörfer, allenfalls ein paar größere Orte, in denen sie Handel trieben. Das hier jedoch überstieg ihre Vorstellungskraft um Längen. Nicht nur die Bauwerke um sie herum, auch die Menschen waren so verschieden, wie sie nur sein konnten. Aber auch Neriman selbst hatte sich verändert. Sie trug nun nicht mehr das weite Gewand der Wüste, sondern das beste Kleid ihrer Mutter. Ihr Vater gab es ihr zum Abschied. Es war gewebt aus buntem Stoff, kostbar bestickt mit Gold und Silberfäden und Neriman trug es mit stolz. Dazu das Tuch, das sie niemals eintauschen würde. Das und die Hose, die sie noch unter dem Kleid trug, war alles, das an ihre Herkunft erinnerte.


    Eine Hand griff ruckartig nach ihrem Arm, zog sie ruppig mit sich. "Komm schon, wir müssen weiter. Oder willst du hier Wurzeln schlagen? Wir brauchen einen Schlafplatz und etwas zu essen." Neriman ließ sich mehr ziehen, als dass sie selbst ging. Viel zu sehr hielt immer wieder etwas ihren Blick gefangen, hätte sie zum Stehenbleiben animiert, wäre ihr Begleiter nicht so energisch gewesen. Irgendwo wurde sie schließlich in ein Haus geschoben, den Weg zum Hafen würde sie alleine wohl nie wieder finden. Im Moment verschwendete sie auch keinen Gedanken daran, die Aussicht auf Schlaf schob mit einem Mal alles andere zur Seite. Als hätte er nur darauf gewartet, signalisierte ihr Körper seine Müdigkeit, seine Erschöpfung und sie schaffte es gerade noch in das Bett, das man ihr zuwies. Dass man ihr die Schuhe auszog, eine Decke über ihr ausbreitete und das Gepäck ans Fußende stellte, bekam sie schon nicht mehr mit.

    Vorsichtig löste sie das Tuch und nahm es ab. Der sanfte Wind, der vom Wasser kam, fuhr mit unsichtbaren Fingern durch ihr schweißverklebtes Haar, trocknete Strähne für Strähne, kühlte ihre erhitzten Wangen. Das Wasser zu ihren Füßen glitzerte im hellen Mondlicht. Es war, als würden Millionen von Sternen nur für sie auf der Wasseroberfläche tanzen. Stille um sie herum. Das kleine Städtchen lag nicht weit von hier, dort auch das Schiff, auf dem sie eigentlich sein sollte. Wäre Abay bei ihr, sie stünde jetzt sicher nicht hier. Oder vielleicht doch, dann aber nicht ohne ihn. Seufzend setzte sie sich auf einen noch warmen Stein am Ufer. Das Heimweh holte sie ein wie jede Nacht, seit sie gegangen war. Dazu das schlechte Gewissen.


    In ihren Erinnerungen eingebrannt, erschien das Bild ihres Vaters. Seine feuchten Augen, sein schmerzerfüllter Blick, als er sich abwandte und in seinem Zelt verschwand, ihrem Zelt, um sie nicht gehen zu sehen. Er hatte versucht, es ihr zu verbieten, dann versucht, sie zu überzeugen, am Ende aber erkannt, was er längst wußte. Er konnte sie nicht aufhalten. Schweren Herzens stimmte er schließlich zu. Ihr Bruder Abay hätte sie gerne begleitet, sie beschützt, und sie hätte sich nichts sehnlicher gewünscht. Aber er war das letzte Kind seiner Eltern, das noch übrig war. Allein deshalb musste er bleiben. Neriman wußte das, sie wußte auch, dass sie von nun an ganz alleine war. Trotz der Menschen, mit denen sie loszog. Niemand in der kleinen Gruppe, die sich auf die Reise machen wollte, sprach ihre "Sprache". Ihre kleine Welt würde noch stiller werden, und das für eine sehr lange Zeit. Vielleicht für immer. Ab dem Tag, an dem sie den Stamm verließ, war sie auf sich alleine gestellt, ließ mit ihrer Familie ihr gesamtes bisheriges Leben zurück.


    Nerimans Blick wanderte den Nil entlang. Bei Sonnenaufgang sollte es losgehen - mit dem Schiff. Wenn sie doch einfach nur an Land weiterziehen könnten. Sie fürchtete sich, vor allem vor diesem schaukelnden Ding, auf dem man keinen vernünftigen Schritt tun konnte. Es hielt nie still, selbst, wenn kein Wind ging. Und was war, wenn es unterging? Neriman konnte nicht schwimmen, die Krokodile würden sie fressen und niemand würde es jemals erfahren. Aber man ließ ihr keine Wahl, die Kamele waren verkauft und mit dem Erlös die Fahrt bezahlt. Für Thabit war es einfach zu beschwerlich auf dem Landweg. Und sie würden Alexandria um einiges schneller erreichen. Nur deshalb hatte sie zugestimmt. Trotzdem würde es noch eine halbe Ewigkeit dauern, bis das Ziel erreicht war.


    Lange saß sie da, beobachtete das sanfte Schaukeln der Wellen, dachte darüber nach, ob es richtig war zu gehen. Dann fasste sie nach dem Ring an ihrem Hals und sah zu den Sternen. Schritte, die sich näherten, ein trunkenes Lachen, Stimmen ... es war Zeit zu gehen. Lautlos und ungesehen schlich sie zurück, die Wache auf dem Schiff war das einzige Problem. Aber auch an ihr kam sie vorbei. Die anderen schliefen friedlich unter ihren Decken. Neriman legte sich an ihren Platz, lauschte den leisen Atemgeräuschen und das gleichmäßige Schaukeln der Wellen wiegte sie schließlich in einen traumlosen Schlaf.

    Die Oase lag längst hinter ihnen, mit ihr die vielen Opfer und ihre Gräber. Lange dort zu bleiben, war diesmal nicht möglich gewesen. Die Schlacht, die Römer, all das hatte dem grünen Fleckchen Erde schwer zugesetzt und um ihm die nötige Erholung zu gönnen, zogen sie weiter. Mit der Oase blieben auch die Erinnerungen zurück, die vielen Verletzten, die Verwundeten, die sicher nie wieder ihre Heimat sehen würden. Neriman wußte, diese Erinnerungen zu verdrängen, nicht aber die eine, die sie jede Nacht wachhielt. Abay lenkte sie ab, so gut er es vermochte, und für die Tage gelang das sogar. Nur nachts lag sie wach, oder saß vor ihrem Zelt und beobachtete die Sterne.


    Viele Tage dauerte die Wanderung durch die Wüste. Heißer Sand auf hohen Dünen wechselte sich ab mit weiten, kargen Steppen, übersät mit dürren Sträuchern und spitzen Steinen, die das Vorwärtskommen mühsam machten. Das dürre Holz wurde eingesammelt, es diente in den kalten Nächten als Feuerholz. Ebenso wie der Kameldung, den sie auf ihrem Marsch sorgsam aufsammelten. Dann endlich erreichten sie die nächste fruchtbare Stelle, auf der sie ihre Herden weiden lassen und auch ihre Vorräte auffüllen konnten. In diesem Jahr waren sie früher dran, so blieb ihnen der Platz alleine. Erst eine Woche später erreichte ein befreundeter Stamm ebenfalls die Lagerstätte, die sie sich für eine Weile teilten. Wie jedes Jahr wurde sich freudig begrüßt und ein großes Fest gefeiert.


    Schon die Vorbereitungen waren aufregend. Tiere wurden geschlachtet und über offenem Feuer gebraten, Tee zubereitet, Bier herbeigeschafft. Solche Feste gab es nicht oft, das Fleisch konnte man in den Dörfern teuer verkaufen. Umsogrößer war die Freude, einmal nicht darüber nachdenken zu müssen, zu essen, zu trinken, zu feiern, sich die neuesten Geschichten zu erzählen. Und wie es sich gehörte, hatten beide Stämme davon ausreichend auf Lager. Immer spektakulärer, immer mysteriöser und geheimnisvoller wurden die Ausführungen, je später der Abend wurde. Natürlich waren auch die Römer eines der vorherrschenden Themen an diesem Abend. Bei manch einem hätte man meinen können, er wäre selbst an der Schlacht beteiligt gewesen.


    Es war mittlerweile schon sehr spät, viele zog es in ihre Zelte, nur einige wenige kleine Grüppchen saßen um einige noch brennende Feuerstellen. An einem auch Neriman, und selbst wenn sie teilnahmslos schien, entging ihr doch keines der Gespräche. Besonders aufmerksam lauschte sie den Geschichten über einen Christen, der in der Nähe von Alexandria leben sollte. Alexandria - ihr blick hing traurig starr auf das Feuer gerichtet. Ob er sie schon vergessen hatte? Irgendwann legte sich eine Hand auf ihre Schulter. "Willst du nicht mit uns kommen? Wir bringen Thabit dorthin. Wenn dieser Christus sogar Tote erwecken konnte, vielleicht kann dieser Prediger dann auch euch beiden helfen. Es heißt, durch ihn wirkt Gott." Gott? Jemand, der ihr vielleicht helfen könnte? Im Moment war ihr egal, ob sie sprechen konnte, oder nicht. Für Thabit würde sie es sich wünschen. Er war ein oder zwei Jahre älter als sie, sein Bein irgendwie verdreht, dass er kaum laufen konnte. Er hätte es wirklich verdient.


    Aber Alexandria? Vielleicht war das ihre einzige Chance, von hier wegzukommen. Eine Chance - ihre Geschwister wiederzufinden. Oder zumindest zu erfahren, was aus ihnen geworden war, ob sie noch lebten. Und ein kleines bisschen, ein entscheidendes bisschen, die Hoffnung auf ein Wiedersehen. Ihre Hand ging unwillkürlich zu dem Ring, den sie an dem Band um den Hals trug. Neriman zuckte mit den Schultern. Darüber mußte sie erst nachdenken, und vor allem mit Abay und ihrem Vater besprechen. Niemand sah es ihr an, aber ihr Herz tat vor Freude einen Sprung.

    Alexandria... immer wieder dachte sie an diese große Stadt, von der sie nur immer hörte, die sie noch nie mit eigenen Augen sah. Viel zu weit weg, unerreichbar, selbst, wenn sie wollte. Es wäre zu gefährlich für sie, alleine zu reisen. Sie könnte sich einer Karawane anschließen, und dann? Ohne Geld, ohne Schutz, sie würde enden wie ihre Geschwister, verschleppt, verkauft - wenn sie überhaupt noch am Leben waren. Und der Römer, für ihn war sie vielleicht nur eine willkommene Abwechslung gewesen in der Einöde der Wüste. Daran wollte sie einfach nicht glauben und Nacht für Nacht malte sie sich aus, wie es wäre, es doch zu tun.


    Neriman lehnte sich seufzend zurück an die Stange ihres Zeltes, den Ring mit ihrer Hand umfassend. Es war still um sie, alles schlief. Nur ab und an brach das leise Schnarchen ihres Vaters die Stille. Sie selbst konnte nicht schlafen, sah hinauf in den Himmel, der überzogen war mit Millionen von Sternen. Nur wenige davon zogen ihren Blick an, ein ganz besonderes Sternbild, der Delphin. Jede Nacht suchte sie danach, fragte sich, ob er auch an sie dachte, vielleicht genau in diesem Moment die selben Sterne über sich betrachten würde. Verträumt schloss sie die Augen, sah in diese wundervollen Augen, spürte seine weichen warmen Lippen auf ihren. Versank mit ihm in der Unendlichkeit, einer Wolke aus Gefühlen, nach denen sie sich so sehr sehnte. Spürte wieder und wieder dieses warme, wohlige Gefühl, das sie einhüllte, kleine, elektrisierende Impulse, die sich kribbelnd durch ihren Körper zogen...


    Wenn sie dann die Augen wieder öffnete, schlug die Wirklichkeit grausam zu. Sie saß allein inmitten von Zelten, in einer Oase, die nun wieder ihnen gehörte. Die Römer waren abgezogen. Jede Bewegung hatte sie verfolgt, Ausschau gehalten, nichts war passiert. Sie waren weg, die Wüste leer. Noch leerer ohne ihn. Sie mußte ihn vergessen. Er würde nicht wiederkommen, noch nie war jemand wiedergekommen. Je mehr ihr das bewußt wurde, umsomehr zog sie sich wieder in ihre eigene Welt zurück. Die, in der sie all dem Schmerz entfliehen konnte, in der ihr niemand mehr wehtun konnte. Still, stumm... allein.

    Jeden Abend saß sie am Feuer, beobachtete das Lager der Römer und wartete. Er kam nicht. Er würde auch nicht kommen. Sie wußte es, er hatte es ihr unmissverständlich klargemacht. Trotzdem hoffte sie - wie so oft vergeblich. Du wirst einen jungen Mann kennenlernen. Er wird dir alles das schenken, was du dir wünschst. Ich werde eine unter deinen vielen Erinnerungen bleiben und eines Tages werden wir uns vielleicht wiedersehen. Vielleicht...


    Traurig drehte sie seinen Ring in ihren Fingern. Er war ihr zu groß, viel zu groß. Um ihn immer ganz nah bei sich zu haben, band sie ihn an ein Lederband, wie ein Amulett. Der Platz über ihrem Herzen schien ihr auch viel besser geeignet. Er wird dir alles das schenken, was du dir wünscht. Neriman mußte fast lachen, wenn sie daran dachte. Niemand konnte ihr schenken, was sie sich wünschte - niemand. Eine Hand legte sich tröstend um ihre Schulter.


    Abay. Er kam von hinten und setzte sich wortlos neben sie. Neriman schluckte schwer die aufsteigenden Tränen hinunter, starrte nachdenklich ins Feuer. Abay schwieg. Egal, was er sagen würde, es wäre falsch. Er konnte sich vorstellen, wie es in ihr aussah, kannte sie besser als jeder andere hier im Lager. Selbst ihr Vater wußte kaum etwas über sie. Irgendwann brach Neriman das "Schweigen". "Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden sie gehen." Sie nahm einen Stock, malte das Castellum in den Sand, wie Massa es bei ihr getan hatte und schrieb Alexandria daneben. "Das ist weit." Abay nickte. "Er wird nicht wiederkommen. Niemand wird wiederkommen. Alle verlassen mich." "Das ist nicht wahr, das weißt du." Neriman drehte sich trotzig zu ihm. "Was ist mit Khanysha? Mit Malik? 'umm (Mama)..." Ihre Augen nahmen einen gequälten Ausdruck an, mit denen sie ihn nun verzweifelt ansah. Diesen Argumenten konnte er nicht widersprechen. "ICH... ich werde nicht weggehen. Und wer weiß, vielleicht bist es eines Tages du, die mich verlässt." Neckend zog er ihr das Tuch ins Gesicht. Ablenkung war manchmal die bessere Medizin. Sie balgten und erzählten sich witzige Geschichten von früher, dann versank die Sonne endgültig und es wurde Zeit, schlafen zu gehen.