Kaum dass sie das Officium ihres Vetters verlassen hatte, eilte sie zu ihrem Cubiculum zurück. Flüchten wäre jedoch die treffendere Umschreibung gewesen. Dabei rang sie darum, die Fassung nicht zu verlieren. Sie wirkte aber dennoch fahrig, als sie sich nach ihren Sklavinnen umschaute. Lediglich Candace hatte auf ihre Rückkehr gewartet und erschrak nun über den Anblick ihrer Domina.
„Wo ist die Neue?“ fragte sie hektisch ihre Leibsklavin und sah sich dabei um. Von Evridiki war nichts zu sehen. Ihre Sklavin versuchte die Situation zu retten, indem wenigstens sie sofort präsent war. „Sie ist… Ich kann nach ihr suchen, Domina“
Die Flavia wehrte das Angebot der Sklavin mit einer eindeutigen Handbewegung ab. Es gab nun weitaus Wichtigeres zu tun, als nach einer Sklavin zu suchen. „Nein, du bleibst hier! Setz dich und schreib!“
Candace zögerte keinen Moment lang und tat, was man ihr sagte. Sie nahm einen Stylos und wartete auf das Diktat ihrer Herrin. Doch als diese retardierte, sah sie fragend zu ihr auf. „Domina?“ Die Flavia schien ganz und gar nicht bei der Sache zu sein. In ihrem Kopf begannen sich bereits schon andere Gedanken zu manifestieren.
„Nein Candace! Pack meine Sachen! Wir reisen ab! Nach Britannia – zu ihm! Dort werde ich ihn bestimmt irgendwo finden. Centho hat das einzig Richtige getan, als er dieser widerwärtigen Stadt den Rücken gekehrt hat!“ In den Augen der Flavia spiegelte sich die Verzweiflung wider. Bereit dazu, den letzten rettenden Halm zu ergreifen, war sie nun gewillt, zum Äußersten zu gehen. Ihre Sklavin jedoch, die es seit ihrem gemeinsamen Besuch in der Subura besser wusste, erhob sich langsam, blieb aber dann wie angewurzelt stehen.
„Was ist los? Beweg dich endlich!“, schrie Domitilla ungehalten. Wenn sie fliehen wollte, durfte keine Zeit verloren werden. Ihre Sklavin jedoch schien wie versteinert zu sein. Innerlich aber rang sie mit sich. Sie konnte doch nicht tatenlos zusehen, wie sich ihre Domina ins Unglück stürzte! Nein, sie war dazu verpflichtet, ihr die Wahrheit zu sagen. Das wog weitaus mehr, als das Versprechen, das sie einem Sklaven gegeben hatte.
„Domina, Dominus Centho ist nicht in Britannia… Er ist tot!”
Die Worte der Sklavin schienen an Domitilla abzuprallen. Scheinbar konnte deren Bedeutung nur schwer an sie herangehen. Und als sie nun endlich begriff, was ihre Sklavin da sagte, schüttelte sie ungläubig ihren Kopf. „Was? Was sagst du da? Woher willst du das wissen?“ Die Wut stieg in ihr auf. Ihre eigene Leibsklavin stellte sich nun gegen sie und kam nun mit fadenscheinigen Behauptungen, nur um sie hier zu halten.
„Ich weiß es von seinem Leibsklaven – Dracon. Er sagte mir, sein Herr sei tot, “ antwortete Candace mit zittriger Stimme, auch wenn sie Gefahr lief, sich nun den ganzen Unmut ihrer Herrin aufzuladen.
„Ach so, Dracon hat es dir also gesagt! Und du hattest nichts Besseres zu tun, als es für dich zu behalten?! Du mieses Dreckstück! Seit wann hintergehst du mich?!“ Domitilla kam ihr gefährlich nahe. Die Flavia musste an sich halten, um ihrer Wut nicht freien Lauf zu lassen. Candace versuchte ängstlich zurückzuweichen, zur Wand jedoch waren es kaum mehr als zwei Schritte.
„Ich habe Dracon an jenem Abend in dem Lupanar getroffen, als du… Bitte verzeih mir, Domina. Ich wollte dich doch nur vor der Trauer bewahren. Die letzten Wochen waren doch schon schwer genug für dich.“ Tränen rannen an den Wangen der Sklavin herab. Dabei weinte sie weniger aus Furcht vor Bestrafung, als aus Sorge um ihre Herrin.
Die Flavia hielt inne. Sie ließ von ihrer Sklavin ab. Endlich schien sie zu begreifen, dass auch diese letzte Möglichkeit ausgeschöpft war und es ausweglos war. Nach einer Weile kehrte sie zu ihrer ursprünglichen Absicht zurück, dem Tiberius eine Nachricht zu schreiben. Ihre Sklavin, die noch damit beschäftigt war, sich von ihrer Furcht zu erholen, wischte ihre Tränen weg und nahm wieder am Schreibtisch Platz. Sie nahm wieder den Stylos zur Hand und ritzte Buchstabe für Buchstabe in die Wachsschicht der Tabula, bis die Flavia schließlich ihr Diktat beendet hatte.
„Bring diesen Brief sofort zur Villa Tiberia!“ Die Stimme ihrer Dominia klang mechanisch. Jene Pugnazität, die sie soeben noch beherrscht hatte, war ihr verlustig gegangen.
„Aber Domina, der Abend ist bereits vorangeschritten!“, wagte die Sklavin einzuwenden. Doch damit konnte sie ihre Herrin nicht beeindrucken.
„Sofort sagte ich! Zu deiner Sicherheit kannst du dir Ajax oder Diomedes mitnehmen. Aber nun geh endlich!“ Candace nahm die Tabula an sich deutete eine leichte Verbeugung an und eilte davon.
Die Flavia indes ließ sich auf ihr Bett fallen und starrte unentwegt die Decke ihres Raumes an. Alles, woran sie ihre Hoffnungen geheftet hatte, war verloren. Man hatte sie verraten und verkauft.