Hadamars Augen weiteten sich ungläubig, und für einen Moment vergaß er ganz, weiter zu schniefen. Bitte WAS? Er sollte ab sofort JEDEN Morgen FÜNFZIG, nein, HUNDERT mal auf einen Baumstumpf rauf und wieder runter steigen? Bloß weil er da gerade nicht hatte standhalten können? Wie unfair war das denn bitteschön? Freizeit war doch sowieso Mangelware, und der Morgenappell war immer so elend früh… und jetzt sollte er noch früher raus. Und sich noch mehr abrackern. Und das nur weil…
Ein Kamerad stieß ihm einen Ellbogen in die Seite, als der Centurio Rollentauch befahl, und unterbrach damit Hadamars Jammerei – die rein gedanklich blieb. Er hätte zu gern irgendwas gesagt, sich beschwert, aber er wusste auch, dass sich die Zusatzübung dann leicht verdoppeln könnte. Auch so eine Erfahrung, die er hier gemacht hatte… mit jammern kam man nicht im Geringsten weiter.
Ein wenig frustriert nahm er also erneut Aufstellung, wischte sich dabei erneut mit dem Handrücken über die Nase und stellte fest, dass die wenigstens deutlicher weniger noch blutete als gerade eben – auch wenn seine Hände und vermutlich auch der Bereich unter seiner Nase nun wohl ein… wenig blutverschmiert waren. Als er wieder aufsah, fing er Corvinus‘ Blick auf und grinste ihn schief an. Die Standpauke, die der gekriegt hatte, war auch nicht zu überhören gewesen – und da Hadamar seinen Kameraden mittlerweile recht gut kannte, konnte er sich ungefähr denken, dass ihn das getroffen haben musste. Obwohl der Centurio, wenn man es recht bedachte, ihn eigentlich mit Lob überschüttet hatte. Einer der besten Tirones seit langem. Haha, so was würde der Centurio über ihn wohl noch nicht mal im Scherz sagen. Andererseits: Hadamar war sich gar nicht so sicher, ob er überhaupt wollte, dass der Centurio so von ihm dachte. Hatte man ja gerade mal wieder gemerkt – wer viel konnte, an den wurden auch hohe Ansprüche gestellt. Von dem erwartete man einfach mehr, und Hadamar war ganz froh darum, dass bei ihm gar niemand auf die Idee kam, an ihn dieselben Erwartungen zu stellen wie an Corvinus. Nur so als Beispiel. Auch wenn er freilich trotzdem nicht der Depp vom Dienst sein wollte… oder jedenfalls nicht allein. Er musste sich mal unter den anderen Tirones umhören, wer da was ähnliches aufgebrummt bekommen hatte von wegen Muskelaufbau nach dieser Übung in ihren Contubernia. Da konnte er ja kaum der einzige sein, und vielleicht konnte man sich zusammentun… was das Ganze schon wieder ein wenig lustiger machen würde.
Ein Blick und ein Grinsen also noch zu Corvinus, dann ging es auch schon wieder weiter – diesmal mit ihnen in der Angreiferrolle. Sie nahmen die Aufstellung ein, im Keil, Hadamar an derselben Position wie zuvor – also etwas weiter hinten –, und er fragte sich, wie um alles in der Welt er die Erfahrungen ausnutzen sollte, die er da gerade gemacht hatte. Gab wohl kaum jemanden hier, die deutlich schwächer wäre als er, oder untrainierter in dieser Übung – wie sollte er es da schaffen, die Reihe zu durchbrechen, wie der Bär von Mann es umgekehrt bei ihm getan hatte? Die Reihe, die sich gerade vor ihnen formierte, und Hadamar stellte mit einem gewissen Unbehagen fest, dass die genauso blöd aussah wie vorhin, als die Situation umgekehrt war. Darauf jetzt zulaufen? Das ging doch nie gut… und trotzdem hatten sie genau das gerade gemacht habt, hatte er selbst gerade in einer eben solchen Reihe gestanden und den Keil ziemlich furchteinflößend gefunden, der sich bereit gemacht hatte auf sie zuzurennen. Das konnte einfach nicht so schlimm sein, und umgekehrt: wenigstens die paar Tirones, die bei den anderen standen und das wie er zum ersten Mal machten, mussten jetzt wohl auch ein bisschen Muffensausen haben. Was wiederum eine Erkenntnis war, die Hadamar enorm half. Die hatten Angst? Klar hatten die Angst! Zu Recht! Jawoll!
Als sich ihre Formation dann in Bewegung setzte und loslief, hatte Hadamar sich selbst so weit aufgeputscht, dass er sich auf den Zusammenprall regelrecht freute. War auch etwas einfacher, wenn man selbst den bewegenden Part darstellte, der so richtig draufhalten durfte. Was allerdings nicht hieß, dass der Aufprall selbst eine Glanzleistung von ihm wurde. Aber: es war ganz ordentlich, jedenfalls hatte er das Gefühl. Er rammte mit seinem Scutum sein Gegenüber, und weil das wieder der Bär war, erreichte er nicht allzu viel dabei… allerdings hatte er sich diesmal besser dagegen gewappnet, und es warf auch ihn nicht zurück, sondern er konnte standhalten. Immerhin. Für einen winzigen Augenblick war Hadamar fast zufrieden mit sich selbst – als er es in den Augen seines Gegenübers aufblitzen sah. Und im nächsten Moment machte der einen Schritt rückwärts, und nahm so jeglichen Halt, den Hadamar gehabt hatte, weg.
Nun war es ja nicht so, dass Hadamar sonderlich viel Übung hatte im Formationstraining. Oder in allen möglichen anderen Dingen, die spezifisch mit dem Dasein als Legionär zusammenhingen. Worin er sich allerdings auskannte, gut auskannte, waren Prügeleien aller Art. Ob nun einfach nur eine Rangelei aus Jux mit Freuden, eine alkoholgetränkte Schlacht in einer Taverne, oder eine ernste Schlägerei auf der Straße, gemeinsam mit seinen Freunden gegen irgendwelche anderen Deppen, die meinten Stunk machen zu müssen: Hadamar war häufig bei so was dabei gewesen, sowohl direkt im Getümmel als auch am Rand als Zuschauer. Und was man zwangsläufig bei dieser Sorte von Kampf lernte, war Hinterhältigkeit. Sie selbst anzuwenden, sie zu erkennen beim anderen – und vor allem, einfach jederzeit damit zu rechnen und blitzschnell auf die geänderten Umstände dann zu reagieren. Als er also das Blitzen in den Augen des anderen sah, ahnte er schon – mehr unbewusst als bewusst –, dass jetzt irgendetwas kommen würde… und spannte die Muskeln an, wappnete sich gegen was auch immer. Und als es dann kam, als ihm so urplötzlich der Halt entzogen wurde, geriet er nur kurz ins Wanken, grätschte seine Beine ein wenig schräg auseinander, um einen breiteren Stand zu haben – und setzte dann erst nach, nicht hilflos torkelnd, weil er das Gleichgewicht verloren hatte, wie sein augenblicklicher Gegner wohl bezweckt hatte, sondern bewusst und mit Schwung, um seinen Gegner ein weiteres Mal zu rammen. Was ihm auch gelang, auch wenn der gewünschte Effekt, dass es den anderen langlegte, erneut an der schieren Masse des Legionärs scheiterte… aber damit gerechnet hatte er immerhin ganz offensichtlich nicht.