Beiträge von Lucius Duccius Ferox

    Tariq antwortete ein wenig zögerlich, was sonst nicht seine Art war. Aber er selbst war auch anders als sonst. Das war Samhain, mutmaßte Hadamar... dieses Fest berührte jeden, der es beging, selbst wenn er damit nur am Rande in Berührung kam wie Tariq. Das Bewusstsein um die Geister der Toten, die einem nahe kamen zu dieser Jahreszeit, die Gedanken, die damit einher gingen, das machte etwas mit einem. Mit jemandem, der dieses Fest nicht schon seit Jahr und Tag kannte, sondern sich wie Tariq wohl erst jetzt damit beschäftigte, sicherlich noch mehr.


    In Hadamars Augen spiegelte sich Trauer wider, als Tariq schließlich von seinen Eltern sprach. Es gab viele harte Schicksale, die die Götter für manche bereit hielten, und in aller Regel dachte Hadamar sich nichts dabei. So war das Leben halt, so waren die Götter, und es spielte für ihn noch nicht mal wirklich eine Rolle, ob sie dabei einfach nur würfelten oder sich tatsächlich etwas dabei dachten. Man konnte nichts an seiner Ausgangsposition ändern, und auch nicht daran, was einem fremdbestimmt zustieß – man konnte und sollte den Göttern opfern, damit sie einem wohlgesonnen waren, aber mehr ließ sich da nicht machen. Aber man konnte immer selbst entscheiden, was man anfing mit dem, was die Götter einem hinwarfen. Und das war das, was Hadamar interessierte, weil es das einzige war, was Menschen wirklich beeinflussen konnten.


    Aber dieser Junge, mit seinem Schicksal, der war ihm ans Herz gewachsen. Und bei ihm tat es ihm weh, dass sein Leben bisher so verlaufen war, ohne dass Tariq irgendwas dafür konnte. „Du kannst versuchen dich darauf einzulassen. Auf den Wind lauschen, die Geräusche. Vielleicht schicken sie dir ein Zeichen, nicht unbedingt heute Nacht, aber in ein paar Tagen, wenn Neumond ist. Vielleicht ist es deutlich genug, oder auf eine so spezielle Art, dass es eigentlich niemand anders sein kann.“ Immer noch ein wenig traurig deutete er ein leichtes Heben der Schultern an. „Aber wirklich sicher sein können wir uns erst, wenn wir selbst ins Reich der Toten wechseln.“


    Bei Tariqs nächster Frage stockte Hadamar erneut, diesmal mitten im Abbeißen begriffen. Er beging dieses Fest jetzt schon so lange... er hatte sich seit seiner Kindheit diese Frage eigentlich nicht mehr gestellt, einfach weil er wusste, dass das nicht ging. Er sprach schon, hin und wieder, aber es blieb halt ein einseitiges Gespräch, selbst in jenen Momenten, in denen er den Eindruck hatte jemand hörte zu, und schickte vielleicht sogar ein Zeichen. Während er endgültig abbiss und kaute, überlegte er also zum ersten Mal seit Jahren wieder ernsthaft, mit wem er würde reden wollen. Sein Vater? Da war er sich nicht so sicher – interessant wäre es sicher, aber nach all den Jahren war es nicht so, dass er sich danach sehnte. Und Eldrid und Witjon... Hadamar starrte in die Flammen, als er an die beiden dachte, vor allem an seine Schwester, und aus dem Loch in seiner Brust schlugen ebenfalls Flammen hoch. Sie begann in ihm zu wüten, brannten lichterloh und nahmen ihm die Luft zum Atmen.


    Er presste die Lippen aufeinander und kämpfte mit sich, zwang die Flammen und den Schmerz Stück für Stück dorthin zurück, woher sie gekommen waren: zurück in das Loch. Als er endlich wieder in der Lage war zu schlucken, hatte er Mühe, das Fleisch an dem Kloß in seinem Hals vorbeizubringen. „Nein“, erwiderte er dann kurz angebunden. Nein. Eigentlich war das gelogen, das wusste er – wenn es wirklich die Möglichkeit gäbe, natürlich würde er mit den beiden sprechen. Aber es gab sie nicht, und er wollte sich nicht damit aufhalten über etwas nachzudenken, sich womöglich nach etwas zu sehnen, was nicht möglich war. Es war Zeit- und Energieverschwendung, fertig. Und, aber das gab er nicht mal vor sich selbst wirklich zu: er würde damit Gefahr laufen, dass das Loch in ihm den Schmerz unwiderruflich freigab. Seine Zähne senkten sich wieder in das Fleisch, und er aß weiter, obwohl er nichts mehr schmeckte, und obwohl das Schlucken mühsam war.


    Den Rest der Mahlzeit verbrachten sie schweigend, und als sie fertig waren, goss Hadamar den Rest des Mets ins Feuer und legte die dritte Portion des Fleischs zu dem Stein, beides als Opfergaben an die Götter. Dann begann er leise zu singen. Er machte das nicht jedes Jahr, aber diesmal fühlte er sich einfach danach. Es war ein Lied, das er von seiner Mutter kannte, die es früher immer gesungen hatte, in irgendeinem alten Dialekt, den ihre Vorväter gesprochen hatten.


    Dark the stars and dark the moon
    Hush the night and the morning loon
    Tell the horses and beat on your drum
    Gone their master, gone their son
    Dark the oceans, dark the sky
    Hush the whales and the ocean tide
    Tell the salt marsh and beat on your drum
    Gone their master, gone their son
    Dark to light and light to dark
    Three black carriages, three white carts
    What brings us together is what pulls us apart
    Gone our brother, gone our heart

    Ioanna Gika – Gone


    Er wusste nicht, was es war. Vielleicht lag es an Tariqs Frage vorhin. Vielleicht daran, dass es das Lied ihrer Mutter war, die es ihnen vorgesungen hatte, als sie beide klein gewesen waren, Eldrid und er, damals schon, als es noch nur sie beide gegeben hatte. Und auch dann, als es wieder nur sie beide gewesen waren, weil ein Bruder im Kindbett gestorben war. Vielleicht daran, dass er den Schmerz vorhin nur notdürftig hatte wegschieben können, dass er immer noch viel zu dicht unter der Oberfläche tobte. Aber plötzlich hatte er das Gefühl, dass in seinen Gesang eine Frau miteinstimmte, leise, ein wenig geisterhaft, und wie aus großer Ferne. Er wurde immer leiser, bis er schließlich verstummte, lauschte in den Wind und meinte Eldrid zu hören. Eldrid, wie sie früher immer mit ihrer glockenklaren Stimme mitgesungen hatte.


    Vielleicht war es der Wind. Vielleicht war es auch seine Erinnerung, die ihm einen Streich spielte. Aber für einen Moment hatte Hadamar das Gefühl, dass seine Schwester tatsächlich hier war, und der Schmerz brach wieder durch und wühlte sich durch seine Brust, und diesmal schaffte er es nicht, ihn schnell wieder zu verdrängen.

    Tariq reagierte leichthin, und obwohl Hadamar sich nicht völlig sicher war, ob er auch so empfand – er war zu erleichtert, dass er halbwegs glimpflich aus diesem Fettnäpfchen wieder herausgekommen war, um da jetzt groß nachzustochern. Ganz davon abgesehen, dass er es kaum besser gemacht hätte, wenn er da jetzt weiter darüber geredet hätte, davon war er überzeugt. Also war er einfach froh und ließ es auf sich beruhen.


    Bei Tariqs nächsten Worten wusste Hadamar für einen Moment nicht, was da plötzlich für ein Gefühl in ihm aufstieg. Erst einen Augenblick später realisierte er, dass es Freude war. Und Stolz. Der Junge wollte ihm nacheifern? Ihm? Das war... eine neue Erfahrung für Hadamar. Gut, als Centurio wollte und musste er schon auch Vorbild sein für seine Leute, und er wusste, dass er das zumindest für einige war – und hoffentlich noch für viele mehr, von denen er es nicht wusste. Aber da gehörte das dazu, und keiner von den Milites bedeutete ihm auch nur ansatzweise so viel wie Tariq. Tariq war Familie, und in Bezug auf seine Familie war Hadamars Denkweise im Grunde immer noch die gleiche wie vor zehn, zwanzig Jahren: dass er eher das schwarze Schaf war. Der Katastrophen-Duccier, wie Witjon irgendwann mal gesagt hatte. Der nichts Vernünftiges tat, der sich nicht belehren lassen wollte, der zu allem nein sagte und keinen Bock hatte, und der sich am Ende von jetzt auf gleich auf dem Marktplatz für die Legio hatte anwerben lassen, ohne jemandem Bescheid zu geben. Der damit dann erst mal verschwunden war, weil die Anwerbung eine sofortige Sache gewesen war, und der erst einen Tag – oder waren es mehrere gewesen? – später eine mühsam gekrakelte Nachricht an seine Familie geschickt hatte. Was hatte er noch geschrieben? Kaine Sorge. Bin bei Legio. H., oder so ähnlich, viel mehr war das nicht gewesen, sonderlich gut schreiben hatte er noch nicht können damals. Hadamar hatte das ganze damals freilich anders gesehen, und das tat er bis heute – nicht alles war seine Schuld gewesen, und es war auch nicht so gewesen, dass er sich für seine Familie gar nicht interessiert hätte. Dass er sich beispielsweise, um diesen Brief möglich zu machen, bei einem Miles eine Woche lang Rüstung polieren eingehandelt hatte, damit der die Botschaft zu seiner Familie brachte, weil er selbst weder das Lager verlassen durfte noch Münzen hatte – das zeigte, wie viel Wert er darauf gelegt hatte, gemessen daran, dass er sich gerade um solche Arbeiten eigentlich gern gedrückt hatte. Aber: heute konnte er im Rückblick auch verstehen, dass es für seine Familie nicht einfach gewesen war mit ihm.


    So oder so: das war so eingebrannt in ihm, dass es bis heute sein Bild von sich in Bezug auf seine Familie prägte. Und dass ausgerechnet Tariq, der für ihn inzwischen zur Familie gehörte, jetzt kundtat, er wollte am liebsten tun was er tat... geschmeichelt war noch gar kein Ausdruck dafür, wie Hadamar sich damit fühlte. Es kam nur noch selten vor, dass er spüren konnte wie seine Ohren die Farbe seiner Haare annahm, aber jetzt war es mal wieder so weit, und noch viel seltener war der Grund: nicht peinliche, sondern freudige Verlegenheit. „Legio geht nicht, das stimmt, aber hat der Kerl dann wenigstens auch was von den Auxiliaren erzählt?“ fragte Hadamar nach. „Also. Ich glaub als Händler hättst du ganz sicher Erfolg, du bringst dafür alles mit. Kannst Sachen und Leute einschätzen, kannst gut reden. Soufian weiß das auch, der nimmt dich sicher. Er wär blöd wenn er’s nicht täte.“ Genauer gesagt war es besser, dass Soufian offenbar noch nicht wusste, dass Tariq in diese Richtung dachte – sonst hätte er ihn wahrscheinlich schon längst so fest eingebunden, dass der Junge nur noch schwer rauskommen würde. Hadamar vermutete, der einzige Grund, warum Soufian Tariq nicht schon längst mehr in Beschlag genommen hatte, war er – sein Kumpel wusste, dass Tariq zu Hadamar gehörte und nicht zu ihm, und dass er deshalb besser abwartete, bis von Hadamar ein Signal kam. Oder von Tariq selbst. „Aber wenn du wirklich in den Exercitus willst... die Auxiliareinheiten sind explizit für Peregrini. Ist nicht genau das was ich mach, aber sie gehören zum römischen Heer wie die Legionen auch. Sind halt spezialisierte Einheiten – die Reiterei, die Bogenschützen, ein paar andere noch, je nach Provinz. Oder du kannst zur Classis. Kannst dir damit auch das Bürgerrecht verdienen, es dauert halt nur, weil du’s erst nach der Dienstzeit kriegst.“


    Bei Tariqs Grinsen und seinem Kommentar, er sei schneller als seine Schwester, winkte Hadamar nur mit einem ebensolchen Grinsen ab. Sollte Tariq je seine Schwester kennenlernen, würde er schon sehen, was Dagny drauf hatte. Wenn die Kleine sich nicht komplett geändert hatte, dann konnte sie wahrscheinlich sie beide gleichzeitig in die Tasche stecken, und das lag gleichermaßen daran, wie schlau sie war, wie daran, dass man sie unterschätzte, weil sie lieb aussah und große Kulleraugen machen konnte.

    Hadamar verging das Grinsen ein kleines bisschen, als ihm klar wurde, dass er mal wieder in ein Fettnäpfchen getreten war. Er hatte einfach nur rumgeblödelt und nicht darüber nachgedacht, dass sein „sich auf der Straße rumtreiben“ und das, was Tariq darunter verstand, sehr weit auseinander lag. Er räusperte sich. „So gut es ging. Für mich war das...“ Ein wenig verlegen zuckte er die Achseln und kratzte sich am Hinterkopf. Was sollte er denn sagen? Dass es lustiger gewesen war für ihn? Das war komplett richtig, aber das konnte er Tariq kaum unter die Nase binden, wie sehr sich ihre Jugend voneinander unterschied. Und das nur, weil seine Familie Glück gehabt hatte, weil sie einen neuen Platz zum Leben gefunden hatten, nachdem ihr Stamm fast ausgerottet und sie vertrieben worden waren – ein Platz, an dem sich ihre Mühe etwas aufzubauen auch ausgezahlt hatte. „Abwechslung“, sagte er schließlich. Das war auch richtig, und es war vielleicht nicht viel besser, aber immerhin ein bisschen. Hoffte er. „Ach, einige“, grinste er dann zurück. „Und die sind froh, dass es nur das war, und beschweren sich nicht auch noch darüber.“


    Hadamar versuchte in Tariqs Gesicht zu lesen, versuchte zu sagen, was er wohl dachte – konnte aber ziemlich schlecht einschätzen, was wohl in dem Jungen vorging. Er schien nicht unbedingt begeistert zu sein... aber er versprach dann, immerhin, dass er vorsichtig sein würde. Hadamar hoffte, dass er das auch ernst meinte. Soufian war erfahren, der wusste genau, wen er über den Tisch ziehen konnte und bei wem er das besser ließ – aber Tariq halt nicht, im Zweifel. Und obwohl Hadamar ihn aus jedem Ärger rausboxen würde und, zumindest im Fall der Legio, wohl auch konnte, war es ihm lieber, wenn es erst gar nicht so weit kam. Er nickte, zumindest für den Augenblick zufrieden – und auch ein bisschen erleichtert, dass das so leicht gegangen und so schnell vorbei war, dieser Moment, in dem er plötzlich das Bedürfnis hatte vernünftige Ratschläge geben zu müssen –, da sprach Tariq weiter. „Eine Möglichkeit?“ fragte er nach. Seit wann war Ärger mit der Legio kriegen eine Möglichkeit für irgendwas? Im nächsten Moment begriff er. Und es zeigte ihm erneut, wie anders Tariqs Start ins Leben war als seiner. Irgendwas musst du machen, er konnte diese Worte noch so gut hören, die ihm seine Mutter und gefühlt jeder andere aus seiner Familie damals vorgehalten hatte, bei jeder Gelegenheit. Er hatte nichts machen wollen, obwohl ihm, da musste er seiner Mutter zumindest heute Recht geben, sehr vieles offen gestanden hätte. Tariq dagegen... er wollte, aber seine Chancen waren deutlich begrenzter. Trotzdem gab es einen Punkt, an dem Hadamar meinte einhaken zu können, und es war genau das, was er sich damals gewünscht hatte: dass sich irgendjemand dafür interessierte, was er selbst denn eigentlich wollte. Nicht als entnervte Frage hingeschmissen, weil er nur immer zu allem sagte, dass er eben nicht wollte, sondern aufrichtig gemeint. „Was willst du denn machen? Willst du bei Soufian mit einsteigen?“ Er versuchte seinen Blick zu halten, nur für den Fall, dass Tariq wegsehen wollte. „Oder was meinst du mit der Legio? Willst du das?“


    Beim Thema Geschenke war Hadamar erleichtert. Tariq würde nach Caesarea reiten und sich drum kümmern, das war doch hervorragend. Irgendwas würde er sicher finden... „Oh nein.“ Hadamar schüttelte den Kopf, halb grinsend, halb gespielt erschrocken. „Ganz sicher nicht. Sonst sag ich ihr, dass die Idee auf deinem Mist gewachsen ist, und dann bist du genauso dran wie ich.“

    „Ja?“ Neugierig sah Hadamar den Optio an. „Während du in Inferior stationiert warst? Wann war das?“ Ihm war das in dem Moment selbst nicht so bewusst, aber allein die Aussicht, Neuigkeiten aus der Heimat zu hören, die jemand direkt aus eigener Erfahrung erzählen konnte – und in dem Fall zählte für ihn alles als Neuigkeit, was von jemandem kam der dort gewesen war, nachdem er Mogontiacum verlassen hatte –, ließ ihn auf mehr hoffen. Er hatte lange nichts mehr aus seiner Heimat gehört, abgesehen von den Briefen seiner Familie, und das war einfach etwas anderes, als jemandem zuzuhören, der tatsächlich davon erzählte. „In welchem Eck hier bist du aufgewachsen? Dann müsstest du dich ja eigentlich auch mit den Leuten auskennen.“


    Was der Optio danach auch direkt bewies, als er seine Einschätzung über die Gegend und die Tempelfürsten abgab. Bei dem Hinweis auf Satala nickte Hadamar. „Ja, das stimmt schon. Aber Mogontiacum ist auch nix anderes, eigentlich. Konnte sich nur ganz entwickeln als hier. Aber du hast schon recht, das mag alles leichter sein in einer Gegend, in der man zumindest in der warmen Jahreszeit keine Probleme hat die Mäuler zu stopfen.“ Er zuckte die Achseln. „Unterm Strich bleibt’s dabei, dass sich hier wahrscheinlich wenig machen lässt außer militärische Machtdemonstrationen, so lange die Bevölkerung weiß, dass die Tempelfürsten die sind, die für sie sorgen, während sie von Rom nicht viel haben und nicht viel sehen, außer uns vielleicht. Und die Fürsten wissen das offensichtlich sehr genau – und sehr gut für sich zu nutzen.“


    Als der Optio danach begann, sich etwas aufzuregen, musste Hadamar ein Schmunzeln unterdrücken, erst recht, als er das Glucksen hörte, das vom Begleiter von Seius kam. Diese Arroganz gegenüber Rom... Der Optio war von Rom eindeutig mehr eingenommen als er selbst es war. Hadamar sah das recht pragmatisch, im Grunde. Mogontiacum war seine Heimat, es lag in einer römischen Provinz, er war Germane und gleichzeitig römischer Bürger, seine Familie hielt die alten Traditionen hoch und ehrte ihre Ahnen, aber sie hatte sich auch viel in der römischen Provinz und mittlerweile Rom selbst eingebracht, und daher umgekehrt sehr von Rom profitieren können. Sein Herz hing trotzdem nicht an Rom selbst. Weder an diesem riesigen Reich noch an seinem Zentrum, das manche als den leuchtenden Mittelpunkt der Welt sahen. Es hing an seiner Familie und seiner Heimat... und davon hatte er nicht nur eine, sondern zwei, seit er in die Legio eingetreten war. Rom bedeutete für ihn also in erster Linie, dass seine Familie sich ein gutes Leben hatte aufbauen können, und in zweiter, dass er selbst eine zweite Familie gefunden hatte – das Militär, in dem er seit Jahren seinen Dienst versah, seine Centurie, seine Kameraden. Die, mit denen und für die er all die Jahre geschwitzt und geblutet hatte. „Wer weiß, vielleicht reicht’s schon wenn man ein paar gezielt bevorzugen würde... müssten halt die richtigen sein, die die nur aufs Geld aus sind. Ich bin ziemlich sicher, dass es nach wie vor auch welche gibt, die nicht einfach nur arrogant sind, sondern Rom als Feind sehen. Aber dafür braucht man Informationen. Einheimische, die in unserem Dienst stehen. Speculatores, die herausfinden können, wo man welchen Hebel richtig ansetzt. Ein Gefangener, der auch wirklich zum Reden anfängt...“ Jetzt ließ er sein Schmunzeln sehen. „Gut, dass ihr zumindest schon mal einen geschnappt habt.“

    Uruz. Hatte das irgendwas zu bedeuten? Es gab Völvas, manchmal auch Goden, die an Samhain auch die Zukunft weissagten, manche Stämme hatten diese Tradition. Aber er hatte davon zu wenig Ahnung. Er wusste nicht, was er da gerade gesehen hatte. Ob überhaupt etwas, und wenn ja, ob es etwas zu bedeuten hatte. Trotzdem konnte er sich nicht ganz davon lösen – bis Tariqs Stimme ihn plötzlich aus seinen Gedanken riss. Fragend sah er auf, einen winzigen Moment sogar verwirrt, bis er ins Hier und Jetzt zurückgefunden hatte, und etwas länger dann grübelnd, während er darüber nachdachte. „Ich bin kein Gode, ich hab davon nicht wirklich Ahnung“, erwiderte er leise. „Aber ich glaub nicht, ehrlich gesagt. Man kann sie spüren, denk ich, gerade zu dieser Jahreszeit, wo sie zu uns kommen können... vielleicht auch wahrnehmen, was sie einem mitteilen wollen, wenn man dafür empfänglich ist, oder die Götter es wollen oder so. Aber mit ihnen sprechen, so wie wir zwei gerade...“ Er schüttelte den Kopf. Und fragte sich dann, ob Tariq jetzt davon enttäuscht war. „Gibt’s jemanden, mit dem du reden wollen würdest, wenn’s möglich wär?“


    Noch während er sprach, prüfte er den Hasen und stellte fest, dass dieser fertig geworden war. Gemeinsam teilten sie das Fleisch auf, für sie beide und eine dritte Portion als weitere Opfergabe für die Götter und die Toten. Hadamar hatte nur einen Becher dabei, deswegen kam der mit neuem Met gefüllt in die Mitte zwischen sie beide, und dann fingen sie an zu essen, während sie sich leise weiter unterhielten. Auch das war... anders als Zuhause. Samhain war ruhiger, das schon, aber das Festmahl hatte trotzdem eine andere Atmosphäre als hier. Man erzählte sich Geschichten von den Toten, Anekdoten, nicht nur traurige, auch lustige, um sie sich in Erinnerung zu rufen und darin lebendig zu halten. Genau dadurch wurde Samhain auch zu einem Familienfest, einem melancholischen vielleicht, aber anders als in reiner Trauer schwang in Melancholie immer auch etwas... etwas Schönes mit. Melancholie war nicht bitter, sondern bittersüß. Hadamar unterdrückte ein Seufzen. Er hatte durchaus öfter den Wunsch, seine Heimat endlich mal wiederzusehen, aber er verspürte selten Heimweh, das echte, das einen tief in der Seele schmerzte. Aber an den traditionellen Festtagen, da überkam es ihn schon.

    Hadamar grinste breit. „Was glaubst du wo ich mich rumgetrieben hab, als ich in deinem Alter war?“ Das hieß, als er in Tariqs Alter gewesen war, hatte er sich zur Legio gemeldet – aber davor hatte er sich liebend gern vor Arbeit und Aufgaben und Unterricht gedrückt und sich stattdessen, wann immer es ging, mit seinen Freunden irgendwo rumgetrieben. Was, naja, nicht allzu oft ging, so viel Verantwortungsgefühl hatte er dann doch auch damals schon gehabt, dass er seinen Spaß auf die Freizeit geschoben und sich zähneknirschend um seine Pflichten gekümmert hatte. Mehr oder weniger zuverlässig. „Und bei dem ein oder anderen renitenten jungen Kerl... in meiner Einheit... schadet das auch nix.“ Er lehnte sich wieder zurück, nachdem er sich noch mehr Trauben geschnappt hatte, und nickte dann besänftigend, als Tariq dann etwas zurückhaltend klang. „Das tut er definitiv. Nur...“ Er zögerte einen Moment lang, unschlüssig, ob und wie er weitersprechen sollte. Eigentlich war das ja als Witz gemeint gewesen, aber Tariq hatte es etwas ernster aufgefasst, und wenn Hadamar ehrlich war, dann war zumindest ein bisschen Ernst auch bei ihm dabei. „Soufian ist ein Schlitzohr. Er zieht auch gerne mal Leute über den Tisch.“


    Und das war einer von zwei Gründen, die es so schwierig machten für Hadamar darüber zu reden. Er war ja gar nicht so anders. Sicher, er riss sich zusammen, er dachte weit mehr nach als früher, er setzte das mittlerweile sehr gezielt ein – als Centurio konnte er gar nicht anders. Aber unterm Strich war er selbst ein Schlitzohr, immer schon gewesen. Vielleicht nicht ganz so sehr wie Soufian, aber das lag wohl eher an ihrer unterschiedlichen Berufswahl denn an ihrem Wesen. Der andere Grund saß vor ihm. Tariq mitzunehmen damals, ihn vor dem Carcer oder sonst was zu bewahren und ihm Zeit zu schenken war goldrichtig gewesen. Er wollte nicht, dass der Junge dachte, dass er immer noch kein Vertrauen in ihn hatte. Aber er war immer dann am besten gefahren, wenn er einfach ehrlich gewesen war, also entschied er sich auch diesmal dafür. „Das muss nix schlechtes sein, das tu ich auch ab und zu. Aber es kann halt für Ärger sorgen, wenn man nicht aufpasst. Grad im Umgang mit der Legio. Also... sei einfach vorsichtig.“ Da war noch ein dritter Grund, bemerkte er, warum das schwierig war: weil er sich wirklich, wirklich komisch dabei vorkam, in so etwas wie einem familiären Umfeld plötzlich in der Rolle dessen zu sein, der so was sagte – und nicht von dem, der es gesagt bekam.


    „Was Frauen halt so mögen“, bestätigte Hadamar, und diesmal hatte er den Anstand, wenigstens zu versuchen das Grinsen zu unterdrücken – was ihm nur halbwegs gelang, weil er ziemlich genau ahnte, was in Tariqs Kopf jetzt vorging. „Das ist kein Problem, ich bring die Tage was vorbei.“ Als Centurio war sein Sold nicht schlecht, und er brauchte fast nichts davon. Und wenn sich die Gelegenheit ergab, lieh sich Soufian hin und wieder Geld von ihm – und wenn er es zurückzahlte, war fast immer mehr draus geworden. „Mh...“ machte er. „Also, Dagny weißt du ja, rote Haare... was Grünes vielleicht? Dagmar und Octavena haben beide braune Haare...“ Er zuckte die Achseln, jetzt doch wieder weniger amüsiert und mehr hilflos. „Ich weiß auch nicht, ich hab sie seit Jahren nicht mehr gesehen. Dagny ist mittlerweile auch erwachsen, also auf jeden Fall nix besorgen für nen Kind, sonst reißt sie mir den Kopf ab.“

    Hadamar bemerkte durchaus, dass jemand sich näherte. Er war zu lange Soldat, um nicht immer einen Teil seiner Aufmerksamkeit, und sei es nur unbewusst, seiner Umgebung zu widmen. Wachsam zu sein. Er sah nicht auf, aber er lauschte auf die sachten Geräusche, das Klappern der Hufe, wenn sie auf Steine traten, das leise Schnauben, das aus einer anderen Richtung kam als von dort, wo sein Pferd stand, lauschte darauf wie sich beides näherte – und schließlich aufhörte. Seine Hand hatte sich schon längst dem Griff seines Sax genähert, das neben ihm lag. Seine Sinne wurden immer schärfer, je näher der Besucher kam – bis er aus dem Augenwinkel im flackernden Feuerschein sehen konnte, dass es Tariq war. Beinahe unmerklich entfernte sich seine Hand wieder vom Schwert, während er immer noch ins Feuer sah. Erst nach einem weiteren langen Moment sah er auf und nickte Tariq stumm zu. Er war sich nicht sicher gewesen, ob der Junge kommen würde – umso mehr freute er sich darüber. Er mochte mit den germanischen Bräuchen wenig anfangen können... generell mit Bräuchen und Traditionen, hatte Hadamar den Eindruck bekommen im Lauf der Jahre, auch wenn Tariq bei diesem Thema nicht allzu von sich gab – aber dass er da war, bedeutete ihm gerade in diesem Jahr mehr, als er bis jetzt geglaubt hatte. Bis jetzt, wo Tariq erschienen war. Er mochte bei diesem Ritual im Grunde allein sein, weil keiner sonst da war, dem es etwas bedeutete, und der die Toten kannte, die er ehren wollte. Aber Tariq war im Lauf der Jahre Familie geworden, das wurde Hadamar in diesem Augenblick bewusst. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln, als sich ihre Blicke kurz trafen. Dann wandte Hadamar sich wieder dem Feuer zu.


    Einen weiteren, etwas längeren Moment blieb er noch so, bevor schließlich wieder Bewegung in ihn kam. Er goss etwas von dem Met in einen mitgebrachten Becher – der Met war selbstgemacht, und es war immer ein Glücksspiel, ob er ihm gelang oder nicht. Hadamar machte sich den Aufwand selten, eigentlich nur, wenn er etwas davon brauchte für ein Opferfest... was blieb ihm anderes, hier war Met, echter Met, kaum zu kriegen. Diesmal war es nicht der beste, der ihm schon mal gelungen war, aber auch nicht der schlechteste, immerhin. Er schüttete einen Schluck ins Feuer, das zischte und Flammen hochschlagen ließ als Reaktion darauf. „Wodan“, murmelte er. „Lass den Gefallenen in Walhall eine würdige Feier zuteil werden.“ Ein weiterer Schluck fand den Weg ins Feuer. „Hel. Sorge für die Toten in deinem Reich.“ Eigentlich war mehr zu sagen – aber er war kein Gode. Es war nicht an ihm, sich an die Götter zu wenden bei Opferfesten wie diesen, und sowieso fehlten ihm bei so was immer die Worte. Also machte er das, was er seit Jahren schon machte: er führte das Ritual größtenteils schweigend durch. Er bot Tariq den Becher an, für den Fall, dass er auch einen Schluck vergießen wollte, dann zog er den Hasen heran und öffnete ihm mit einem raschen Schnitt die Kehle. Das Blut schoss schnell hervor und sprudelte in die Schale, die er dafür bereit hielt, während das Tier selbst in seiner Ohnmacht zu zucken begann, als das Leben aus ihm herausrann. Es dauerte nicht lange, bis es vorbei war – obwohl für einen Hasen ganz ordentlich, war es eben doch ein kleines Tier, und so verging nicht viel Zeit, bis er den toten Körper beiseite legen konnte.


    Mit der Schale in der Hand machte er dann die paar Schritte vom Feuer zu dem Stein, den besonderen. Den Opferstein. Er tunkte zwei Finger in das frische, warme Blut und begann um den Stein herum Runen auf den Boden zu zeichnen. „Jera“, murmelte er wieder, und zeichnete die Rune westlich des Steins, für die diesjährige Ernte, für das vergangene und das kommende Jahr. „Isa.“ Er tunkte die Finger wieder ein und zeichnete Isa im Norden, für das Eis des nahenden Winters, der Kälte und Dunkelheit bringen würde, und oft genug den Tod. „Berkana.“ Diese Rune fand ihren Platz östlich, für die Birke, die mit ihrem zarthellen Stamm und ihrem lichten Grün wie kaum ein anderer Baum für das Erwachen im Frühling stand, der nach dem Winter wieder ins Land ziehen würde, so die Götter wollten. „Fehu.“ Mit frischem Blut auf seinen Fingern zeichnete er Fehu im Süden, für das Vieh, das ein Zeichen für Wohlstand war, auf dass die Götter das kommende Jahr gut werden lassen würden. „Ansuz.“ Die letzte Rune zeichnete er schließlich auf den Stein, der sich jetzt genau in der Mitte der vier anderen Runen befand – für die Götter, und für sein Vertrauen in sie. „Habt Dank für das vergangene Jahr, für alles, was gut darin war. Segnet das kommende, so es euch gefällt.“


    Noch so ein Grund, warum er ungern bei solchen Zeremonien etwas laut sagte. Es war nicht nur, dass er das Gefühl hatte ihm fehlten die nötigen Worte dafür – die paar, die er dann doch fand, oder die er sich vorher zurecht gelegt hatte, klangen irgendwie nicht nach ihm. Er konnte schon sorgsam formulieren, aber er machte sich meistens einfach nicht die Mühe. Aber den Göttern musste Respekt gezollt werden, auch in der Sprache, und so wählte er Formulierungen, die sich... fremd anhörten, wenn sie aus seinem Mund kamen. Er hielt noch einen Moment inne, dann griff er nach dem Hasen, häutete ihn mit schnellen Bewegungen, weidete ihn mit Tariqs Hilfe aus und ließ ihn dann über dem mittlerweile etwas heruntergebrannten Feuer rösten. Während er darauf wartete, dass das Fleisch gar wurde, betrachtete er im flackernden Feuerschein die Runen, die er gezeichnet hatte. Das Blut auf dem Stein verlief sachte nach unten, ein paar Tropfen suchten sich ihren Weg über die raue Oberfläche des Steins, der Schwerkraft folgend. Die beiden oberen, leicht schrägen Striche waren mehr oder weniger zu einem geworden, weil vor allem von dem oberen bereits so viel heruntergelaufen war. Den weiteren Weg nach unten suchte sich das Blut von der Spitze der beiden Striche aus, die beinahe eins waren. Das Feuer flackerte wie in einem letzten Aufbäumen noch einmal hoch, und für einen Moment sah Ansuz fast aus wie Uruz. Hadamar starrte für einen Moment wie gebannt darauf – dann blinzelte er, und der Eindruck war weg.

    Hadamar zog ein bisschen die Augenbrauen hoch bei der Frage, die Tariq noch nachschob. „Für den Moment schon“, brummte er, bevor er sich ein paar Trauben in den Mund schob. Er unterdrückte einen Laut der Zufriedenheit, als er sie zwischen seinen Zähnen platzen ließ und der süße Fruchtsaft über seine Zunge lief. Der Kontrast zu Posca könnte kaum größer sein, aber genau das mochte er. „Aber die kommen immer wieder... sonst bräuchten wir ja die Grenzwache net“, ergänzte er noch, kaum dass er geschluckt hatte.


    Da grinste der Kerl einfach nur, als er ihn nach seinen Quellen fragte. Frech noch dazu. Und rieb ihm einen von Soufians Sprüchen unter die Nase. Hadamar bemühte sich einen Augenblick lang, ernst drein zu schauen, aber es gelang ihm nicht wirklich, also gab er es auf. Stattdessen neigte er sich weit genug aus den Kissen, in denen er gefühlt halb versunken war, dass er Tariq erreichen und ihm eine spielerische Kopfnuss geben konnte. „Du musst dir nicht alles von Soufian abschauen. Und was für ein Geschäft hast du mit der Legio?“ Sein Grinsen verrutschte allerdings ein bisschen, als Tariq bestätigte, was ihm ohnehin schon klar gewesen war: es hatte sich rumgesprochen. Das war klar gewesen, aber trotzdem: gefallen musste es ihm nicht. Das würde ihnen noch länger nachhängen, das wusste er, und das wiederum fand er unangemessen. Es gab eine Strafe, die wurde ausgeführt, danach war das Thema erledigt, so sah er das. Tratschten andere darüber, war das aber nicht so.


    Aber wenn er seiner ganzen Centurie Straßenarbeit aufbrummte und dafür noch dazu eine andere ablöste, die eigentlich eingeteilt gewesen war, dann war zu erwarten, dass das die Runde machte. Er wusste wie das war mit Legionären und Tratsch, er hatte früher selbst oft davon profitiert, weil er seine Ohren gespitzt und auf die Art vieles mitbekommen hatte – und er sah zu, dass er auch heute immer ein oder zwei Milites hatte, denen er vertraute, die für ihn die Ohren offenhielten, seit er als Centurio ein bisschen... nun ja, eingeschränkt war, weil ihm keiner mehr was erzählte.

    Tariqs finsteres Gesicht entschädigte ihn dann aber komplett. Er glaubte tatsächlich, dass er mitmachen musste... aber nur einen Moment, dann ließ Hadamar ihn vom Haken. Nur um einen Augenblick selbst daran zu zappeln, weil er mit der Frage nicht gerechnet hatte – und auch keine Antwort parat. „Eh. Ehm“, machte er und kratzte sich am Kopf. „Was Frauen halt so mögen. Ich brauch eins für meine kleine Schwester, eins für meine Tante, eins für meine Schwägerin...“ Grundsätzlich wusste Tariq, von wem er sprach, er hatte ihm schon öfter von seiner Familie erzählt – wobei er Dagny mit Sicherheit am besten kannte aus den Geschichten von früher. „Sollten alle drei geschmackvoll sein, nichts zu Buntes, Schrilles, ich weiß nicht wie sehr sie noch an Witjons Tod zu knabbern haben... Du machst das schon, lass dich beraten und such dann einfach was Schönes aus. Ich vertrau dir da.“ So. Haken erfolgreich an Tariq zurückgegeben.

    Hadamar nickte und grinste schief. „Beides unnötig. Der Primus Pilus war mein alter Centurio, der ist kurz vor mir befördert worden – er hat mich dann nachgezogen. Hab ihn seit meinem ersten Tag gekannt...“ An dem er gleich mal einen kleinen Anschiss bekommen hatte, weil er keine Ahnung gehabt hatte wie die Meldung richtig ging. Oh, und weil er ungerüstet zum Antreten gekommen war, weil er auch das nicht gewusst hatte. Wenn Corvinus damals nicht gewesen wäre und ihm unter die Arme gegriffen hätte... „Was ihn angeht, wusst ich ziemlich genau was mich erwartet.“ Hart aber fair, so konnte man seinen alten Ausbilder beschreiben. Hadamar versuchte bis heute sich ein Beispiel daran zu nehmen, wenn er ehrlich war. „Nutz die ruhig. Dafür sind sie auch da. Mit Schreibkram sieht man immer wahnsinnig beschäftigt aus, aber das ist nicht immer auch der Fall.“ Wie bei allen anderen auch: es gab solche und solche. Und manche hatten es echt drauf, Arbeit vorzuschützen, obwohl sie gerade eigentlich nur den Stift von links nach rechts schoben. Hadamar fand, bei der Verwaltungsarbeit war das leichter als sonst wo – wenn seine Milites hier nachließen, sah er das einfach. So wie jetzt gerade. Er stieß einen scharfen Pfiff aus, der in den Ohren gellte, und brüllte: „HEY! CONTUBERNIUM SECHS, BISSCHEN MEHR TEMPO DA VORNE, SONST KOMM ICH VORBEI!“

    Nahtlos wandte er sich danach wieder an den Optio. „Amsivarier. Aber der Stamm existiert nicht mehr. Keine Ahnung, ob sonst noch irgendwo versprengte Überlebende sind. Meine Sippe hat’s nach Mogontiacum verschlagen.“ Danach war er ein bisschen perplex, als der Optio kundtat, er müsse dann ja wohl hier Bescheid wissen. Tat er das? Die Einheimischen hier waren... naja, er hatte ja selbst gesagt: die einfachen waren gar nicht so anders. „Mh“, brummte er. „So wie’s jetzt ist: Demonstration der Stärke. Ich bezweifel, dass kurzfristig irgendwas anderes hilft, als ihnen zu zeigen, dass mit der Legio nicht zu spaßen ist – egal wer ihnen wie viel Geld dafür zahlt. Es lohnt sich einfach nicht, und ich hab nicht den Eindruck, dass ihnen das klar wär.“ Er kratzte sich am Kopf und machte eine kurze Pause, musterte den Optio für einen Moment abwägend, bevor er weitersprach. „Auf Dauer wird das allein aber nix ändern. Ich glaub womit Rom vor allem erfolgreich ist, in meiner Heimat jedenfalls, ist die Tatsache, dass es den Menschen, den einfachen, ein besseres Leben ermöglicht. Es gibt immer die Fanatiker, denen alles egal ist, die nur für ihre Sache leben, die dafür kämpfen und bluten und sterben, wenn’s sein muss. Aber der Rest...“ Er zuckte die Achseln. „Der Rest interessiert sich erst mal dafür, dass er was zum Essen aufm Tisch hat und nen halbwegs sicheren Platz zum Schlafen. Und dass er heut schon weiß, dass es morgen genauso ist. Hier dagegen...“ Er gestikulierte in Richtung Satala. „Die dort leben, profitieren von uns, aber es sind wenige, die das nutzen. Und so lang die Tempelfürsten genug Geld haben, um den Menschen hier das zu bieten, was Rom den Menschen in meiner Heimat bietet, bleibt das so. Die wissen hier genau, an wen sie sich wenden und was sie dafür tun müssen, um Essen und nen Dach überm Kopf zu bekommen. Für die meisten heißt das nicht, sich an die Römer hier zu wenden.“ Wo genau war er eigentlich dazu abgebogen, so ausführlich zu erklären, was er meinte? Aber wo er schon dabei war, konnte er seinen Gedanken auch zu Ende führen. „Das funktioniert halt, so lang die Tempelfürsten sich an ihren Teil der Abmachung halten. Aber wenn einer von ihnen das nicht mehr will, gibt’s erst mal effektiv nichts, was ihn daran hindern könnte für Rabatz zu sorgen. Geld ist genug da, und die Leute stehen dahinter, weil man nicht die Hand beißt, die einen seit Jahr und Tag füttert. Erst wenn der Preis dafür zu hoch wird... oder wenn sie realisieren, dass es tatsächlich eine Alternative gibt.“ Hadamar grinste flüchtig. „Und wenn Rom für sie nicht mehr der eine große, gemeinsame Feind ist, der sie zusammenschweißt, dann verzetteln sie sich in kleinlichen Zwists untereinander, und wir haben Ruhe.“

    Die Müdigkeit setzte ein, und so bemerkte Hadamar zuerst nicht die Unzufriedenheit, die sich auf Tariqs Gesicht widerspiegelte. Erst als er nachfragte, mit hörbarer Empörung in der Stimme, ging ihm auf, dass der Kleine mehr erwartet hatte. Hadamar vergaß das immer wieder, dass Tariq auf solche Geschichten brannte. Und er erzählte ja grundsätzlich gern – über seine Heimat hatte er schon einiges zum Besten gegeben. Auch wenn er sicher nicht mithalten konnte mit den Geschichtenerzählern, die es hier in der Region so gab, unterhaltsam die ein oder andere Anekdote oder Sage wiedergeben konnte er schon. Aber ein Scharmützel an der Grenze... gut, er konnte verstehen, dass Tariq das anders sah, aber für ihn war das Alltag genug, dass er nicht weiter darüber nachdachte. Und wenn eines der Gefechte mal tatsächlich so groß wurde, dass es kein Alltag mehr war... dann wollte er gar nicht groß darüber reden, in aller Regel. Nüchterne Berichte, das ja, aber mehr nicht. Er erzählte Tariq lieber von den Fehltritten, die er sich geleistet, als von den Kämpfen, die er erlebt hatte – die so viel dreckiger und glanzloser waren, als sich das insbesondere junge Männer ohne Erfahrung oft vorstellten.


    Trotzdem grinste er jetzt, in diesem Moment, und versuchte wenigstens im Ansatz Tariqs Wissensdurst zu befriedigen – auch wenn er nicht die epische Glanzleistung ablieferte, die der Kleine sich erhoffte. „Zwei Dutzend waren’s, ungefähr, und sie haben uns im Morgengrauen überfallen. Oder haben’s versucht, heißt das. Ich war mit zwei Contubernia auf Patrouille, als sie angegriffen haben.“ Die Sichtverhältnisse waren ziemlich trügerisch gewesen, und das Gelände unwegsam – weshalb die Aufmerksamkeit bei allen hoch gewesen war. Er zuckte leicht die Achseln. „Und dann haben sie gemerkt, dass mit einer römischen Patrouille nicht zu spaßen ist. Sind an unserem Schildwall gescheitert, unterm Strich.“ Wo die Angreifer versucht hatten, von vornherein alles in den Kampf zu werfen, hatte Hadamar das übliche Spiel angeordnet: Formation, tief gestaffelt, und wann immer die vordere Reihe eine Pause brauchte, hatte sie durchgewechselt mit denen dahinter. So hatten sich ihre Gegner immer einem Schildwall gegenüber gesehen, der einfach nicht wanken wollte, während sie selbst immer weniger wurden und immer erschöpfter, bis der Rest schließlich die Flucht ergriffen hatte.


    Als Tariq ihm etwas anbot, blieb ihm keine Gelegenheit zur Antwort mehr, weil er bereits aufsprang – und als er zurückkam, griff Hadamar sich gleich mal einen Becher Posca. Und schnappte sich auch ein paar Trauben. Man musste ausnutzen, wenn man etwas Abwechslung zum Legionärsfraß bekam. Als Centurio hatte er das freilich öfter als der normale Miles, trotzdem war ihm das irgendwie eingebrannt. Er war gerade dabei, mit sichtbarem Genuss die Trauben zu verspeisen, als Tariq kundtat, dass er nicht nur vom Straßenbau schon wusste, sondern auch warum das so gekommen war. Er zog leicht eine Augenbraue hoch. „Quellen in der Castra, hu? Wie viele davon hast du eigentlich? Und wer hat getratscht?“ Es war kein Wunder, dass so was die Runde machte. Das tat es immer, erst recht wenn eine ganze Centurie dann dran glauben musste bei der Strafe. Bei so was war eine Legio nicht anders als ein germanischer Weiler – manchmal hatte er den Eindruck, dass Legionäre schlimmer waren als jedes Waschweib. „Hatte ich nicht vor, dich mitarbeiten zu lassen, aber jetzt wo du’s sagst: wir könnten Hilfe gebrauchen...“ ließ er Tariq mit undurchsichtiger Miene für einen Moment zappeln, dann grinste er. „Schmarrn. Ich muss mich endlich mal wieder bei meinen Verwandten melden, und diesmal was mehr schicken, ein paar Geschenke, bisschen was Edleres. Da ist das Angebot hier etwas mau, und ich möcht ungern Soufian aufhalsen, dass er zig verschiedene Sachen zur Auswahl herschafft, von denen er den Rest dann im Zweifel nicht loskriegt. Könntst du nach Caesarea reiten und die für mich besorgen?“

    Hadamar grinste etwas schief. Ja, das kam ihm bekannt vor, nur dass sein Centurio prinzipiell da gewesen war – und dass er trotzdem jede Menge von dem Verwaltungskram hatte übernehmen müssen. Was ein eher mieser Scherz der Nornen gewesen war, bedachte man, dass er sich zur Legio gemeldet hatte, um dem dräuenden Schicksal der Verwaltungsarbeit zu entgehen. „Aber Cornicularius, Tesserarius und so, die Posten sind schon besetzt bei euch, oder? Die haben mir damals ziemlich geholfen.“ Das hätte auch anders laufen können, das wusste er. Wenn die damals versucht hätten, ihn zu sabotieren, oder auch einfach nur nicht zu unterstützen, hätte er sich da kaum als Optio halten können.

    „So ähnlich jedenfalls. Bei mir war der Centurio schon da, aber das war der Primus Pilus, und der war oft unterwegs, Stabsbesprechungen und so. Da stand grad der Bürgerkrieg ins Haus, da hat er mich zwangsläufig viel alleine schmeißen lassen müssen. Und die Jungs der Prima wiederum hatten verständlicherweise wenig Lust auf nen Frischling als Optio, der noch keine 20 Sommer gesehen hat und nur wenige Dienstjahre aufm Buckel.“ Und ziemlich bald, nachdem er Optio gewesen war, waren sie denn auch schon marschiert, gen Norden, über die Alpen bis nach Rom. Hatten einen Bürgerkrieg bestritten. Kaltes Wasser, wie er schon gesagt hatte. Manchmal wurde man einfach reingeworfen. „Nicht hier, bei der II, in Mogontiacum. Germania Superior. Tiro, Miles, Optio, alles da gemacht.“

    Hadamar nickte, als der Optio über die Fürsten sprach. Flüchtig dachte er an seine Heimat und fragte sich, wie die freien Stämme wohl reagieren würden, würde Rom versuchen dieselbe Taktik mit ihnen zu fahren... was ihn beinahe kurz auflachen ließ. Konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass das funktionieren würde. Aber hier tat es das offenbar, zumindest insoweit sich Rom das auch vorstellte – was auch immer diese Vorstellungen waren. Denn Stilo hatte vollkommen Recht damit, fand er, dass es hier, vor Ort, in mancherlei Hinsicht mehr schlecht als recht lief. „Immerhin, wenn’s tatsächlich das ist, lässt sich das ja schnell lösen, vorausgesetzt Rom bleibt bei der Vorgehensweise. Ist die Frage, ob man sich das auf Dauer gefallen lassen will, aber naja... wird auch seine Vorteile haben, schätz ich.“ Er zuckte die Achseln. „Anders sieht’s aus, wenn jemand versucht den Aufstand zu proben.“


    Und dann kam ihm doch ein Lachen über die Lippen, als der Optio anfing von den Germanen zu reden. „Bei mir ist ziemlich klar, was ich bevorzug.“ Das Wort Barbaren erneut geflissentlich überhörend, grinste er. Sogar bei dem Vergleich konnte er sich quasi direkt angesprochen fühlen, war das Symbol seiner Sippe, der Wolfrikssöhne, doch der Wolf. „Meine Familie ist germanisch. Ich bin einer der ersten, der mit Bürgerrecht geboren wurde, alle davor haben sich’s erst erarbeitet. Und die Verbindung zu den Stämmen und Sippen, sowohl diesseits als auch jenseits des Limes, ist immer noch da.“ Politische Verwicklungen, Handelspartnerschaften, Ehebündnisse... bis hin zu Zwist und Gegnern. Was so alles dazu gehörte. Hadamar konnte sich noch gut an das Thing erinnern, auf das Witjon ihn damals mal mitgenommen hatte, als Teil seiner Begleitung. Auch bei den Germanen gab es verschlagene Menschen, was sich vor allem bei Things manchmal zeigte, aber selbst das äußerte sich dann anders. Hadamar fragte sich nur, ob Stilo bewusst war, dass dieser Schlangenvergleich auch auf manchen Römer ziemlich gut zutraf. Da war so manches hochrangige Tier in der Legio – und dann waren da, vor allem, Politiker. Was Alrik manchmal erzählt hatte von seiner Zeit in Rom... „Die einfachen Kämpfer hier wie dort sind gar nicht so verschieden. Aber die Tempelfürsten hier haben definitiv ne andere Herangehensweise als die meisten Stammesfürsten in Germania.“

    Als er alles bereit gelegt hatte, was er brauchte, machte er sich zunächst daran, ein Feuer zu entzünden. Es sollte groß sein, zu Samhain, eigentlich. Es ging immerhin darum, den Toten den Weg zu weisen, den wohlgesonnenen, dass sie einen fanden – und zugleich darum, die anderen abzuwehren. Je größer das Feuer, je heller das Licht, desto leichter gelang beides. Aber er konnte hier schlecht ein großes Feuer entzünden... und davon mal abgesehen war es in diesem Jahr sowieso nicht die richtige Nacht, und die Geister der Verstorbenen daher auch noch nicht unterwegs. Nicht so schlimm also, dass es notgedrungen klein bleiben musste. Mit schnellen Handgriffen war das Feuer entfacht – und dann setzte er sich erst mal davor hin und hielt für ein paar Momente inne, während er einfach nur in die Flammen starrte.


    Sie leckten am Holz und züngelten immer wieder nach oben, beständig in unruhiger, flackernder Bewegung. Wenn man sich darauf einließ, bannten sie den Blick... und ließen den Geist auf Wanderschaft gehen. Es war die falsche Nacht, sinnierte er, nicht zum ersten Mal. Aber zum ersten Mal, seit er das wusste, konnte er sich nicht mehr dagegen wehren, nicht mehr verdrängen, dass ihn das diesmal mehr störte als sonst immer. Vor etwas mehr als einem Jahr war Eldrid gestorben. Und vor wenigen Monaten Witjon, ebenso wie dessen ältester Sohn, kurz vor ihm wohl. Und diese Nachrichten... diese Todesfälle hatten ihn mehr erschüttert, als er zuzugeben bereit war, sogar sich selbst gegenüber. Er hatte sein Leben einfach weitergelebt, und der Alltag in einer Legion war dankbar dafür: es gab immer viel zu tun. Genug um Ablenkung zu finden, um nicht nachdenken zu müssen. Er hatte es verdrängt, so einfach war das.

    Aber Samhain rückte näher, und Hadamar fiel es mit jedem Tag schwerer, die Gedanken an den Tod seiner Verwandten wegzuschieben. Es war das Fest der Toten, wo sie unter den Lebenden wandeln konnten. Er konnte sich das ganze restliche Jahr in Verdrängung üben, aber nicht in dieser Zeit. Sie würden ihm, zu Recht, grollen, wenn er ihrer nicht gedachte. Noch dazu am ersten Totenfest, an dem ihm das möglich war – selbst bei Eldrid, denn die Nachricht von ihr hatte er erst nach dem letzten Totenfest erhalten. Allein: er wollte sich nicht damit beschäftigen, dass sie tot war. Er konnte es nach wie vor einfach nicht fassen, jedes Mal, wenn er daran dachte, war da einfach nur... ein Loch irgendwo in seinem Inneren. Seine Schwester, die Älteste nach ihm, nur ein Jahr jünger als er. Die ihm immer den Kopf gewaschen hatte, wenn er etwas ausgefressen hatte, oder sich vor seinen Pflichten gedrückt hatte, oder sonst irgendwas getan hatte, was sie unpassend fand. Dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte, das war... das konnte er nicht begreifen. Das wollte er nicht begreifen. Und jetzt war auch noch Witjon tot.

    Das Loch in ihm war besser als das, was darin lauerte und nun schon fast ein Jahr vor sich hin schwärte. Das Problem war nur: Samhain stand an. Die Toten verdienten es, gewürdigt zu werden. Er konnte sie nicht mehr verdrängen, und damit konnte er auch den Verlust nicht mehr verdrängen. Und die Ränder des Lochs fingen an zu brennen.

    Beim Namen Tiberius zog Hadamar eine Augenbraue leicht hoch. Sein Vetter Alrik war mit einer Tiberia verheiratet, und für einen kurzen Moment fragte er sich, ob da vielleicht eine Verwandtschaft bestand. Andererseits: ziemlich sicher nicht. Lucia stammte aus einer der angesehensten Familien Roms. Er konnte sich schwer vorstellen, dass ein Spross dieser Familie Centurio war statt mindestens Tribunus Laticlavius. Hatte bei ihm ja schon Ärger gegeben, dass er sich als simpler Soldat gemeldet hatte, und seine Familie mochte einen recht rasanten Aufstieg hingelegt haben innerhalb einer Generation, war aber nicht einfach nur plebejisch, sondern in den Augen vieler alteingesessener Familien nach wie vor ein Emporkömmling, nicht viel mehr als germanische Barbaren, zufällig ausgestattet mit dem Bürgerrecht. Gut, als er sich gemeldet gehabt hatte, hatte Alrik gerade erst angefangen, als erster ihrer Familie den Cursus Honorum zu beschreiten... trotzdem hatte er sich einiges anhören dürfen damals.

    Er schob die Gedanken allerdings ziemlich schnell beiseite. An Lucia zu denken, hieß an Alrik zu denken, und das wollte er nicht. Genauer: er vermied es, wo es nur ging. Der Tod war ein ständiger Begleiter, so sehr ihn die Nachricht von Witjons Dahinscheiden auch getroffen hatte. Alriks Schicksal dagegen... die Schicksalsweberinnen hatten schon einen sehr bitteren Sinn für Humor. Das, oder er hatte die Götter wirklich gegen sich aufgebracht. Hadamar sandte ein kurzes Stoßgebet zu den Göttern, dass ihm das niemals passierte, und räusperte sich. „Duccius Ferox“, stellte er sich vor, und ließ bewusst den Centurio weg, als Zeichen dass er nichts dagegen hatte, sich ein bisschen ungezwungener zu unterhalten. Dann grinste er. „Allein mit der Centurie also? War bei mir damals ähnlich, mein Centurio war gefühlt ständig irgendwo unterwegs. Aber manchmal ist es ganz gut, ins kalte Wasser geworfen zu werden.“ Ihm hatte es jedenfalls gut getan, rückblickend betrachtet. Er war sich nicht sicher, ob er sich dermaßen angestrengt hätte, wäre der Artorius ständig da gewesen. Er war sich nicht sicher, ob es ihm gelungen wäre sich selbst Respekt zu erarbeiten, hätte der Artorius ihm die ganze Zeit mit seiner Autorität den Rücken gestärkt... „Wenn du nen Rat brauchst, kannst gern zu mir kommen.“


    Also stimmte das Gerede, nicht nur das über den Überfall, sondern auch dass es die erste und zweite seine Cohorte getroffen hatte. „Sehr gut“, nickte er anerkennend. Die Angreifer nicht nur zurückgeschlagen, sondern aufgerieben, und den Anführer gefangen genommen – das war mehr als nur ordentlich. Vor allem wenn man miteinbezog, was der Optio danach erzählte. Vermutlich lag es daran, dass seinem Gegenüber jetzt das Grinsen verging, bei ihm selbst war das jedenfalls der Grund. Gut ausgerüstet und altersmäßig durchmischt? Hm. „An der Grenze waren die Angreifer größtenteils jünger, aber gut ausgerüstet waren die auch. Deswegen meine Vermutung, dass sie von den Stämmen kamen – simple Plünderer waren’s jedenfalls nicht.“ Plünderer wurden oft von Verzweiflung getrieben, bei den Stammeskriegern dagegen gab es oft einen Zweck. So lange sie nicht eine in Ungnade gefallene Truppe in den kollektiven Selbstmord treiben wollten, rüsteten sie auch ihre Jungen aus, selbst wenn es nur darum ging, sich zu beweisen – sonst würden sie sie ja nur dem Löwen zum Fraß vorwerfen und sich selbst ihrer Zukunft berauben. „Es gibt einfachere Wege an Geld zu kommen, als zwei römische Centurien anzugreifen. Selbst wenn sie Erfolg gehabt hätten: die wissen doch, dass wir so was nicht ungestraft stehen lassen. Dass sie Gefahr laufen, nicht nur selbst draufzugehen, sondern auch ihre Familien ans Messer zu liefern. Dafür muss schon viel Geld dahinter stehen, wenn sie sich für so was haben anheuern lassen. Oder sie wurden aufgewiegelt.“ Von jemandem, der nicht nur ausreichend Geld hatte für Ausrüstung und trotz allem halbwegs solide Bezahlung der Kämpfer, sondern der Leidenschaft und Kriegslust und den Glauben daran, das Richtige zu tun, in ihnen entzündet hatte.

    Abseits von den Wegen, irgendwo in der Steppe, die Satala umgab, war eine seltsam anmutende Gesteinsformation zu finden. An manchen Stellen so dünn, dass der Stein gleich zu brechen schien, dann wieder sich ausweitend zu größerer Stärke, mit geschwungenen Auswüchsen in mehrere Richtungen, die sich fast schon filigran wanden und nur noch erahnen ließen, dass in den Lücken dazwischen ehemals ebenfalls Stein gewesen war, nur so dünn geworden, dass er schließlich ganz weggetragen worden war. Sie war nicht sonderlich groß und auf zwei Seiten geschützt, durch einen kleinen Felsbrocken und etwas, das in der Steppe hier nicht allzu oft vorkam: ein windschiefes, knorriges Bäumchen, das sich tapfer behauptete. Man musste schon durch Zufall nah genug herankommen und im richtigen Winkel stehen, um sie sehen zu können, und Zufall war es denn auch gewesen, dass Hadamar sie gefunden hatte bei einem seiner Erkundungsritte hier ganz zu Anfang, um die Gegend kennenzulernen – und um seine Centurie auch mal abseits der Wege durch die Gegend hetzen zu können bei einem Gewaltmarsch. Dass sie durch unwegsames Terrain mussten, konnte immer mal wieder vorkommen... und davon abgesehen wussten sie die Straßen dann umso mehr zu schätzen.

    Er zügelte sein Pferd, als er fast da war, ließ sich von dessen Rücken gleiten und ging die letzten Schritte zu Fuß. Das Gestein, das hier verstreut lag, war verwittert, abgeschliffen von Wind und Wetter. Dort, wo es ungeschützt herumlag, schienen es einfach Steine zu sein, aber Hadamar wusste inzwischen, wie weich das Zeug hier oft war. Und dort, was es geschützter lag, wo es den Elementen nur teilweise ausgesetzt war, hatte das zu teils absonderlichen Formen geführt. So wie bei dem Ort, an dem er nun war. Er hatte inzwischen genug davon gesehen, aber dieser... hatte irgendwas in ihm berührt, und das hatte er als Zeichen genommen. Seither kam er hierher, wenn eines der germanischen Feste anstand und er es einrichten konnte, sich dafür ein bisschen mehr Zeit zu nehmen an einem Abend.


    Die Zügel schlang er leicht um einen Ast, als er das Bäumchen erreicht hatte, dann lockerte er den Gurt ein wenig, der den leichten Hörnchensattel an Ort und Stelle hielt, und zog die Taschen herunter, mit einer Bewegung, der man nicht wirklich ansah, wie schwer sie waren. Danach holte er hervor, was er mitgebracht hatte: Funkenschläger, Feuerstein, Zunder und Holz – er hatte nicht hier in der Steppe noch danach suchen wollen –, um ein Feuer entzünden zu können, Schale und Messer, einen Schlauch mit Met, dazu Trockenfrüchte, Brot und zu guter Letzt einen betäubten Hasen. Zwar ein ziemlich kleines Tier, das wusste er wohl, aber wie bei so vielem musste er da Kompromisse eingehen. Ziemlich wohlgenährt war das Vieh jedenfalls, und damit symbolisierte es die vergangene Ernte und die Hoffnung darauf, dass das kommende Jahr gut verlaufen möge. Zu guter Letzt holte er sich schließlich sein Sax, das in seiner Scheide ruhte und zusätzlich sicher eingeschlagen in einen festen Wollstoff noch am Sattel hing. Er hatte es, seit er 16 geworden war, seit seiner Mannwerdung – und hatte es seither stets mitgenommen, gleich, wohin er versetzt worden war. Nie wirklich genutzt, abgesehen von jenen Momenten, in denen er allein übte, und jenen, in denen er sich mit Vertrauten den ein oder anderen Übungskampf liefern konnte. Es ließ sich nicht leugnen, dass er nach all den Jahren weit besser mit Gladius umgehen konnte denn mit Sax... aber es war die Waffe seiner Ahnen, ein Symbol für sie, für seine Herkunft, und nicht zuletzt für seinen Stand und den seiner Familie unter den germanischen Sippen und Stämmen. An Abenden wie heute gehörte diese Waffe dazu, fand er.

    Schließet Tür und Tor

    Tief ist die Nacht und das Licht wird knapp

    Schweigt still, seht euch vor

    Rot scheint der Geistermond hinab

    Versengold - Samhain


    Langsam ließ Hadamar sein Pferd sich den Weg suchen. Die Sonne war längst untergegangen, und der Mond, der zwar schon am Himmel stand, nur noch eine schmale Sichel. Aber das Wetter war klar, und durch die geringe Präsenz des Mondes war der Sternenhimmel umso fantastischer. Wenn er nach oben blickte, glitzerte und funkelte es auf tiefschwarzem Samt. Der Anblick war atemberaubend, vor allem für jemanden wie ihn, der selten so bewusst darauf achtete wie heute. Meistens war der Himmel halt einfach da. So lange er ihm nicht auf den Kopf fiel, war alles gut, und Hadamar beachtete ihn nicht weiter. Heute war eine jener Nächte, in denen er dann doch darauf achtete, und in denen es auch ihm die Sprache verschlug angesichts der Schönheit. Gleichzeitig spürte er ein vages Gefühl von Heimweh, weil die Sterne, so großartig sie auch aussahen, nicht seine Sterne waren. Und er hatte sich in all den Jahren nicht daran gewöhnt, dass der Anblick über ihm ein anderer war als der, der ihn so lange, durch Kindheit und Jugend und darüber hinaus, begleitet hatte.


    Licht spendeten die Sterne genug. Wie jedes Mal aber, wenn sie ihm so bewusst auffielen auf seinem Weg zu dem etwas abgelegenen Ort, den er schon in seiner Anfangszeit hier gefunden und als seinen persönlichen Opferplatz ausgesucht hatte, hoffte er, dass seine Götter ihn trotzdem noch hören konnten. Hier, unter fremdem Himmel. Auf fremder Erde. Er fühlte sich nicht wohl damit, aber das immerhin war er gewohnt. Auch weil es nicht der einzige Grund war, warum ihm jedes Mal etwas mulmig war. Er war kein Gode, damit ging es ja schon los. Und er sollte auch nicht allein sein. Manchmal nahm er Tariq mit, auch heute hatte er ihn eingeladen, sich ihm anzuschließen, wenn er das denn wollte. Aber so nahe sie sich auch standen inzwischen, die Bräuche des anderen konnten sie nicht immer nachvollziehen, auch wenn sie sie respektieren mochten. So war Hadamar doch irgendwie... allein, selbst wenn der Kleine dabei war, und das sollte nicht so sein. Anlässe wie dieser waren nicht dazu gedacht, sie allein zu feiern, und es behagte ihm nicht, wie lange er die Festtage seiner Ahnen schon so begehen musste.


    Und dann war da noch die Tatsache, dass es die falsche Nacht war für das hier, eigentlich. Der elfte Neumond seit der letzten Wintersonnwende würde erst in einigen Tagen sein, vier, vielleicht fünf, schätzte er. Aber das war ein weiterer der Kompromisse, die er einging, eingehen musste bei der Legio. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er Centurio war und als solcher in der Position, öfter freie Abende zu haben, an denen er die Castra auch verlassen konnte, und damit mehr machen als nur eine Kerze zu entzünden und eine kleine Opfergabe zu bringen. Auch noch jedes Mal aussuchen zu können, an welchen Tagen, war einfach nicht drin. Also war er heute hier, obwohl der Mond sich noch zeigte, und damit die eigentliche Nacht des Totenfestes nicht hereingebrochen war. Wenn sie dann kam, würde er zusätzlich noch das tun, was in kleinem Rahmen möglich war.


    Aber wenn er ehrlich war, war er zumindest über Letzteres nicht ganz unglücklich. Er hatte im Lauf der Jahre zu viele Menschenleben genommen, um ausgerechnet in der Nacht wirklich gerne unterwegs zu sein, in der die Tore für die Toten offen standen. In der die Geister der Verstorbenen die Grenze zum Diesseits überschreiten konnten, die Wohlgesonnenen ebenso wie... die anderen. Es gab zu viele dieser anderen bei ihm, mittlerweile. Und obwohl er ein Feuer entzünden würde, wie es Brauch war, ein Feuer, das diese anderen fernhalten würde, blieb da doch der Weg hin und zurück. Nicht dass er Angst hatte... aber man musste die Nornen ja nicht unnötig herausfordern.

    Hadamar ließ sich von Tariq zu den Kissen ziehen und dann einfach darauf fallen. Selbst nach all den Jahren noch fragte er sich, warum die Leute hier gerne so saßen. Anstatt wenigstens auf Hockern oder so. Aber gut, bequem war es allemal, und bequem fand er gerade ganz angenehm – auch wenn es ihm auf Dauer dann zu weich werden würde. „Von drüben“, erwiderte er und atmete einmal tief durch, als er in den Kissen regelrecht zu versinken schien. „Weiß nicht, ob da einfach nur die jungen Krieger sich mal wieder beweisen wollen, oder sie wirklich auf Ärger aus sind“, wiederholte er das, was er schon dem Optio heute erzählt hatte. „Wir werden’s erleben... Jedenfalls hat’s meine Centurie ein paar Mal erwischt, das letzte Mal direkt vorgestern.“


    Er kannte Tariq zwar jetzt auch schon eine Zeitlang, aber dass der Junge möglicherweise etwas mehr erwartete als nur diese paar Worte, daran dachte Hadamar gerade nicht. Hauptsächlich, weil es nicht so etwas Besonderes war, nicht für ihn jedenfalls. An der Grenze kam es immer mal wieder zu Auseinandersetzungen mit denen, die auf der anderen Seite lebten. Deswegen wurde sie ja von den Legionen gesichert, dafür waren sie hier. Es war jetzt nicht so, dass das komplett Alltag war, aber... es war eben auch nichts allzu Ungewöhnliches. Dass das für Tariq nach wie vor anders war als für ihn, zumal er ihm gerade anfangs, als er ihn gerade hergebracht hatte, so was nicht so frei von der Leber weg erzählt hatte, daran hatte Hadamar sich immer noch nicht gewöhnt. Er hatte sich auch immer noch nicht ganz so daran gewöhnt, wie nahe Tariq ihm mittlerweile eigentlich stand. Wie viel er ihm bedeutete. Fast so... wie ein kleiner Bruder. Was flüchtig den Gedanken an seine Brüder aufkommen ließ, an Iring und Rhaban, die er seit Jahren schon nicht mehr gesehen hatte. Und dann an seine Schwestern. Dagny, die jüngste von ihnen. Und Eldrid... die mitterweile tot war.


    Hadamar verjagte den Gedanken und räusperte sich. „Lief gut, wir konnten sie wunderbar zurückschlagen. Was indirekt der Grund dafür ist, dass ich die nächsten zwei Wochen den Straßenbau vorantreiben darf.“ Er musterte Tariq kurz. Straßenbau. Kleiner Bruder. Familie. Das in Kombination brachte ihn auf eine Idee, wie er sich vor etwas drücken konnte, was er zwar schon eigentlich mal erledigen wollte – aber worauf er so gar keine Lust hatte, weshalb er es bis jetzt vor sich hergeschoben hatte. „Weshalb ich dich um einen Gefallen bitten wollte...“

    „Lass mal“, winkte Hadamar ab und grinste flüchtig. Er sah keinen Grund, dem Optio nicht zu glauben – es gab so Kandidaten, bei denen waren Zweifel angebracht, aber erstens wirkten die anders und zweitens wurden sie nicht zum Optio befördert. Naja. In der Regel, jedenfalls, und wenn sie es doch wurden, blieben sie es nicht lange, wenn sie sich nicht spätestens dann am Riemen rissen. Und nachdem er nicht bewusst mitbekommen hatte, wie der Mann hier angekommen war, konnte das gut sein, dass er den Gruß überhört hatte. Vermutlich hatte er sich gerade mit diesem Aleksan herumschlagen müssen, der sich gerade mit Matius auf und davon machte in die andere Richtung, und von seinem Optio hoffentlich schön lang und ausführlich beschäftigt wurde. „Muss ich überhört haben vorhin. Wie ist dein Name?“

    Der Optio schien sich unterhalten zu wollen, und Hadamar kam das ganz gelegen. Sie schufteten schon eine ganze Weile, und reihum wurde immer mal wieder in passenden Abständen Pause gemacht – langsam konnte er sich so eine auch mal gönnen. „So lange genug Alkohol fließt, ist es egal, wie groß das Kaff ist.“ Wieder ein flüchtiges Grinsen, das aber an Humor etwas verlor, als er die unfertige Straße vor sich betrachtete und an die nächsten zwei Wochen dachte, während er sich etwas abseits zu dem Optio stellte. Er wusste gar nicht so genau, wo die zwei Contubernia gesoffen hatten, aber er nahm mal stark an, dass sie sich einfach irgendwo billigen Fusel organisiert und an ein einsames Fleckchen zurückgezogen hatten. Oder wahlweise in die Hütte einer Lupa oder so. Vielleicht sollte er seinen Optio darauf nochmal ansetzen, das herauszufinden... andererseits: wenn aufgrund der Sauferei seiner Leute irgendwo in Satala etwas zu Bruch gegangen wäre, eine Prügelei stattgefunden hätte, was auch immer – dann hätte er das längst mitbekommen. Schon allein, weil er dann der erste gewesen wäre, der eine Abreibung bekommen hätte... und er wiederum hätte andere Geschütze aufgefahren als nur Straßenbau. „Man muss nur wissen, wo man den herbekommt.“ Und das, davon war Hadamar überzeugt, wusste zumindest in der Theorie so ziemlich jeder Soldat. Es gab so einige, die mal einen über den Durst tranken. Die Kunst war, sich nicht so sehr zu betrinken, dass es auffiel – oder sich nicht erwischen zu lassen.


    Wo er gerade dabei darüber nachzudenken, merkte er, dass er selbst Durst hatte, griff nach einem Trinkschlauch mit Posca und nahm einen kräftigen Schluck. „Ist nicht der erste Straßenbau“, wiederholte er, was er schon zum Sklaven zuvor gesagt hatte, aber wesentlich freundlicher diesmal, und nickte in die Richtung, in die sein Optio mit Aleksan gegangen war, „so lange der Kerl da mir nicht zu sehr auf die Nerven geht, wird das hier ruhig laufen. Ich seh zumindest nichts bis jetzt, wo’s Probleme geben könnt.“ Die Straße war einfach sanierungsbedürftig, aber es war nirgendwo ein Erdrutsch oder sonst was passiert, was für Schwierigkeiten hätte sorgen können. Bei der nächsten Frage zuckte Hadamar mit keiner Wimper. Er hatte es noch nie gemocht, wenn Römer andere Stämme außerhalb ihres Reichs als Barbaren bezeichneten, weil die meisten es bewusst abwertend meinten. Er stammte selbst von einem solchen Stamm ab, all seine Ahnen waren nichts anderes als eben das, worüber Römer sich oft abfällig äußerten. Und das, ohne dass die meisten von ihnen überhaupt eine Ahnung hatten, wovon oder von wem sie da sprachen. Aber Jahre in der Legion hatten ihn auch darin geschult, darauf einfach nicht mehr zu reagieren. Was hier freilich auch leichter war, als es in Germanien gewesen war.


    „Wir hatten vermehrt Scharmützel an der Grenze bei unserm Dienst da in den letzten Wochen. Keine Ahnung, ob die auf der andern Seite gerade wieder nur ihre jungen Wilden rüberschicken, damit sie sich die ersten Sporen verdienen“, so ungefähr lief es jedenfalls oft bei den germanischen Stämmen jenseits des Limes, „oder ob sie irgendwas aushecken. Bericht liegt beim Tribun. Mal sehen was sie draus machen.“ Herauszufinden was da war, lag nicht in seiner Hand, so lange er nicht den Auftrag dazu bekam – auch wenn es ihn bei so was immer ein bisschen in den Fingern juckte. Aber nun ja, wenn letzteres der Fall war und sie tätig werden mussten, würden sie das früh genug erfahren. „Wie ists bei euch? Du bist erste... zweite? Centurie unserer Cohorte? Ihr seid neulich überfallen worden, hab ich gehört.“

    Er hatte zwar gebrüllt, dass sie sofort aufbrechen würden, aber er wusste, dass sofort bei einer ganzen Centurie trotzdem ein paar Momente in Anspruch nehmen würde. Zum Appell waren sie wie üblich in voller Rüstung angetreten, beim Straßenbau hingegen war das hinderlich. Aber die Milites liefen mit dem erforderlichen Tempo an ihm vorbei, und jedes Zusammenzucken eines Saufkopfs, der gerade an ihm vorbeikam und dem er ins Ohr brüllte, sorgte für ein kleines bisschen Zufriedenheit bei Hadamar, mit der er sich für den Tag heute polsterte.


    Bis er plötzlich selbst zusammenzuckte, als etwas gegen seinen Kopf schnalzte. Unwillkürlich hob er eine Hand und rieb über die Stelle, die zu brennen begann – und war da auf einmal ein Klingeln in seinem Ohr? Dabei hatte er gestern Abend ganz sicher nicht getrunken, nicht einmal einen Krug verdünntes Bier oder so was. Zu lange hatte die Besprechung gedauert, in der er seinen Bericht über den Grenzdienst seiner Centurie abgeliefert hatte. Dass sie diesmal gleich mehrere Scharmützel zu bestreiten gehabt hatten, hatte Fragen aufgeworfen, nicht zuletzt wenn man bedachte, dass die ersten beiden Centurien dieser Cohorte auf einem Übungsmarsch angegriffen worden waren. Und da war dieses eigentümliche Gefühl, er hätte es an Respekt mangeln lassen. Was lächerlich war – ja gut, nicht prinzipiell bei ihm, das begleitete ihn ja schon sein Leben lang. Er hatte lediglich im Lauf der Jahre dann doch ganz gut gelernt, wann er sein Maul halten musste, aber in Gedanken war er respektlos geblieben wie eh und je, daran änderte auch die Tatsache nichts, dass er seit bald 15 Jahren mit Herzblut unter dem Adler diente und loyal selbst die Befehle ausführte, die er für lächerlich hielt – oder die von Leuten kamen, die er für lächerlich hielt. Er konnte sich zusammenreißen, das hatte er definitiv gelernt. Aber wem gegenüber hätte er denn jetzt gerade respektlos sein sollen?

    Er ließ die Hand schnell wieder sinken und verharrte regungslos, höchstens ab und zu, wenn es nötig war, brüllend, an Ort und Stelle, bis die letzten Milites an ihm vorbei gelaufen waren. Dann rieb er noch mal an seinem Ohr, bevor er seinen Kopf einmal unter Anspannung nach rechts, einmal nach links legte, und dabei die Nackenwirbel knacken ließ. Straßenbau. Knochenarbeit. Er hoffte, die erst mal anvisierten zwei Wochen würden reichen, um seinen Leuten wieder einzutrichtern, wo ihr Platz war, und dass sie sich auf ein paar gewonnene Gefechte nicht so sehr etwas einzubilden brauchten, dass sie deswegen über die Stränge schlagen konnten. Aber er würde ja sehen, wie die Stimmung in zwei Wochen war... die meisten hatten es jetzt schon kapiert, und die Unbelehrbaren... naja. Da konnte man nach so einer Aktion in aller Regel auf die Kameraden bauen, die keine Lust hatten aufs Neue mitbestraft zu werden. Er rieb sich ein letztes Mal über das Ohr und wandte sich um, um ebenfalls den Platz zu verlassen. Es brannte immer noch leicht – hatte ihn vielleicht irgendwas gestochen da? –, und dieses Gefühl von Respektlosigkeit war seltsamerweise auch immer noch da. Hm. So merkwürdig das auch war: irgendwie noch einen Grund, sich nicht auf seinen Status als Centurio zu berufen, sondern mitzuackern die nächsten zwei Wochen.

    Hadamar ächzte. Ein Tag Straßenbau, und er fühlte sich, als hätte er drei Gewaltmärsche hinter sich. Am Ende der zwei Wochen, für die er seine Centurie gemeldet hatte, würde sein Kreuz wahrscheinlich halb auseinanderbrechen, vermutete er. Er müsste nicht selbst mit Hand anlegen, schon gar nicht so sehr, das wusste er, aber er war nicht die Art von Centurio. Jeder hatte seine eigene Art, sich Respekt zu verschaffen bei seinen Männern – oder sie das Fürchten zu lehren, je nachdem –, und Hadamar hatte im Prinzip all die Jahre die beibehalten, mit der er als Optio schließlich erfolgreich gewesen war.


    Respekt. Das war etwas gewesen, was ihm anfangs nicht natürlich zu geflogen war. Er war blutjung gewesen damals, als er zum Optio befördert worden war, noch dazu direkt in die Prima der ganzen Legion hinein. Natürlich hatten die Jungs der ersten Centurie der ersten Cohorte keinen Respekt vor dem jungen Hänfling gehabt, der er damals gewesen war. Aber es waren Offiziere gebraucht worden, und der Primus Pilus, frisch befördert vom Centurio der II-IV, der er davor gewesen war und damit Hadamars Ausbilder, der ihn vom ersten Tag an kannte mit all seinen Ausrutschern und Fehltritten, seinem vorlauten Mundwerk, aber eben auch all seinen guten Seiten, hatte etwas in ihm gesehen.


    Er konnte sich noch gut daran erinnern, was er ihm damals gesagt hatte, als er ihn danach gefragt hatte wie er sich Respekt verschaffen könnte. Variante eins, knallharter Einsatz der Vitis. Variante zwei, mühsam erarbeiten. Variante drei – kommt bei dir wohl nicht in Frage. Auf Hadamars Nachfrage hin hatte er es dann doch gesagt: natürliche Ausstrahlung. Und da hatte er dann zustimmen müssen, dass das für ihn nicht in Frage kam. Danach hatte er sich damals nicht im Mindesten gefühlt, er hatte ja daran gezweifelt, ob er überhaupt irgendwie jemals den Respekt dieser Milites bekommen würde, egal wie. Er hatte sich also für Variante zwei entschieden, die einzige, die ihm irgendwie gangbar für ihn selbst erschien – übermäßiger Einsatz der Vitis hätte ihn wahrscheinlich nur verzweifelt aussehen lassen –, und er hatte damals so geackert wie noch nie davor und kaum je danach. Aber er war erfolgreich gewesen damit. Es war nicht wirklich Ehrgeiz gewesen, der ihn angetrieben hatte; der war schon auch da gewesen... aber nicht der treibende Faktor. Es war der Drang gewesen nicht aufzugeben. Und er hatte sich durchgebissen, hatte sich mit Blut und Schweiß und purem Willen den Respekt der Männer damals erarbeitet. Und obwohl die Zeit schon lange hinter ihm lag, obwohl er sich in den Jahren, mit zunehmendem Alter und Erfahrung, auch die dritte Variante angeeignet hatte, und er natürlich auch die Vitis einsetzte, wenn es angebracht war – dem zweiten Weg war er treu geblieben.


    Weshalb er sich schlechterdings kaum rausziehen konnte beim Straßenbau. Der einzige Trost: den Milites ging es noch schlimmer, vor allem den Saufköpfen, dafür hatte er gesorgt.


    Anstatt jetzt abends aber endlich in sein Zelt fallen zu können, wie es seine Leute wahrscheinlich gerade alle taten, hatte er das Castellum nochmal verlassen – nicht ohne sich abzumelden mit der Info, wo er zu finden war –, um nach Tariq zu sehen. Gestern war er nicht dazu gekommen, deswegen musste das heute jetzt sein, zumal es die kommenden zwei Wochen nicht besser werden würde, wie kaputt er sich abends fühlte. Er platzte also reichlich unzeremoniell bei Soufian hinein, einem Kumpel von ihm, bei dem er Tariq damals untergebracht hatte, als er ihn aus Caesarea ziemlich spontan mitgeschleppt hatte. Soufian war... gefühlt konstant fröhlich, und er redete gern und viel. Und er konnte so ziemlich alles besorgen, wonach einem der Sinn stand, so lange es nicht zu teuer oder exotisch war. Damit verdiente er seinen Lebensunterhalt, er fungierte als Zwischenhändler hauptsächlich für die Soldaten hier, die entweder zu faul waren, selbst durch Satala zu laufen auf der Suche nach einem passenden Geschäft – oder die etwas wollten, wofür man beispielsweise nach Caesarea oder so müsste.


    Soufian strahlte, als er sah wer hereinkam. „Bruder! Schön dich wiederzusehen!“ Er umarmte Hadamar, und der klopfte ihm auf den Rücken, während sein Blick schon nach Tariq suchte und ihn fand. Er grinste den Kleinen an, während Soufian schon weiterredete. „Ich muss noch mal weg“, entschuldigte er sich, und Hadamar bemerkte, dass er tatsächlich einen Mantel übergeworfen hatte, „aber du bleibst, ja, ich hab dir viel zu erzählen!“
    „Sicher hast du das“, schmunzelte Hadamar.
    „Lasst mein Haus stehen. Bis später!“ Soufian zwinkerte Tariq zu und winkte, bevor er dann auch schon verschwunden war. Hadamar sah ihm kurz hinterher, dann wandte er sich Tariq zu und begrüßte ihn ebenfalls mit einem Grinsen und einer kurzen Umarmung. „Tut mir leid, dass ich erst heut komm“, fuhr er auf Germanisch fort. „Wir sind gestern erst abends zurückgekommen, und der Bericht hat gedauert, weil wir nen paar Scharmützel hatten diesmal. Danach war’s dann zu spät.“

    Hadamar hatte Recht behalten: Aleksan war einer von der Sorte. „Hrhrm“, hörte er mehr als nur einmal, gefolgt von einem: „Die Schicht hier ist zu fest“, oder einem „Dort ist es nicht tief genug“, oder einem „Ist dir eigentlich aufgefallen, dass die Kante da zu schräg ist?“ Der Kerl hatte eindeutig Spaß daran, und weil Hadamar nicht ganz so gut darin war, sich einfach nichts anmerken zu lassen, merkte der andere auch, dass er durchkam mit seinen Frotzeleien. Spätestens, als Hadamar endgültig die Nase voll hatte, seine Tunika mit einer Hand an der Brust packte und ihn so dicht zu sich zog, dass ihre Nasen sich fast berührten. „Das ist nicht mein erster Straßenbau“, knurrte er ihn an.
    „Verzeih, Centurio.“ Die Worte standen etwas in Kontrast zu dem leicht süffisanten Grinsen, das der andere zur Schau trug. „Aber die Arbeiten hier waren mit anderen Offizieren abgesprochen. Die Verwaltung legt daher besonderen Wert darauf zu achten, dass alles so läuft wie vereinbart. Centurio.“
    Hadamar hielt ihn noch kurz, aber er wusste, dass er ihm keine reinschlagen konnte, so gern er das gerade auch getan hätte. Der Grund war nur vorgeschoben, da war er sich ziemlich sicher – der Kerl hätte versucht jeden hier zu ärgern –, aber das änderte nichts daran, dass er ihn wohl oder übel würde aushalten müssen. Eins konnte er allerdings tun: ihn zumindest für ein paar Momente jemand anderem aufhalsen. Also ließ er ihn wieder los, strich betont höflich die Tunika wieder glatt, und setzte ein Lächeln auf, das mehr ein Zähnefletschen war. „Dann leg doch mal besonderen Wert darauf, den vorderen Abschnitt der Arbeiten zu prüfen, Aleksan. Optio Matius, du begleitest ihn und siehst zu, dass seine... Verbesserungsvorschläge umgesetzt werden. Wenn sie sinnvoll erscheinen.“ Matius hatte sich sowieso zu sehr ein Grinsen verbeißen müssen, seit der Verwaltungsheini aufgetaucht war. Jetzt sollte er selbst mal zusehen, wie das war.

    Kaum waren die beiden losgestiefelt, wurde Hadamar von der Seite angesprochen. Er hatte gar nicht so recht mitbekommen, dass sie inzwischen Zuschauer bekommen hatten, aber ein paar von denen, die einfach nur Straße nutzen wollten, waren geblieben – anstatt entweder schweigend oder motzend, dass sie neben der Straße gehen mussten, vorbeizuziehen. Hadamar musterte den Mann kurz, der die Frage geäußert hatte. Er kannte ihn vom Sehen, ein Optio, die Centurie konnte er gerade nicht zuordnen, aber er war sich relativ sicher, dass es die gleiche Cohorte war. Offensichtlich gerade nicht im Dienst. Sein Blick schweifte kurz über die Männer, die mehrere Schritt entfernt im Graben arbeiteten. „Zu viel Spaß, das hatten wir“, brummte er. „Das braucht dann immer was zum Ausgleichen.“ Er sprach bewusst von wir. Er hielt nicht viel davon, seine Leute bloßzustellen vor anderen. Baute einer aus einem Contubernium Mist – badeten es alle aus, aber sie hielten zusammen. Er wusste das besser als viele andere, immerhin war er mal einer der Mistbauer gewesen, als Tiro. Und so ging es halt weiter. Bauten zu viele einer Centurie Mist – badeten es auch alle aus. Aber sie hielten zusammen. Das schloss den Centurio mit ein, fand er. Er warf dem Optio einen erneuten Blick zu, diesmal mit einer leicht hochgezogenen Augenbraue und, wenn man genau hinsah, ein bisschen Schalk im Augenwinkel, und fragte beiläufig: „Das die Art, mit der du deinen Centurio auch ansprichst?“