Tariq antwortete ein wenig zögerlich, was sonst nicht seine Art war. Aber er selbst war auch anders als sonst. Das war Samhain, mutmaßte Hadamar... dieses Fest berührte jeden, der es beging, selbst wenn er damit nur am Rande in Berührung kam wie Tariq. Das Bewusstsein um die Geister der Toten, die einem nahe kamen zu dieser Jahreszeit, die Gedanken, die damit einher gingen, das machte etwas mit einem. Mit jemandem, der dieses Fest nicht schon seit Jahr und Tag kannte, sondern sich wie Tariq wohl erst jetzt damit beschäftigte, sicherlich noch mehr.
In Hadamars Augen spiegelte sich Trauer wider, als Tariq schließlich von seinen Eltern sprach. Es gab viele harte Schicksale, die die Götter für manche bereit hielten, und in aller Regel dachte Hadamar sich nichts dabei. So war das Leben halt, so waren die Götter, und es spielte für ihn noch nicht mal wirklich eine Rolle, ob sie dabei einfach nur würfelten oder sich tatsächlich etwas dabei dachten. Man konnte nichts an seiner Ausgangsposition ändern, und auch nicht daran, was einem fremdbestimmt zustieß – man konnte und sollte den Göttern opfern, damit sie einem wohlgesonnen waren, aber mehr ließ sich da nicht machen. Aber man konnte immer selbst entscheiden, was man anfing mit dem, was die Götter einem hinwarfen. Und das war das, was Hadamar interessierte, weil es das einzige war, was Menschen wirklich beeinflussen konnten.
Aber dieser Junge, mit seinem Schicksal, der war ihm ans Herz gewachsen. Und bei ihm tat es ihm weh, dass sein Leben bisher so verlaufen war, ohne dass Tariq irgendwas dafür konnte. „Du kannst versuchen dich darauf einzulassen. Auf den Wind lauschen, die Geräusche. Vielleicht schicken sie dir ein Zeichen, nicht unbedingt heute Nacht, aber in ein paar Tagen, wenn Neumond ist. Vielleicht ist es deutlich genug, oder auf eine so spezielle Art, dass es eigentlich niemand anders sein kann.“ Immer noch ein wenig traurig deutete er ein leichtes Heben der Schultern an. „Aber wirklich sicher sein können wir uns erst, wenn wir selbst ins Reich der Toten wechseln.“
Bei Tariqs nächster Frage stockte Hadamar erneut, diesmal mitten im Abbeißen begriffen. Er beging dieses Fest jetzt schon so lange... er hatte sich seit seiner Kindheit diese Frage eigentlich nicht mehr gestellt, einfach weil er wusste, dass das nicht ging. Er sprach schon, hin und wieder, aber es blieb halt ein einseitiges Gespräch, selbst in jenen Momenten, in denen er den Eindruck hatte jemand hörte zu, und schickte vielleicht sogar ein Zeichen. Während er endgültig abbiss und kaute, überlegte er also zum ersten Mal seit Jahren wieder ernsthaft, mit wem er würde reden wollen. Sein Vater? Da war er sich nicht so sicher – interessant wäre es sicher, aber nach all den Jahren war es nicht so, dass er sich danach sehnte. Und Eldrid und Witjon... Hadamar starrte in die Flammen, als er an die beiden dachte, vor allem an seine Schwester, und aus dem Loch in seiner Brust schlugen ebenfalls Flammen hoch. Sie begann in ihm zu wüten, brannten lichterloh und nahmen ihm die Luft zum Atmen.
Er presste die Lippen aufeinander und kämpfte mit sich, zwang die Flammen und den Schmerz Stück für Stück dorthin zurück, woher sie gekommen waren: zurück in das Loch. Als er endlich wieder in der Lage war zu schlucken, hatte er Mühe, das Fleisch an dem Kloß in seinem Hals vorbeizubringen. „Nein“, erwiderte er dann kurz angebunden. Nein. Eigentlich war das gelogen, das wusste er – wenn es wirklich die Möglichkeit gäbe, natürlich würde er mit den beiden sprechen. Aber es gab sie nicht, und er wollte sich nicht damit aufhalten über etwas nachzudenken, sich womöglich nach etwas zu sehnen, was nicht möglich war. Es war Zeit- und Energieverschwendung, fertig. Und, aber das gab er nicht mal vor sich selbst wirklich zu: er würde damit Gefahr laufen, dass das Loch in ihm den Schmerz unwiderruflich freigab. Seine Zähne senkten sich wieder in das Fleisch, und er aß weiter, obwohl er nichts mehr schmeckte, und obwohl das Schlucken mühsam war.
Den Rest der Mahlzeit verbrachten sie schweigend, und als sie fertig waren, goss Hadamar den Rest des Mets ins Feuer und legte die dritte Portion des Fleischs zu dem Stein, beides als Opfergaben an die Götter. Dann begann er leise zu singen. Er machte das nicht jedes Jahr, aber diesmal fühlte er sich einfach danach. Es war ein Lied, das er von seiner Mutter kannte, die es früher immer gesungen hatte, in irgendeinem alten Dialekt, den ihre Vorväter gesprochen hatten.
Dark the stars and dark the moon
Hush the night and the morning loon
Tell the horses and beat on your drum
Gone their master, gone their son
Dark the oceans, dark the sky
Hush the whales and the ocean tide
Tell the salt marsh and beat on your drum
Gone their master, gone their son
Dark to light and light to dark
Three black carriages, three white carts
What brings us together is what pulls us apart
Gone our brother, gone our heart
Er wusste nicht, was es war. Vielleicht lag es an Tariqs Frage vorhin. Vielleicht daran, dass es das Lied ihrer Mutter war, die es ihnen vorgesungen hatte, als sie beide klein gewesen waren, Eldrid und er, damals schon, als es noch nur sie beide gegeben hatte. Und auch dann, als es wieder nur sie beide gewesen waren, weil ein Bruder im Kindbett gestorben war. Vielleicht daran, dass er den Schmerz vorhin nur notdürftig hatte wegschieben können, dass er immer noch viel zu dicht unter der Oberfläche tobte. Aber plötzlich hatte er das Gefühl, dass in seinen Gesang eine Frau miteinstimmte, leise, ein wenig geisterhaft, und wie aus großer Ferne. Er wurde immer leiser, bis er schließlich verstummte, lauschte in den Wind und meinte Eldrid zu hören. Eldrid, wie sie früher immer mit ihrer glockenklaren Stimme mitgesungen hatte.
Vielleicht war es der Wind. Vielleicht war es auch seine Erinnerung, die ihm einen Streich spielte. Aber für einen Moment hatte Hadamar das Gefühl, dass seine Schwester tatsächlich hier war, und der Schmerz brach wieder durch und wühlte sich durch seine Brust, und diesmal schaffte er es nicht, ihn schnell wieder zu verdrängen.