Beiträge von Lucius Duccius Ferox

    Hadamar nahm den Becher entgegen, trank aber nichts, sondern fasste erst mal kurz zusammen, wie sein Werdegang im Exercitus gewesen war. Danach nickte er, als der Pilus Posterior meinte, dass ihn hier im Grunde das gleiche erwartete wie das, was er in Satala gehabt hatte. Kam jetzt nicht überraschend, nicht in einer Provinz wie Germania Superior – die Parther und die Germanen gaben sich nicht allzu viel in ihrem Potential Ärger zu machen, fand er. Eine Strafexpedition rüber ins freie Germanien dagegen ließ ihn wieder kurz aufmerken. Das ließ auf zweierlei schließen: irgendwas war vorgefallen, was eine Strafexpedition nötig machte – und derzeit standen irgendwelche Bündnisse oder ihre Erneuerung offenbar entweder nicht zur Debatte, oder die Chatten waren davon einfach nicht betroffen. Bei Ersterem konnte Hadamar sich denken, was der Grund war: unterwegs hierher hatten sie Gerüchte gehört, der Sohn des Kaisers sei hier, und sei offenbar überfallen worden von einem Trupp germanischer Räuber. Letzteres... naja. Da musste er mal schauen, was er noch so hörte. Oder was seine Verwandten ihm erzählen konnten.


    Als der Terentius seinen Becher hob, erwiderte Hadamar die Geste mit einem leichten Lächeln. „Vivas“, wiederholte er und trank ebenfalls, langsamer als sein Gegenüber, aber geleert war der Becher am Ende trotzdem. Fast schon schade, den Inhalt so schnell zu trinken – endlich wieder guter Met, richtig guter Met, um Längen nicht vergleichbar mit dem Zeug, das er mit Hängen und Würgen versucht hatte selbst anzusetzen. „Werd ich tun“, nickte er und stellte den Becher ab, bevor er sich erhob. „Danke und vale.“ Er salutierte zum Abschied und verließ dann den Raum, dessen Tür diesmal von dem Burschen für ihn aufgehalten wurde.


    Während er sich nun endlich auf den Weg zu seiner Unterkunft machte, sinnierte er noch flüchtig über das Gespräch nach. Der Terentius hatte nun nichts gesagt von dem, was der Cornicularius gemurmelt hatte... Aber das zum einen hatte der Pilus Posterior sehr eindeutig klar gemacht, dass das Gespräch beendet gewesen war, und dann stellte man einfach keine Fragen mehr. Und zum anderen konnte man sich auf eines sowieso verlassen: er würde rechtzeitig genug davon erfahren, wenn er mit seiner Centurie irgendwo die Wachablösung übernehmen sollte. Genauso wie man sich darauf verlassen konnte, dass rechtzeitig auch heißen konnte, dass man halt sofort loslegen musste. Ähnlich wie bei seiner jüngsten Versetzung. Die erwähnte Strafexpedition machte ihm da schon mehr Gedanken... natürlich hätte so eine Aktion den Vorteil, den Germanen auf der anderen Seite des Rheins zu zeigen, dass die neue XXII in Mogontiacum so einsatzbereit und schlagkräftig war wie die abgezogene II. Wenn das gelang, hatte man erst mal Ruhe und konnte weiter Aufbauarbeit betreiben. Aber es konnte halt auch nach hinten losgehen, wenn die XXII bis dahin immer noch auf halber Sollstärke war oder nur knapp drüber. Würde spannend werden... die Wintermonate genauso wie das Frühjahr.

    Hadamar bemerkte, dass Tariq... nun ja, zumindest überrascht schien von der Villa Duccia. Er zog es allerdings vor, das zu ignorieren. Gegenüber ihm, dem Straßenjungen, war es ihm fast sogar ein bisschen peinlich – auch wenn er selbst nicht ganz so aufgewachsen war, wie man es beim Anblick dieser Villa vermuten könnte. Weil die Wolfrikssöhne damals, als er noch klein gewesen war, das alles erst am Aufbauen gewesen waren. Auch die Rus vor den Toren Mogontiacums, wo seine Familie gelebt hatte, war noch nicht so weitläufig gewesen in seiner Kindheit wie dann später, aber bereits am Wachsen. Letztlich hatte sich seine Familie all das, was sie hier hatten, im Lauf der letzten ein, zwei Generationen erst erarbeitet, als Peregrini über weite Strecken, und das hatte er als Kind schon noch mitbekommen. Dass ihnen das nicht geschenkt worden war. Wie viel Anstrengung dahinter steckte. Und dass es ganz früher manchmal auch noch hart gewesen war, dass sie in manchen Phasen nach wie vor nur knapp über die Runden gekommen waren, weil alles, was die Familie besaß, irgendwie irgendwo in irgendwelchen Investitionen steckte. Das hatte er als Kind durchaus noch erlebt, und das war die Einstellung, mit der die Wolfrikssöhne auch später ihre Kinder großgezogen hatten, als es immer besser lief. Darauf hatten sie Wert gelegt: dass die Jungen wussten, dass man sich so etwas erarbeitete. Dass einem nichts in den Schoß fiel, sondern man es sich verdienen musste. Natürlich hatte er es trotzdem wesentlich leichter gehabt als viele andere, aber verwöhnt worden war er trotzdem nicht, genauso wenig wie seine Geschwister.


    Die junge Frau, die ihnen öffnete, verfiel ebenfalls ins Germanische, und Hadamar lächelte gewinnend. „Freut mich dich kennenzulernen, Ilda“, erwiderte er, und wollte gerade fragen, wer daheim war, als sie schon auf eine Verwandte verwies – hinter ihm. Hadamar drehte sich um und sah Dagmar auf sich zukommen. „Dagmar.“ Er erwiderte die Umarmung kurz, aber kräftig, und grinste jetzt übers ganze Gesicht. „Gleichfalls. Das ist Tariq, ein Freund, den ich aus Cappadocia mitgebracht habe. Tariq, das ist Dagmar, eine Tante von mir.“ Er nickte zum Haus hin. „Wer ist noch daheim gerade?“

    Hadamar ergriff den angebotenen Arm und schüttelte ihn, bevor er mit einem „Danke“ Platz nahm wie geheißen. Die Stimme des Pilus Posterior klang, als wäre sie mindestens einmal zu oft über ein Reibeisen gezogen worden, und flüchtig fragte er sich, ob das schon immer so gewesen war, oder auch auf eine alte Verletzung zurückging. Der Gedanke allerdings verschwand, kaum dass der Pilus Posterior weitersprach, ihm seine Centurie nannte und dann einen kurzen Überblick darüber gab, wie die Legion besetzt war. Halbe Sollstärke. Er wusste, worauf sein Gegenüber anspielte, dass eine halbe Legion ausreichen musste in einer Gegend wie dieser... und er wusste auch, dass bei den freien Stämmen auf der anderen Seite des Rheins die letzten Jahre mehr oder weniger Ruhe geherrscht hatte, seitdem vor ein paar Jahren ein flavischer Tribun mit den Chatten, denen, die sonst immer Ärger machten, eine Art... naja, Bündnis, Waffenstillstand, wie auch immer, ausgehandelt gehabt hatte. Aber das war ein Bündnis auf Zeit gewesen, das hatte sein Vetter ihm jedenfalls erzählt gehabt, und es gab außer den Chatten auch noch andere Stämme. Er musste sich da mal von seiner Familie auf den neuesten Stand bringen lassen, so bald er eine Gelegenheit dafür hatte, in Briefen kam so was immer eher zu kurz. Und vorhin, als er daheim vorbeigeschaut hatte, war er nur zur Begrüßung geblieben und um Tariq abzuliefern, bevor er weiter zur Legion gegangen war.


    „Dann ist die Vexillation der II inzwischen abgezogen?“ fragte er nach. Auf der Reise hierher hatte er gehört, dass die II zumindest eine Zeitlang noch hier vertreten gewesen war. Halbe Sollstärke... erschien ihm etwas wenig, und so wie der Terentius jetzt das Gesicht verzog, sah der das genauso. Genauer gesagt sah er für einen Moment ziemlich furchteinflößend drein, und Hadamar sah seinen ersten Eindruck bestätigt: zu spaßen war mit dem Mann wohl kaum. Gut dass sie auf derselben Seite standen.


    „Ich bin mit 16 beigetreten“, begann er auf die Aufforderung hin knapp zu erzählen, wie sein Werdegang in der Legio gewesen war, „der II hier in Mogontiacum. Drei Jahre später zum Optio befördert, mein damaliger Centurio wurde Primus Pilus und hat mich mitgenommen zur Prima.“ Er wusste bis heute nicht genau, was der Artorius in ihm gesehen hatte, aber irgendwas musste es gewesen sein. So oder so: er hatte Blut und Wasser geschwitzt, lange, hatte sich beinahe aufgerieben und war mehr als einmal kurz davor gewesen aufzugeben, nur um sich zu zwingen weiterzumachen, bis er sich endlich halbwegs den Respekt der Veteranen der Prima erarbeitet gehabt hatte. Und dann war der Bürgerkrieg gekommen, und hatte ihm nicht nur endgültig Respekt beschert sowie ihn um viele Erfahrungen reicher gemacht, sondern auch die Reihen im Exercitus gelichtet. Das und die Fürsprache seines Vetters hatte die nächste frühe Beförderung möglich gemacht – die ihn aber trotzdem ebenso wie die zum Optio selbst überrascht hatte. „Nach dem Bürgerkrieg wurde ich in Rom zum Centurio befördert und zu den Urbanern versetzt, wo ich etwa zwei Jahre war, die meiste Zeit davon bei der Einheit in Carthago. Danach kam wieder die II, und vor rund vier Jahren wurde ich zur XV in Cappadocia versetzt. Dort hat meine Centurie hauptsächlich Grenzdienst gehabt, Patrouillen, Scharmützel mit den Parthern, das übliche.“

    Hadamar hatte sich in Gedanken gefragt, wer wohl die Tür öffnen würde. Dass Albin nicht mehr lebte, wusste er, das hatte ihm seine Familie geschrieben gehabt. Aber Leif, ebenso wie die alte Marga, waren wohl noch da, und auch einige andere. Wer dann allerdings aufmachte, war ein ihm unbekanntes Gesicht. „Heilsa“, grüßte er zurück, wie von selbst auf Germanisch, und er ging auch einfach davon aus, dass bis heute niemand in diesem Haus arbeitete, der nicht auch dieselbe Muttersprache sprach wie die Wolfrikssöhne. Das Lächeln auf seinem Gesicht war schon fast ein Grinsen war, weil er sich so freute. „Ich bin Hadamar, Sigmarssohn, und komm auf nen Familienbesuch vorbei. Das hier ist Tariq“, er gestikulierte zu dem müden Jungen neben sich. „Und du bist?“

    Der Weg zu den Unterkünften der II. Cohorte war nicht schwer zu finden, weil er im Prinzip war wie bei der XV auch, oder früher bei der II. Hadamar konnte sich noch daran erinnern, dass er das damals, als er 16 gewesen war, ein bisschen lächerlich gefunden hatte, als er als Tiro mitgekriegt hatte die meisten Legionslager seien gleich aufgebaut. Und als ihnen eingebläut worden war, wie ein Marschlager aufgebaut zu werden hatte, immer wieder, immer gleich, hatte er innerlich geflucht. Aber wie das oft so war: wenn man sich dann plötzlich im Ernstfall befand, noch dazu womöglich das erste Mal, wusste man die Vorteile sehr schnell zu schätzen. So war es auch bei ihm gewesen, und der Hauptvorteil war nun mal: man kannte sich aus, selbst wenn man noch nie da gewesen war.


    Als er bei den Unterkünften eintraf, suchte er zuerst das Officium des Pilus Posterior auf, um seine Ankunft zu melden. Alles andere musste noch warten – auch wenn Hadamar sich darauf freute, endgültig anzukommen, die Strapazen der Reise hinter sich zu lassen. Vielleicht die Thermen aufzusuchen, aber letzteres musste wahrscheinlich noch ein bisschen länger warten, erst wollte er sich über seine Centurie schlau machen, die Unteroffiziere kennenlernen, sich die Zusammensetzung anschauen. Aber zuerst: eine weitere Meldung. Er klopfte, wartete die Aufforderung zum Eintreten ab und öffnete dann die Tür, um hineinzugehen. „Centurio Lucius Duccius Ferox meldet sich zum Dienst“, salutierte er, noch während er den Mann wahrnahm, der ihm entgegen sah. Er sah aus wie ein sehr erfahrener Kämpfer, und das nicht nur aufgrund der Narbe, die sein Gesicht zierte, oder aufgrund des fortgeschrittenen Alters, das man ihm ansehen konnte. Seine ganze Haltung strahlte aus, dass er viel erlebt haben musste, und dann noch ein bisschen mehr. Er strahlte auch aus, dass mit ihm, Alter hin oder her, nicht zu spaßen war, und dass er im Kampf wahrscheinlich immer noch den meisten Jüngeren etwas vormachen konnte.

    Found my heart and broke it here
    Made friends and lost them through the years
    And I've not seen the roaring fields in so long
    I know I've grown, but I can't wait to go home
    I'm on my way

    Ed Sheeran - Castle on the hill


    Hadamar genoss den Weg durch Mogontiacum. Er hatte schon die letzten Tage genossen, so anstrengend es jetzt am Schluss auch geworden war, das Tempo weiter hochzuhalten und durchzuziehen. Je mehr sie sich seiner Heimatstadt genähert hatten, desto mehr hatte er wiedererkannt. Und jetzt, hier, mittendrin... natürlich gab es auch Veränderungen, aber die waren in seinen Augen unwesentlich. Er bemerkte die Details, musterte manches neugierig, wies Tariq auf das ein oder andere hin, auch wenn der zu müde schien um groß etwas wahrzunehmen, aber nichts hatte sich für ihn so sehr verändert, dass er sich fremd gefühlt hätte.


    Er genoss jeden einzelnen Schritt dieses Wegs, den er auch nach all den Jahren mit traumwandlerischer Sicherheit ging. Er hatte sich hier ja oft genug herumgetrieben, wann immer er die Gelegenheit dazu gehabt hatte – daheim zu bleiben hätte ja nur geheißen, womöglich doch noch eine weitere Aufgabe zu kriegen, selbst dann wenn er sein Tagessoll schon erledigt gehabt hatte. Nein, er kannte sich hier aus, auch heute noch, und den Weg zur Villa Duccia fand er mühelos. Er merkte nur, dass er zusätzlich zu seiner Vorfreude tatsächlich auch ein wenig aufgeregt wurde, je näher er der Villa kam.


    Als sie schließlich da waren, stellte Hadamar fest, dass sich auch die Villa, zumindest von außen, nicht groß verändert hatte. Das Tor, die Wege, die Hros dahinter, die Villa selbst... er grinste breit, als er die Hand hob und kräftig klopfte.

    Wider Erwarten ging es diesmal tatsächlich schnell, was noch zusätzlich zu Hadamars guter Laune beitrug. War nicht immer so, jedenfalls bei der XV, und auch bei der II und den Urbanern hatte er manche Erfahrung mit Warterei in der Verwaltung gesammelt. Umso erfreulicher, dass es heute so reibungslos lief. Hadamar nahm das einfach mal als gutes Zeichen für seinen Einstand hier bei der XXII.


    Auch dass seine Centurie schon Sollstärke hatte, war eine gute Nachricht. Dass die XXII neu ausgehoben war, war ja kein Geheimnis, genauso wenig wie die Tatsache, dass sie insgesamt gesehen immer noch nicht auf Sollstärke war – unter anderem deshalb waren ja einige hierher versetzt worden. Hadamar hatte sich ein bisschen Gedanken gemacht, wie man noch Leute rekrutieren könnte... mal sehen, ob er Gelegenheit haben würde die anzubringen, auch wenn die Centurie, der er zugeteilt war, das nicht mehr brauchte.


    Und dann kam eine Info, die ihn aufmerken ließ. Das Castellum auf der anderen Rheinseite? Das war... interessant, um es mal so zu sagen. Er hatte in Cappadocia viele Grenzeinsätze gehabt, ein solches Kommando war trotzdem neu für ihn. Aber er hatte sich auch damals schon durchgebissen, als er, eigentlich noch völlig grün hinter den Ohren, zum Optio befördert worden war, und da hatte er sich tatsächlich anfangs überfordert gefühlt. Als die Beförderung zum Centurio gekommen war, war das schon nicht mehr ganz so gewesen, nicht zuletzt weil er als Optio schon viel hatte übernehmen müssen. Und jetzt... war so was eine Herausforderung, auf die er sich freute. Würde in jedem Fall spannend werden.


    „In Ordnung. Vielen Dank und schönen Tag noch.“ Er erwiderte das Nicken und verließ dann das Officium, um zu seiner neuen Unterkunft zu gehen.

    Hadamar hatte ja im Prinzip schon vorher gewusst, dass es wahrscheinlich eher ungünstig war, ohne wenigstens ein paar einleitende Worte mit der Neuigkeit herauszuplatzen. Aber spätestens als Tariq das, was er gerade in der Hand gehalten hatte, einfach mit einem kleinen Knall zu Boden fiel, wurde ihm das tatsächlich mal wieder deutlich vor Augen geführt, wie wenig Talent er für so was hatte. Aber naja, wenn man schon keine wohlfeil formulierten Worte fand, dann war es immer noch besser einfach zackig auf den Punkt zu kommen, fand Hadamar, als ewig um den heißen Brei zu reden und sein Gegenüber damit erst recht nervös zu machen. Also ignorierte er das Fallen des Gegenstands, ignorierte Tariqs entsetzen Gesichtsausdruck und ignorierte erst recht Soufians Reaktion, sondern machte einfach weiter.


    Das hieß: Tariqs Entsetzen konnte er dann doch nicht ignorieren. Er spürte, wie es ihm tief drinnen einen Stich versetzte, den Jungen so zu sehen, wie weh es tat, ihm das antun zu müssen. Er hatte ihn von der Straße geholt, hatte ihn gefördert und gefordert, und jetzt ließ er ihn im Stich. Es spielte keine Rolle, dass er keine Wahl hatte – er ließ ihn im Stich. Die einzige Alternative war, dass er mit ihm mitkam, und Hadamar könnte sogar verstehen, wenn Tariq davor zurückscheuen würde. Trotzdem war es genau das, was er als nächstes sagte, und entgegen seiner ursprünglichen Intention bot er es ihm nicht einfach nur an, fragte im Grunde noch nicht mal wirklich, sondern präsentierte es fast schon als halben Befehl. Ich will, dass du mitkommst. Ließ er ihm damit denn überhaupt eine Wahl? Hadamar begann an seiner eigenen Wortwahl zu zweifeln, als er sah, wie Tariq darauf reagierte, die Verwirrung auf seinem Gesicht, die Hilflosigkeit, die da plötzlich war, und dann fing sein Blick auch noch an, Hadamars Augen auszuweichen und durch den Raum zu irren. Je länger der Junge schwieg, desto mehr zweifelte er und wünschte sich, er hätte doch ein bisschen mehr nachgedacht vorher, wenigstens minimal etwas anders formuliert. Mehr als Frage. Mehr als Angebot. Mehr...


    Und dann begegnete Tariqs Blick dem seinen wieder. In seinen Augen war das Lächeln zuerst da, noch bevor es seine Lippen berührte – und jetzt war es Hadamar, der erst mal sprachlos war. Tariq kam mit. Er brauchte keine Zeit, er nahm sich keine Zeit, er sagte einfach zu.


    Tariq kam mit.


    Hadamar machte zwei schnelle Schritte auf den Jungen zu und schloss ihn fest in die Arme. Der Stein, der in diesem Moment von seinem Herzen fiel, war noch größer als er davor gedacht hätte. „Großartig“, murmelte er leise. „Du glaubst nicht, wie sehr mich das freut.“


    Mit einem Räuspern löste er sich dann von Tariq, und damit lösten sich auch die letzten Reste seiner Anspannung. Der größte Brocken, der seiner Freude über seine Heimkehr im Weg gestanden hatte, war aus dem Weg geräumt. Blieb noch Soufian, aber das ließ sich nicht klären, durch diesen Abschied mussten sie alle drei einfach durch. Kontakt würden sie halten – eine lose Verbindung zur Freya Mercurioque hatte Soufian schon jetzt über Hadamar, das würde sich sicherlich ausbauen lassen, aber auch darüber hinaus würden sie sich freilich schreiben. Nur ein Wiedersehen... das war wohl eher unwahrscheinlich, das wussten sie alle. Und so verbrachten sie den restlichen Abend genau damit: Abschied zu nehmen. Soufian tischte das Beste auf, was seine Küche so spontan hergeben konnte, und sie schwelgten in alten Geschichten und lustigen Anekdoten, die sie in den letzten Jahren zusammen erlebt hatten.

    „Natürlich“ erwiderte Hadamar freundlich und mit einem angedeuteten Lächeln. Er war generell nach wie vor gut gelaunt, freute sich schlicht und ergreifend immer noch, endlich daheim zu sein – um endgültig anzukommen, musste er noch hier in der Verwaltung durch, aber unabhängig davon war er es: daheim. Und davon mal ganz abgesehen hatte Hadamar die Erfahrung gemacht, dass es sich eigentlich fast immer lohnte, sich mit den Männern aus der Verwaltung gut zu stellen. Und es rächte sich definitiv immer, wenn man pampig wurde, egal ob es nun gerechtfertigt war oder nicht. Er nahm das Schreiben, das er schon auf den Tresen gelegt hatte, wieder auf und reichte es dem Cornicularius, damit der es prüfen konnte.



    MARSCHBEFEHL


    Mit Wirkung zum KAL DEC DCCCLXXI A.U.C.
    (1.12.2021/118 n.Chr.)


    wird


    Centurio Lucius Duccius Ferox

    zur Legio XXII Primigenia versetzt.


    Der Centurio hat sich am


    KAL DEC DCCCLXXI A.U.C. (1.12.2021/118 n.Chr.)

    im Castellum bei Mogontiacum zu melden.



    Gezeichnet

    Cossus Tuccius Tychicus

    legio-xv-tribunus-angusticlavius.png

    Vom Tor kommend suchte Hadamar sich seinen Weg zur Verwaltung, trat ein und nahm Haltung an. „Salve, Kamerad“, grüßte er und legte den Versetzungsbefehl auf den Tresen. „Centurio Lucius Duccius Ferox meldet sich zum Dienst in der XXII.“ Und bereitete sich darauf vor das zu tun, was er so oft schon in seiner Zeit bei der Legio getan hatte: warten. Nicht nur in Verwaltungsräumen wie diesen, sondern ganz generell. Als Soldat verbrachte man viel Zeit mit Warten, je niedriger der Rang, desto mehr. Trotzdem hatte das Warten in der Verwaltung immer einen... besonderen Geschmack, fand er. Lag vielleicht nur daran, dass ihm dabei jedes Mal wieder bewusst wurde, dass er davon gekommen war, damals, dass er dem drögen Schicksal wie dem, in einer Stube wie dieser seine Arbeit machen zu müssen, entkommen war. Und wie jedes Mal schickte er in Gedanken ein kurzes Dankgebet zu den Göttern, dass das so war.

    Hadamar hörte interessiert zu – trotz der Jahre, die er mittlerweile hier war, hatte er von Caesarea noch nicht allzu viel gesehen. Es mangelte schlicht an Gelegenheit dazu, und bei den wenigen, die sich hin und wieder ergaben, wo er – meist aus dienstlichen Gründen, deutlich seltener privat – dorthin musste, da mangelte es an Zeit. Vielleicht traf er den Optio mal in gemütlicherer Runde wieder und konnte sich das ein oder andere erzählen lassen, aber hier war dafür kaum der richtige Ort. Seius kündigte schon an, zurück zu müssen, und auch Hadamar fand, dass es Zeit war auch wieder weiter zu machen. Das hier war für die ganze Centurie, und da gehörte er dazu. Also nickte er dem Optio noch mal zu und verabschiedete sich ebenfalls, bevor er sich wieder zu seinen Leuten gesellte und mit anpackte, während er sie gleichzeitig antrieb. So lange, bis er sie abends schließlich vollkommen erschöpft zurück in die Castra entließ... nur um am nächsten Morgen in alter Frische weiter zu machen, so wie am Morgen danach und danach, bis er den Eindruck hatte dass die Lektion angekommen war.

    Hadamar grinste flüchtig, trotz seiner Gedanken an Tariqs mögliche Reaktion, als der Optio ihn beglückwünschte. „Dir ebenfalls alles Gute und sichere Reise“, erwiderte er, und fügte hinzu: „Und danke für den Tipp, das werde ich machen.“ Er wusste auch schon, was er aus dem Stein schnitzen würde: einen Wolf. Ganz ähnlich wie den, den er aus Holz geschnitzt hatte, als er damals seine Heimat das erste Mal verlassen hatte – und den er dann seiner Schwester geschenkt hatte, als er wieder heim konnte und sie in Rom geblieben war, um seinen ehemaligen Feldherrn zu heiraten.

    „Centurio Cossutius, Duplicarius Umbrenus – ich komm später noch mal auf euch zu, damit wir gemeinsam die Reise organisieren können“, meinte Hadamar zu den beiden, die ebenfalls nach Mogontiacum mussten und gerade vor dem Schwarzen Brett standen. Im Moment war ihm hier zu viel Trubel, um das sofort zu erledigen. Aber es gab ja noch genug anderes zu tun, weswegen er sich ebenfalls von den Anwesenden verabschiedete und sich davon machte, um zunächst mal mit seinem Optio die Übergabe der Centurie zu besprechen.

    Hadamar musste sich ein Grinsen verkneifen, als sein Blick Tariq streifte. Der wirkte... fix und fertig. Ab und zu hatte es ihm unterwegs schon etwas leid getan, den Jungen so kaputt zu sehen und nicht wenigstens ihm eine Verschnaufpause gönnen zu können – aber da musste er durch. Zum einen blieb ihnen der Luxus einer Pause schlicht nicht, zum anderen erlebte Tariq so schon vor der Rekrutierung, ob er wirklich aus dem richtigen Holz geschnitzt war. Die Reise hierher und wie Hadamar sie durchgezogen hatte, war mehr, als er normalerweise von taufrischen Tirones abverlangte – nicht an gleich zahlreichen Tagen hintereinander. Überstanden hatte er die Reise schon mal, und das ohne, dass er großartig zur Last geworden wäre. Tauglich war er also allemal für die Ala, was die körperlichen Voraussetzungen anging. Auch seinen Willen sich durchzubeißen hatte er damit gezeigt, aber das hatte er ja schon von klein auf immer wieder. Die Frage war nun noch, ob er genug zum Militär wollte, um so was zu wiederholen, nicht ab und zu für eine Reise, sondern für die nächsten 25 Jahre immer wieder. Wenn Tariq nach ein paar Tagen Ruhe also immer noch zur Ala wollte – könnten die Voraussetzungen für ihn nicht besser sein, fand Hadamar.


    Er nickte Cimber ebenfalls zu, als sie das Tor hinter sich gelassen hatten. Mit dem hatte er sich auf der Reise recht gut verstanden – das Faible für Pferde konnte Hadamar nachvollziehen, mehr als einmal hatten sie über die Tiere gefachsimpelt, und Hadamar hatte von der Hros erzählt, dem Gestüt seiner Familie hier in Mogontiacum, und Cimber versprochen sie ihm bei Gelegenheit zu zeigen, wenn sie erst mal angekommen waren und sich in ihren neuen Einheiten so weit eingerichtet hatten. „Viel Spaß bei der Ala, Cimber – wir sehen uns“, verabschiedete er sich mit einem leichten Grinsen, bevor er sich auch vom Rest der Gruppe mit knappen Worten verabschiedete und mit Tariq den Weg zur Villa Duccia einschlug.

    Eigentlich gab es mehr als genug zu tun gerade. Die Organisation seiner Centurie allem voran, denn einen direkten Nachfolger gab es zumindest noch nicht, dem er sie hätte übergeben können – also musste erst mal Optio Matius ran. Der war zum Glück nicht nur recht erfahren, sondern spekulierte darauf, dass er befördert werden würde – wofür Hadamar ihn empfehlen würde, verdient hätte er es. Die Übergabe jedenfalls wurde dadurch schon mal vereinfacht, war aber trotzdem einfach zu erledigen. Und dann war da noch Packen, Reise vorbereiten, solche Sachen halt, und das in kürzester Zeit, denn der Versetzungsbefehl ließ nicht viel Spielraum zu. Angesichts der Jahreszeit und des Wetters, das sie spätestens in Germania erwarten würde, war er sogar reichlich knapp bemessen. Hadamar hatte sich für einen Augenblick sogar gefragt, ob das nicht eine kleine Stichelei des Tribuns war... Hadamar kam ganz gut mit ihm klar in der Regel, weil er einfach seine Arbeit machte und sich weder auf unnötige Gefechte mit seinem Vorgesetzten einließ noch sich anmerken ließ, was er über ihn dachte. Aber er wusste wohl, wie der Mann sein konnte, was er tat, und was man sich darüber hinaus noch über ihn erzählte. Und solche kleinen Triezereien wie ein arg knapp kalkulierter Reisezeitraum zur Versetzung waren nicht nur bei ihm gang und gäbe. Aber es machte wenig Sinn, dass es diesmal der Tuccius war, weil er selbst zur XXII ging, also kam die Vorgabe des Termins wahrscheinlich eher von noch weiter oben.


    Viel zu tun also. Trotzdem nahm sich Hadamar am Abend einfach die Zeit, zu Tariq und Soufian zu schauen. Beide mussten Bescheid wissen, und insbesondere Tariq eher früher als später. Es war jetzt schon verdammt wenig Zeit, der Junge musste sich im Prinzip eigentlich innerhalb von ein, maximal zwei Tagen entscheiden, ob er mitkam – was Hadamar von Herzen hoffte.


    Als er das Haus betreten hatte, kam er nach der Begrüßung ohne große Umschweife zur Sache. Er war niemand, der gern um den heißen Brei herumredete, und er hatte auch keine Ahnung, wie er das vielleicht sachter verpacken, angenehmer herüberbringen könnte. Also fiel er mit der Tür ins Haus, wie eigentlich immer, wenn er wichtige Nachrichten hatte. „Ich werde versetzt“, begann er, auf Latein, weil Soufian im Gegensatz zu Tariq in all den Jahren nicht mehr als höchstens den ein oder anderen Brocken Germanisch aufgeschnappt hatte. Vor allem Flüche und Beleidigungen. „Nach Germania. Zur XXII in Mogontiacum, um genau zu sein.“ Beide wussten, dass das seine Heimat war. Dass er sich darüber freute. Aber das war im Grunde nur Nebensache, denn es spielte keine Rolle, wohin er versetzt wurde, dem Befehl hatte er Folge zu leisten, ob er sich freute oder nicht.


    Wie Soufian auf die Neuigkeit reagierte, blendete Hadamar für den Moment völlig aus. Der Händler war im Lauf der Jahre ein guter Freund geworden, und Hadamar war definitiv traurig, sich von ihm verabschieden zu müssen, ihn wahrscheinlich nie wieder zu sehen. Wirklich wichtig aber war Tariq. Und daher lag seine Aufmerksamkeit lag auf ihm.


    „Hör zu, Tariq...“ Mist. Er wusste nicht, wie er das jetzt anpacken sollte. Für einen Moment überlegte er, suchte nach Worten, aber er hatte den ganzen Tag über schon immer mal wieder nach Worten, nach einer Formulierung gesucht, ohne dass ihm was eingefallen wäre. „Ach, verdammte Axt“, fluchte er, und fiel wie gerade einfach mit der Tür ins Haus: „Ich will, dass du mitkommst. Ich weiß, dass das ne große Sache ist. Mogontiacum liegt am anderen Ende des Reichs, und du würdest alles hinter dir lassen, was du kennst. Aber ich will, dass du mit mir mitkommst.“ Es klang furchtbar egoistisch, wie er das sagte, und das war es auch, denn obwohl er das auch für Tariq selbst wollte, weil er überzeugt war, dass es für ihn das Beste wäre, wenn er einfach bei ihm bliebe – er wollte es auch für sich selbst. Weil er ihn liebte wie eins seiner Geschwister inzwischen, vielleicht sogar mehr, weil er sich um Tariq mehr gekümmert, mehr gesorgt hatte als um seine Geschwister. Er war flegelhaft gewesen und rebellisch und hatte sich vor jeder Pflicht gedrückt – natürlich hatte er auch innerhalb der Familie keine Verantwortung übernommen, auch nicht die als ältester Bruder. Auch dann nicht, als ihr Vater gestorben war und es spätestens dann seine Pflicht gewesen wäre, genau das zu tun. Es war zu jung gewesen damals, es war ihm alles viel zu viel, und er war auch lieber einfacher Bruder gewesen, der mit seinen Geschwistern Spaß hatte, als wie Eldrid immer dazwischen zu funken und darauf hinzuweisen, was sie lieber nicht tun sollten. Und es hatte ja auch genug gegeben bei den Wolfrikssöhnen, die das hatten auffangen können, allem voran Witjon, weshalb es für Hadamar einigermaßen leicht gewesen war, sich auch in den Jahren danach, als er älter geworden war, weiter zu drücken vor der Verantwortung.


    Aber bei Tariq hatte er nun die Rolle eingenommen, die er für seine Geschwister schon vor knapp 20 Jahren hätte einnehmen müssen. Er fühlte sich verantwortlich. Er wollte ihn nicht hier alleine lassen, schon gar nicht jetzt, wo er überlegte was er mit seinem Leben machten sollte, und wo er immer noch jung genug war, dass er ihn brauchte. Und: er wollte ihn einfach bei sich haben. Hadamar räusperte sich. Ihm brannte die Frage auf der Zunge: kommst du mit?, aber er verkniff sie sich. Es war unfair genug, dass er so eine Entscheidung überhaupt treffen musste, da musste Hadamar sie nicht jetzt sofort einfordern. Tariq sollte wenigstens Gelegenheit haben eine Nacht darüber zu schlafen, auch wenn er sich nicht viel mehr Zeit nehmen konnte als das. Was der Junge auch noch wissen musste, fiel Hadamar dabei ein, und so war es statt der Frage, ob er mitkam, stattdessen das, was er noch anfügte: „Du hast leider nicht viel Zeit, dich zu entscheiden. Die Versetzung ist arg knapp gekommen, wir müssen in ein paar Tagen schon abreisen, um ne Chance zu haben rechtzeitig in Mogontiacum zu sein bei der Jahreszeit.“

    Nicht allzu lang danach kam Hadamar an der Portae Castrae an. Er wusste nicht, ob die anderen schon angekommen waren oder auch erst noch andere Dinge erledigt hatten – er hatte erst einen Abstecher in die heimische Villa Duccia gemacht. Die Überraschung war in jedem Fall gelungen gewesen – er hatte es für ziemlich unsinnig gehalten, einen Tag vor seiner Abreise einen Brief loszuschicken, der dann womöglich erst irgendwann nach ihm eintrudelte. Er hatte kurz alle begrüßt, die da gewesen waren, hatte Tariq vorgestellt und vor allem seine Geschwister darauf eingeschworen, sich um ihn zu kümmern, weil er zumindest die ersten Tage oder Wochen dort bleiben würde, hatte versprochen so bald wie möglich mit ein bisschen mehr Zeit vorbeizuschauen, und war dann ziemlich bald wieder aufgebrochen zur Castra. Wo er jetzt auf das Tor zuritt und die Wachen grüßte, bevor er knapp kundtat, wer er war und warum er hier war: „Centurio Duccius Ferox, von der XV versetzt zur XXII.“

    Der Truppe, die Mogontiacum schließlich am späten Nachmittag erreichte, war größtenteils anzumerken, dass sie eine lange Reise bei eher schlechten Wetterbedingungen in ziemlich kurzer Zeit hinter sich gebracht hatten. Kaum einer, der nicht irgendwie erschöpft gewirkt hätte, auch wenn es gerade den erfahrenen Soldaten unter ihnen besser gelang als dem Rest, einfach stoisch durchzuziehen. Hadamar für seinen Teil jedenfalls hatte sich nicht von knapper Zeitplanung und schlechtem Wetter davon abhalten lassen wollen, den Versetzungsbefehl zu erfüllen und da zu sein, wenn er da zu sein hatte – und er hatte den Eindruck, dass es dem ein oder anderen Veteran in ihrer Gruppe genauso ging. Bei manch anderen dagegen war er sich nicht ganz so sicher, wie glücklich die über das Tempo waren... oder ob sie nicht lieber in Kauf genommen hätten sich etwas zu verspäten, um dafür bequemer anzukommen. Aber selbst wenn das so gewesen wäre, hätten sie das schlecht laut sagen können, keiner von denen jedenfalls, die den gleichen Marschbefehl hatten wie Hadamar. Und sie hatten auch kaum dagegen argumentieren können, wenn Hadamar ein forsches Tempo vor- und dann angeschlagen hatte. Was er quasi jeden Tag gemacht hatte, abgesehen von der Zeit, die sie auf dem Schiff verbracht hatten – da hatte er jeden Tag über der Reling gehangen und Fische gefüttert. Aber kaum war der Part ihrer Reise vorbei, hatte Hadamar Zug reingebracht. Es war nicht nur das Datum auf dem Marschbefehl, das ihnen allen im Nacken saß. Er wollte heim. Er konnte endlich heim, und er wollte es so schnell wie möglich. Also war trotz der Erschöpfung zumindest ein sehr gut gelaunter Centurio dabei, als sie endlich das Stadttor von Mogontiacum erreicht hatten und ohne größere Probleme passierten, kaum dass sie ihre Versetzungen gezeigt hatten.

    „Du kannst wirklich zum römischen Heer.“ Hadamar grinste, als er das Leuchten sah, dass erst in Tariqs Augen zu strahlen begann und sich dann von da auf das ganze Gesicht ausbreitete. Er sah ein bisschen aus wie ein Kind, das einen Herzenswunsch erfüllt bekam. Und zu Hadamars Freude darüber, so was wie ein Vorbild zu sein, womit er nie gerechnet hatte, nicht auf diese Art, nicht innerhalb der Familie, kam die Freude hinzu, dass Tariq so glücklich darüber war. Es wurde mit jedem Moment, den der Junge mehr realisierte, dass er doch das machen konnte, was er machen wollte, obwohl er es offenbar für sich bereits abgehakt gehabt hatte, deutlicher. Und Hadamar freute sich einfach für ihn und mit ihm.


    „Die Ala würde sich anbieten, nachdem du schon reiten kannst, aber grundsätzlich werden Rekruten ausgebildet, da hängt ja noch mehr dahinter als nur reiten können oder mit Waffen umgehen.“ Sein Grinsen wurde noch ein bisschen breiter, als er an seine eigene Zeit als Tiro dachte. Oh ja, Tariq würde Spaß haben. Und er würde fluchen. Was Hadamar vermutlich Spaß machen würde. Der Drill in der Ausbildung, die Anforderungen, der Schliff, der einem da schließlich verpasst wurde, aber auch die Gemeinschaft mit den anderen Rekruten und den übrigen Soldaten der eigenen Einheit, die Tatsache, dass man mit nichts davon wirklich allein war... er war sich ziemlich sicher, dass Tariq das genauso taugen würde wie ihm damals. Wie ihm bis heute, nur dass er jetzt der war, der schliff. „Die Classis ist die Marine. Da sollte man halt nicht seekrank werden...“ Was bei Hadamar bei seinen bisherigen Seereisen mit schöner Regelmäßigkeit der Fall gewesen war, was erklärte, warum er nicht ganz so freudig klang, als er über die Classis sprach. „Dienstzeit bei Ala und Classis ist 25 Jahre, danach kriegst du definitiv das Bürgerrecht.“


    Er schnappte sich noch mal ein paar Trauben, als Tariqs nächste Frage kam. „Nicht viel“, grinste er zurück. „Einfach im Rekrutierungsbüro melden.“ Er warf sich eine Traube in den Mund und fügte dann noch hinzu: „Ein paar Voraussetzungen gibt’s, aber die erfüllst du alle. Größe passt, bist jung und gesund, was will man mehr.“

    Hadamar hatte von einem seiner Milites gehört, dass er doch mal zum Schwarzen Brett schauen solle, und so kam auch er vorbei, um nachzuschauen was da so Interessantes ausgehängt worden war heute. Einige Versetzungen, das bekam er schon mit als er noch nicht mal Gelegenheit gehabt hatte draufzuschauen – er grüßte den ein oder anderen, den er kannte, schnappte zusätzlich dies und das auf, und lustigerweise sahen ausgerechnet die, die zu den Prätorianern versetzt wurden, nicht sonderlich glücklich drein. Obwohl doch immer gesagt wurde, das sei eine Ehre, und verbunden war mit mehr Sold und kürzerer Dienstzeit. Hadamar zuckte leicht die Achseln. Seit er im Bürgerkrieg auf die Schwarzröcke getroffen war, wusste er: die waren auch nicht anders als alle anderen auch. Mancher war besser, mancher auch schlechter, wie überall, aber die Arroganz, die die meisten von ihnen ausstrahlten, ging so gut wie jedem anderen auf den Keks.


    Dann hörte er seinen Namen. Nicht nur Centurio Duccius, sondern auch der Tribun Tuccius persönlich begleitet dich, hörte er, und jetzt war sein Interesse schlagartig da. Er trat dazu, grüßte beide und fragte dann, mit einem Blick auf das Brett: „Begleiten wohin?“ Und sah im selben Moment seinen Marschbefehl. Er wurde auch versetzt. Zur neuen XXII, nach Mogontiacum. Hadamar konnte es im ersten Augenblick gar nicht fassen. Er wurde nach Hause zurückversetzt. Er konnte heim. Würde endlich Germania wiedersehen, seine Heimat. Seine Familie. Es machte sich gerade ein tiefes Glücksgefühl in ihm breit – da fiel ihm Tariq ein. Und in das Glück hinein mischte sich Ratlosigkeit. Er konnte, er wollte den Jungen nicht hier allein zurücklassen. Er hatte ihn nicht vor Jahren von der Straße gekratzt und alles daran gesetzt, dass er dort nicht wieder landete, nur um jetzt zu verschwinden und ihn wieder sich selbst zu überlassen. Tariq war Familie geworden, er konnte das einfach nicht. Erst vor kurzem hatten sie darüber gesprochen, was er anfangen wollte mit seinem Leben, Hadamar hatte ihm die Möglichkeit mit den Auxiliareinheiten aufgezeigt. Hatte ihm versprochen ihn zu unterstützen. Nicht einen Moment lang hatte er darüber nachgedacht, dass er versetzt werden könnte – sicher, das kam vor, war ihm selbst ja schon öfter passiert, aber nicht in den letzten Jahren, und zumindest diesmal hatte er keine Vorwarnung gehabt. Entweder waren seine Netzwerke eingerostet, oder es war recht spontan gewesen – oder sehr gut unter Verschluss.


    Er kratzte sich den Bart. Im Grunde wusste er, was er wollte. Er wollte weiter für den Jungen da sein, und das hieß ihn mitzunehmen. Aber ob Tariq das auch wollte... Hadamar unterdrückte ein Seufzen. Würde er heute Abend schon sehen, ob er mit nach Germania wollte.