So ruhig und unscheinbar, wie seine Amtszeit als Quaestor Ostiensis hier begonnen hatte, war sie schon lange nicht mehr. Auf Dives warteten fast täglich Korrespondenzen mit Freunden in Roma, Händlern der Civitas und Beamten von Nachbarstädten. Dazu kam die angestoßene Initiative für eine Liegegebühr für in ostiensischen Häfen liegende Schiffe, wofür ebenfalls viel nachgedacht und ein wenig zu papyrus gebracht werden musste. Weiterhin auch noch das angestoßene Projekt eines kleinen ostiensischen Circus, in dessen Rahmen Dives vor kurzem die beiden Senatoren Germanicus Avarus und Germanicus Sedulus zu Gast hatte. Und natürlich deutlich angenehmer, doch mitunter nicht minder anstrengend, der gemeinsame Thermenaufenthalt von Sedulus und Dives, sowie der Überraschungsbesuch seines noch etwas von seiner Krankheit gezeichneten Cousins Centho.
Und als würde das nicht alles schon reichen - wobei Dives natürlich froh war, dass er so viele Aufgaben hatte und nicht nur ein Sesselpupser einer verschlafenen Kleinstadt war -, erzählte Centho Dives bei besagtem unerwarteten Aufenthalt in Ostia von seinem spontanen Vorstoß beim Augustus. Nicht, dass Dives dies nicht zu würdigen gewusst hätte - es schmeichelte ihm ungemein, dass sein Cousin sich ungefragt so sehr für ihn einsetzte (!) -, doch brachte es Dives andererseits natürlich in eine etwas unglückliche Lage. Während andere (zu denen ja auch seine Verwandten Proximus und Saturninus gehörten) erst den Schritt vom städtischen Magistratus zum decurionischen Duumvir einer italischen Stadt machten und gemacht hatten, um danach in Roma mittels entsprechender Verbindungen zu einer Erhebung in den Ordo Senatorius zu gelangen, hatte man hier um die Erhebung eines gerade amtierenden Quaestors gebeten. - Und für jeden Dritten musste es wohl schon so aussehen, als wenn dies auf Initiative von Dives geschehen wäre. Das wiederum würde bedeuten, dass man zwangsläufig denken müsste, dass Dives in seiner jetzigen Position unzufrieden wäre und ihm seine Karriere nicht schnell genug voran ginge. Dass ein offensichtlich karrieregeiler junger Möchtegern-Politiker hingegen oftmals gerade das Gegenteil von dem erreicht, was er anstrebt, lehrt die Erfahrung.
Und am gestrigen Tage dann das: Eine Eilbotschaft aus Roma. Absender: Dives' Cousin Centho. Inhalt: Eine Quasi-Vorladung beim Praefectus Urbi, jenem als skrupellos und machtbesessen geltenden Mann, über dessen Schreibtisch wohl einerseits das Schreiben Centhos gegangen war, der andererseits aber auch als ein gewisser Freund der Gens Iulia galt. Worum es wohl genau ging? Mit dem Stadtpatronat über Osia oder Dives' Quaestur hier hatte es auf jeden Fall wohl kaum etwas zu tun, denn andernfalls hätte sich der Praefectus nicht bei Centho, sondern hier in Ostia gemeldet - ob nun bei der Curia oder der Villa Rustica Iuliana Ostiensis. Zudem hätte er wohl auch das Gespräch mit einem Duumvir oder vielleicht auch noch Dives als Quaestor gesucht, aber zusammen mit Centho? Nein, das Einzige, was Dives, seinen Cousin Centho und den Praefectus Urbi einigermaßen sinnvoll miteinander verband, war jenes Schreiben an den Augustus.
Ob man Proximus auch geladen hatte? Das war eine interessante Frage, der leider dem Eilbrief aus Roma keine Antwort zu entlocken war. Gesetzt dem Fall, dass dies wirklich nur eine Vorladung von Centho und Dives war, so wäre wohl klar, dass nur eine ordentlich Schelte kommen könnte - mit einem unbekannten Strafmaß. Obwohl... Morgenempfang? Hatte sein Cousin nicht davon auch etwas geschrieben? Das würde dann heißen, dass sie den Praefectus Urbi schon beinahe privat treffen würden... zur Salutatio, was die Vermutung nahe legen würde, dass jener es vielleicht bei einer Rüge beließ - eben weil Salinator ja ganz iulierfreundlich war (zumindest in der Vergangenheit). Andererseits gäbe es natürlich auch die Möglichkeit, dass es deshalb nicht in seinem Officium stattfand, damit er zu noch drakonischeren Mitteln greifen könnte, als sie sich Dives gerade vorstellen konnte.
Und wenn Proximus auch anwesend wäre? Genaugenommen wäre es wohl beinahe schon wieder irrelevant, denn verwarnen oder drakonisch bestrafen könnte der Praefectus Urbi so oder so. Ja, vielleicht könnte er sogar an Dives ein Exempel statuieren, um sich Proximus und Centho noch loyaler und untergebener zu machen. Dives hatte das Gefühl, dass sich ihm der Magen umdrehte bei all diesen grausamen Vorstellungen...
Jetzt saß er hier in seinem Officium - wie lange es wohl noch seines wäre (?) - und brütete über den vielen Fragen. Was sollte er nur tun? Was könnte er überhaupt tun? Dem Gespräch einfach fernbleiben und behaupten, dass jenes Schreiben aus Roma ihn nie erreicht hätte? Das wäre wohl keine sehr gute Idee, da Dives damit vielleicht die einzige Chance verspielte, dass Salinator es bei einer kleinen Rüge beließ. Eine spontane Krankheit? Nein, die entfiel wohl aus ähnlichem Grund. Und wenn er einfach in ein Schiff stiege und auf nimmer Wiedersehen (oder zumindest für die nächsten Jahre, vielleicht auch Jahrzehnte) Italia verließ? Vielleicht Richtung Asia? Lesbos war ihm während seiner Kindheit eine gute Heimat gewesen und auch noch in seiner Jugend schätzte er es immer sehr, wenn er wieder von seinen Studien zurück war und einige Tage in Mytilene verbringen konnte. Doch dieser Weg hieß aufgeben: Liebgewonnene Freunde, wie Aculeo und Sedulus, seine ins Herz geschlossenen Verwandten, allen voran seinen Cousin Centho, dessen Kinder und seine Cousine Corona, aber auch die zahlreichen entfernteren Verwandten. Dann waren da natürlich noch die Factio Veneta und die Societas Claudiana et Iuliana, denen sich Dives nicht nur verbunden, sondern auch verpflichtet fühlte. Und nicht zuletzt würde er auch seinen Traum aufgeben müssen - den Traum, jemals als Senator von Roma dem ehrwürdigsten aller ihm bekannten Gremien anzugehören! All diese Opfer um vielleicht - denn auch das war ja noch lange nicht garantiert - mit dem Leben davon zu kommen? NEIN, das konnte Dives nicht und das wollte er nicht. Eine alternative Lösung musste her. Die gab es schließlich immer, man musste nur genau genug hinschauen...
Wieder überlegte Dives, den Kopf in seine Hände legend. Und eine eventuelle gute Absicht des Vesculariers? Was, wenn sich diese ganzen Szenarien als völlig absurd herausstellten und der Praefectus Urbi positive Optionen offen hielt? Das konnte sich Dives nicht so recht vorstellen, bei allem, was er über ihn gehört hatte. Der Mann verfolgte doch immer irgendein Interesse. Weshalb also sollte er... Dives hatte es noch immer nicht geschafft, sich einen einflussreichen Patron zuzulegen! Oh, dass ihm dies gerade jetzt auf die Füße fiel! So kurzfristig und dabei noch einen guten Eindruck hinterlassen, sodass man ihn dann auch tatsächlich annahm? Das war wohl eine unlösbare Aufgabe, doch vielleicht mit etwas Glück... Dives müsste natürlich seine ganzen Überzeugungs- und Überredungskünste zum Einsatz bringen und dann auch noch ein wenig schauspielerisches Talent beweisen, dann könnte ihm dies vielleicht noch erspart bleiben. Denn wenn Dives etwas wusste, dann, dass der Senat und Salinator sich spinnefeind waren. Das konnte man schließlich kaum überhören, wenn man durch die Straßen und Gassen Romas lief und in abgeschwächter Form sogar noch in Ostia! Wenn Dives folglich Senator werden wollte, dann wäre ein Patronat von Salinator derzeit ein gänzlich falsches Signal.
Wo das Schwert bereits so nah über Dives' Haupt zu hängen schien, wo wahrscheinlich kein Mensch auf Erden - abgesehen vielleicht vom Princeps persönlich - ihm helfen könnte, da war eindeutig ein göttlicher Beistand von Nöten! Und welcher Gott würde sich wohl besser eignen als jener, der Geschenke und Nachrichten überbringt, Verirrten den Weg weist, dem List und Tücke nicht fremd sind und der als Gott des Zufalls für das glückliche Finden sorgt? Dives sprang auf von seiner Sitzgelegenheit. Wie gut, dass Ostia einen intakten Tempel des Mercurius hatte! Dass er sich wohl mit einem kleinen Opfer für den Moment begnügen müsste, würde der Gott hoffentlich nicht allzu schwer nehmen, aber wirklich viel Zeit zum Aussuchen passender Opfertiere oder ähnlichem blieb Dives nun einfach mal nicht. Er stürzte aus seinem Officium...