So hatte er diesen Jungspund noch nicht erlebt, dachte Ostianus, als er im Officium der Stadtschreiber ankam. Der Quaestor Ostiensis war ungewohnt energisch aufgetreten, nur weil er, Ostianus, die Anschriften zweier Decuriones nicht aus dem Stehgreif parat hatte. Gut, Dives mochte durchaus damit recht haben, dass er sich hätte informieren können - und wohl besser auch sollen -, als er deren Namen hörte. Aber trotzdem! Ostia hatte schließlich viele Honoratioren und nicht nur sechs, wie manch andere italische Stadt nach einer Seuche...
Da alles Jammern und Winseln aber in der Regel nichts brachte, sondern die Situation im Gegenteil sogar oftmals nur noch verschlimmerte, machte sich Ostianus nach kurzem Verschnaufen auch gleich auf ins städtische Tabularium, wo er hoffte, auf möglichst schnellem Wege an die gewünschten Daten zu kommen. Was er jedoch vorfand, war ein größtenteils heilloses Durcheinander an beschriebenen und unbeschriebenen, halbwegs sortierten und gänzlich unsortierten tabulae. Einzig die Dekrete der Curia, namentlich die Stadtordnung, die alte und neue Hafenverordnung und eine Abschrift der Lex Municipalis waren ordentlich archiviert worden und standen ganz in der Nähe des Eingangs, sodass sie auch stets gut verfügbar waren.
Was tun? Der einzelne Scriba sah die auf ihn zukommene Arbeit immer mehr vor seinem inneren Auge in die Höhe wachsen, während er daneben immer kleiner wurde. Er war für einen kurzen Augenblick lang verzweifelt, dann resigniert. Mitnichten würde sich einer der anderen Scribae bereit erklären, ihm bei der Arbeit zu helfen, da jeder vorgab, dass er durch seinen Vorgesetzten bereits genügend ausgelastet sei. Und die städtischen Magistrate selbst interessierte ja zumeist nur, dass die entsprechenden Informationen jederzeit abrufbar waren und nicht, wie das Archiv nun geordnet oder ganz offensichtlich auch nicht war. Die letzten Archivare, die hier vorgegeben hatten zu arbeiten, hattten dies ganz offensichtlich nicht getan. Oder konnte das das Werk eines Einzelnen sein, der etwas gesucht, gefunden und dann alles Andere stehen und liegen gelassen hatte? - Bei der Unordnung: Wohl kaum.
Betrübt kehrte Ostianus zurück ins Officium der Scribae und überlegte, wie er Dives klar machen sollte, dass es Tage, vielleicht auch Wochen oder Monate dauern würde, bis er das Archiv geordnet haben würde - zumal allein. Dabei frühzeitig auf die passenden Akten zu stoßen wäre pures Glück und wenig wahrscheinlich. Es musste eine Lösung des Problems geben... Nur welche und vor allem würde sie ihm jetzt auf die Schnelle in den Kopf kommen? Der Quaestor wartete schließlich in seinem Officium und wie Ostianus mitbekommen hatte, war in der vergangenen hora auch niemand bei ihm gewesen, sodass sich dessen Ärger wohl nur aufgestaut haben würde...
Just in diesem Augenblick blieb Ostianus fast das Herz stehen, als grimmigen Schrittes und mit starrem Blick Dives am Officium vorbei in Richtung Ausgang ging. Ein Glück, dass er nicht zur Seite geschielt hatte, sondern stur geradeaus. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn er Ostianus hier erwischt hätte, wo er ihn doch eigentlich im Archiv vermuten musste, wo er eigentlich auch mit der verzweifelten Suche nach den Akten beschäftigt sein sollte. Aber stattdessen saß er hier und grübelte und brütete über die Frage, was er dem Quaestor berichten sollte. Ein grauer Tag, ... ein trister Tag, ... bis ein weiterer Scriba das Officium betrat:
| Potitus Asinius Celer
"Sagt mal, was ist denn dem Quaestor über die Leber gelaufen?", fragte Celer völlig irritiert über diese Tatsache. Er selbst war erst heute zurückgekehrt von der Reise nach Misenum, als man ihm in der Villa Rustica Iuliana Ostiensis, in der er immernoch zu Gast war, berichtete, dass er von Dives in Abwesenheit zum Scriba Ostiensis gemacht worden war. Folglich war er sogleich aufgebrochen zur Curia, um seinem Freund enthusiastisch von der Reise und deren Ergebnissen zu berichten. Doch jener hatte ihn nichteinmal wahrgenommen, als er an ihm vorüber ging, sondern schien sehr in seine Gedanken versunken zu sein - und die schienen nicht sonderlich erhellend gewesen zu sein...
Die Frage und die Blicke der anderen ignorierend sprang Ostianus beim Anblick dieses kollegialen Gesichts sofort auf, rannte Celer beinahe um, griff dabei dassen Hand und zog ihn in Richtung Tabularium. Diesen Schock erst überwinden müssend, hielt Celer erst, kurz nachdem er förmlich von seinen Beinen gerissen worden war, gegen und einige Meter später kamen beide zum Stehen. Die bessere Frage wäre wohl gewesen, WER Dives derartig über die Leber gelaufen war, dachte sich Celer und setzte einen dementsprechend kritischen Blick auf, den man sonst so garnicht von ihm kannte. Dives und er kannten sich bereits so lange, waren die besten Freunde - zumindest in der Vergangenheit - und wer ihn so offensichtlich verärgert hatte, der hätte es auch bei Celer schwer. Auffordernd schob er seinen Kopf nach vorn. Er wollte endlich wissen, was los war.
Drum erzählte ihm Ostianus sein ganzes Dilemma, während sie beide langsam weitergingen. Als er am Ende der Geschichte angekommen war, standen sie dann auch schon vor dem Tabularium und wenig später überzeugte sich Celer selbst vom ihm zuvor beschriebenen Missstand. Dann dachte er nach: Die Arbeit hier musste gemacht werden - ohne jeden Zweifel. Und Dives wäre wohl täglich mies gelaunt, solange er die geforderten Akten nicht hatte. Er hatte schließlich auch noch andere Dinge zu tun, andere Korrespondenzen und Gespräche. Allein dafür würde er Ostianus aufgrund seiner sehr guten Qualifikation wohl genauso brauchen können... Wahrscheinlich sogar noch mehr als Celer, sodass er... NEIN! Er musste Ostianus jetzt helfen, sodass die Arbeit nicht im Endeffekt sogar noch ganz an ihm, Celer, hängen bleiben würde. Jetzt könnte er vielleicht sogar noch eine Gegenleistung herausschlagen und fordern:
"Okay, ich helfe dir... Aber dafür verlange ich auch, dass du mich bei meiner nächsten Kandidatur unterstützt. Offiziell werde ICH das Archiv wieder auf Vordermann gebracht haben! Einverstanden?", fragte er in einem Tonfall, der zeigte, dass er der Überlegene war. Es war erstaunlich, doch die Reise nach Misenum schien Celer verändert zu haben - er war berechnender geworden, wenngleich ihm die Mathematik selbst noch immer wenig lag. Ostianus seinerseits nickte nur stumm. Hatte er denn eine andere Wahl? Aus seiner Sicht wohl kaum. Und mit Celer als Hilfe würden sie Dives vielleicht nur eine halbe Woche hinhalten müssen. So schlossen sie denn das Tabularium und machten sich in einer gemeinsamen Nachtschicht daran, die entsprechenden Akten wieder ordentlich in die Regale zu legen. Dabei zeigten beide - jeder aus ganz eigenen Motiven heraus - viel Einsatz, sodass am anbrechenden Morgen das Tabularium wieder tiptop war, die gewünschten tabulae auf Dives' Schreibtisch lagen, Celer noch von der Reise und nun völlig ausgelaugt auf dem Boden des Archivs vor einem Regal schlief und Ostianus sich neben ihm kuschelte...