"Mama, Ildrun ärgert mich!"
"Gar nicht wahr!"
"Mama!" Farold setzte zu einer weiteren Beschwerde an, doch seine Schwester kam ihm zuvor und versetzte ihm einen Klaps gegen den Arm. Statt weiter zu protestieren, reagierte er jetzt sofort und griff nach Ildruns Haaren, um daran zu ziehen. Die schrie und machte sich daran, die Hände nach den Armen ihres Bruders auszustrecken und ihn zu zwicken, und innerhalb von Sekunden hatten Octavenas Kinder sich vor ihren Augen in ein schreiendes und schimpfendes Bündel verwandelt, bei dem es schwer war, zu erkennen, wo wer anfing und aufhörte.
"Genug!", fuhr Octavena die Kinder an und stellte die Teller, die sie eigentlich gerade hatte verteilen wollen, klirrend auf den Tisch vor sich. "Alle beide!"
"Aber-"
"Kein aber!" Octavena warf ihrer Tochter einen so scharfen Blick zu, dass selbst Farold neben Ildrun ein wenig zusammenzuckte. "Farold, hör auf, deiner Schwester an den Haaren zu ziehen, und Ildrun, hör auf, ihn ständig zu ärgern."
"Aber er hat angefangen!"
"Das ist mir vollkommen egal. Du bist die Ältere von euch beiden. Du solltest wissen, wie man sich benimmt."
Einen Moment lang erwiderte Ildrun darauf nichts, sondern starrte ihre Mutter nur wütend an, die allerdings diesem Blick standhielt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Egal, wie wehmütig es Octavena manchmal machte, dass ihre Tochter inzwischen doch nicht mehr so klein war - Noch war Ildrun ein Kind und als solches unterschätzte sie noch immer sehr, wie viel von ihrer eigenen Sturheit sie von ihrer Mutter geerbt hatte. Und wie sinnlos es deshalb war, zu versuchen, Octavena einfach nur nieder zu starren.
"Papa wäre auf meiner Seite."
Der Satz saß wie ein fester Schlag in Octavenas Magengrube. Nicht nur, weil es gerade mal ein paar Wochen her war, dass sie Witjon begraben hatten und Octavena in dem Versuch, ihre Familie nun trotzdem irgendwie zusammenzuhalten, ihrer eigenen Trauer bisher kaum Raum gegeben hatte, sondern auch, weil es stimmte. Ildrun wusste das und Octavena genauso. Wäre Witjon hier gewesen, hätte er sehr wahrscheinlich Ildrun in Schutz genommen oder die Lage anders entschärft. Octavena hätte ihn später deswegen angefahren und vielleicht hätten sie sich sogar gestritten, weil sie es leid war, wie Witjons enges Verhältnis zu ihrer gemeinsamen Tochter ihre Autorität untergrub, aber in der Sache hatte das Mädchen schon recht. Ihr Vater wäre auf ihrer Seite gewesen. Und dass er es nicht mehr sein konnte und stattdessen Octavena mit ihrer Tochter statt ihrem Mann stritt, verdeutlichte nur wieder, wie sehr er in der Dynamik ihrer Familie fehlte.
Octavenas Züge mussten inzwischen vollkommen entgleist sein, denn für den Bruchteil einer Sekunde huschte so etwas wie Bedauern über Ildruns Gesicht, doch noch bevor ihre Mutter etwas erwidern konnte, war der Ausdruck auch wieder verschwunden und sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Raum, dicht gefolgt von Farold, der sich bei der Wahl zwischen seiner wütenden Schwester und seiner frustrierten Mutter wohl entschloss, lieber Ildrun nachzugehen.
Octavena dagegen sank, kaum dass beide verschwunden waren, auf einen Stuhl und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Und wieder schien sie alles falsch zu machen. Ildrun entglitt ihr mit jedem Tag ein bisschen mehr und zu allem Übel saß auch noch Farold zwischen den Stühlen, einfach nur, weil er zu jung war, um ganz zu verstehen, was hier eigentlich vor sich ging. Das Schlimmste war vielleicht, dass sie, während sie selbst ihren Mann mehr vermisste als sie es zugeben konnte oder es gar vor der Familie oder ihren Kindern zeigen wollte, ihren eigenen Vater gleichzeitig in sich selbst wieder erkannte. Er hatte nach dem Tod ihrer eigenen Mutter auch nicht gewusst, wie er seine sture und eigensinnige Tochter anpacken sollte, und am Ende hatte das in Geschrei, Tränen und Octavenas Reise nach Mogontiacum geendet. Und bei allem Ärger, Octavena wusste, dass sie es sich selbst nie verzeihen würde, wenn ihre Beziehung zu Ildrun enden würde wie die zu ihrem eigenen Vater.
Mit einem tiefen Seufzen rieb sich Octavena die Augen. Die Situation konnte nicht mehr lange einfach so weitergehen, das war ihr selbst klar. Sie hatte in den letzten Wochen versucht, einfach so weiterzumachen als wäre nichts gewesen, in der Hoffnung, dass Normalität schon von allein einkehren würde, aber wenn ihre wiederholten Schlagabtäusche mit ihrer Tochter eins verdeutlichten, dann, dass die Strategie alles andere als aufging. In ihrem Versuch, sich selbst mit dem Haus und ihren Kindern beschäftigt zu halten, wurde Octavena auch selbst nur immer gereizter und es war auch nicht das erste Mal, dass das nicht nur ihr selbst, sondern auch den Hausangestellten auffiel. Ganz davon zu schweigen, dass Octavena auch schon vor Wochen versprochen hatte, ein weiteres Paar helfende Hände im Haus einzustellen, das aber dann doch nicht getan hatte, weil sie den Moment gefürchtet hatte, in dem ihre Tage nicht mehr von morgens bis abends mit Arbeit gefüllt waren und sie sich mit ihren eigenen Gedanken auseinandersetzen musste. Trotzdem: Ganz egal, wie sie es drehte und wendete, es musste etwas geschehen. Egal, wie sie es drehte und wendete, so konnte es nicht mehr weitergehen. Nicht nur um ihrer Kinder willen, sondern auch weil sie selbst erst einmal etwas mehr Luft zum Atmen brauchte. Ansonsten würden sie nie wieder zu Normalität finden.