Beiträge von Petronia Octavena

    Für einen Moment entgleisten Octavena ihre Gesichtszüge und sie blickte Witjon nur ungläubig an. Das drohende Zählen in Ildruns Richtung war vergessen, die müde Genervtheit wie weggeblasen, stattdessen hatte sie nun Perplexität erfasst. Perplexität, die nach der ersten überraschten Sekunde langsam in Wut umzuschlagen begann, die sich nun brodelnd in ihrer Brust ausbreitete, während ihre schon seit Stunden nur mühsam aufrecht erhaltene Beherrschung sich jetzt vollends in Luft auflöste.


    "Ist das jetzt dein Ernst?", fauchte sie schließlich in einem Tonfall, mit dem man Berge hätte teilen können. "Unsere Tochter ist schlicht ein Kind, das seine Grenzen austestet und aufgezeigt bekommen muss und du fragst mich wirklich, was ich mit ihr getan habe?"


    Octavena presste die Lippen zu einem zornigen Strich zusammen und drehte sich um - hauptsächlich, um Witjon nicht direkt ansehen zu müssen - und begann, Farolds Spielzeugfiguren vom Boden aufzusammeln. "Natürlich", murmelte sie dabei leise zischend halb zu sich selbst und halb an ihren Mann gewandt. "Das war ja absolut klar." Dass Witjon jetzt ihr Vorwürfe machte, hatte ihr heute gerade noch gefehlt. Als ob dieser Tag nicht ohnehin schon ein mittelmäßiger Albtraum gewesen war.


    Mit einem lauten Knall warf Octavena die Figuren zurück in die Spielzeugtruhe ehe sie sich dann wieder zu ihrem Mann umdrehte und ihn mit einem vernichtenden Blick bedachte. "Ich habe heute schon den ganzen Tag mir ein Bein ausgerissen, um Ildrun dazu zu bewegen, auch nur einen Moment mal zu zu hören statt wie ein Wirbelwind durch das gesamte Anwesen zu wüten, aber ja, natürlich, ich bin schuld, wenn sie einen bockigen Tag hat. Entschuldige, dass ich nicht von alleine drauf gekommen bin." Mit deutlich mehr Schwung als nötig ließ sie den Deckel der Truhe zukrachen und verschränkte die Arme vor der Brust. "Wenn du meinst, du kannst es besser, dann mach doch! Zeig ihr, dass schlechtes Benehmen keinerlei Konsequenzen hat!" Unter den verschränkten Armen ballte Octavena ihre Hände zu Fäusten. Sie war das alles so leid. So leid, sich immer und immer wieder mit ihrer Tochter zu streiten, nur damit Witjon abends dazu kommen und sich wundern konnte, was denn los war, und Octavena dann wiederum im nächsten Schritt gegenüber Ildrun mit Nachlässigkeit untergraben konnte. "Wunderbare Idee, dann bin ich für sie wieder die Böse und die Spielverderberin!"

    "So in der Art. Ildrun versucht es zumindest. Nur dass sie damit definitiv nicht durchkommen wird", knurrte Octavena mit einem verächtlichen Schnauben und war inzwischen selbst zu genervt, um wenigstens das müde Lächeln zu erwidern, mit dem ihr Mann sie bedachte. Stattdessen schob sie sich an Witjon vorbei in den Türrahmen und brüllte laut "Sechs!" in die Richtung, in der sie ihre Tochter vermutete ehe sie sich wieder zu ihm umdrehte. "Hast du sie schon gesehen? Sie gibt heute schon wieder nur Widerworte."


    Sie drehte kurz erneut den Kopf in die andere Richtung. "Fünf! - Ich warne dich, mit jeder Zahl sinken deine Chancen auf ein Abendessen!"


    "Mir doch egal!", schallte es bockig aus der Ferne zurück, auch wenn die Stimme zu sehr gedämpft war, als dass Octavena hätte sagen können, woher sie genau kam.


    "Ha! Das werden wir ja noch sehen, Camelia!" Ihr Gesichtsausdruck wurde noch finsterer. "Vier!"


    Keine Reaktion. Octavena zuckte mit den Schultern und hob mit einem leisen Fluch hilflos die Arme in die Luft. "Siehst du?", zischte sie. "So geht das schon den ganzen Tag. Sie benimmt sich schlecht und wenn ich mit ihr schimpfe, haut sie ab und verkriecht sich. Die Konsequenzen kümmern sie nicht einmal mehr." Sie deutete in die Richtung, aus der das nun langsam leiser werdende Weinen ihres Sohnes kam, während sie sich jetzt erst so richtig in Rage geredet hatte. Und wenn es nur war, weil ihr eigentlich diese Rolle der zeternden Spielverderberin genauso wenig gefiel wie ihrer Tochter, aber wenn Ildrun nicht hören wollte, musste irgendwer ihr schließlich ihre Grenzen aufzeigen. Erst recht nachdem das hier nur die neuste Episode einer ganzen Reihe solcher Tage und Abende und Octavena inzwischen nur noch müde war. "Das ist übrigens das Ergebnis ihrer Flucht gerade eben. Als ob ihr Theater über den ganzen Tag hinweg nicht genug gewesen wäre, hat sie auf ihrem Weg nach draußen noch Farold umgerannt. Wunderbar, nicht wahr?"


    Octavena drehte noch einmal den Kopf. "DREI! - Zwing mich nicht dazu, bei eins anzukommen!"

    "Ich will aber nicht!", quengelte Ildrun und Octavena seufzte tief.


    Es war ein hektischer Tag in der Villa Duccia gewesen und ihre Geduld für heute ging definitiv zur Neige. Ihre Tochter hatte in letzter Zeit beschlossen, die meisten Worte ihrer Mutter nur als eine Art optionale Vorschläge zu behandeln, gleichzeitig ging ihr Sohn inzwischen die ersten Schritte selbst durch das Anwesen, was zur Folge hatte, dass Octavena wiederum kaum so schnell gucken konnte, wie Farold um die nächste Ecke verschwunden war. Seine Mutter dagegen fürchtete ständig, dass seine Neugier noch früher oder später dazu führen würde, dass er sich ernsthaft verletzte. Ildruns ewige Widerworte waren da nur eine weitere Sache, die unablässig an Octavenas Nerven zerrte und die meisten anderen Hausbewohner hatten sich schon den halben Tag vor der gereizten Hausherrin weggeduckt. Mit Ausnahme ihrer Kinder, besonders ihrer Tochter, die nun bockig die Arme vor der Brust verschränkte und ihre Mutter trotzig ansah. Unter anderen Umständen hätte Octavena vielleicht bei diesem Anblick selbst ein wenig schmunzeln müssen. Sie war sich eigentlich nur zu gut bewusst, dass dieser Dickschädel ihrer Tochter nicht von ungefähr kam, aber heute kratzte sie nur das letzte Bisschen Beherrschung zusammen, das sie noch auftreiben konnte, und holte einmal tief Luft ehe sie fortfuhr, zu sprechen.


    "Duccia Camelia!", zischte Octavena und baute sich drohend vor ihrer Tochter auf, langsam, aber sicher nicht mehr gewillt, den Unfug des Mädchens auch nur einen Augenblick länger zu dulden. Tatsächlich zuckte Ildrun bei der Verwendung ihres römischen Namens zusammen, wusste sie doch sehr wohl, dass das ein Zeichen war, dass sie nun wirklich in Schwierigkeiten steckte. In ernsten Schwierigkeiten. Dabei hatte ihr eigentlich schon Ärger in dem Moment geblüht, in dem gerade, am frühen Abend, sie fast vollständig mit Schlamm bedeckt ins Haus gestürmt war. Zum zweiten Mal am selben Tag. "Du wirst dir jetzt auf der Stelle etwas Sauberes anziehen oder du wirst mich erst richtig kennenlernen."


    Kurz schien Ildrun ein wenig verunsichert, schüttelte dann aber vehement den Kopf. "Nein!"


    "Na schön." Octavena knirschte wütend mit den Zähnen. "Ganz wie du willst."


    Sie streckte einen Arm aus, um das Handgelenk ihrer Tochter zu ergreifen und die Diskussion zu beenden, aber Ildrun duckte sich geschickt unter ihr hinweg. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt, schlug einen Haken und lief blitzschnell aus dem Raum, wobei sie bei ihrer Flucht noch ihren Bruder anrempelte, der in der Nähe der Tür auf einer Decke gesessen und friedlich mit ein paar Holzfiguren gespielt hatte. Der Junge kippte ein wenig nach hinten und stieß sich den Hinterkopf an der Wand hinter sich, woraufhin er noch im selben Moment begann, lauthals zu weinen.


    "Camelia! Komm sofort zurück!", brüllte Octavena ihrer Tochter noch nach, aber entweder hörte ihre Tochter sie tatsächlich nicht mehr oder wollte es nicht. "Ich sag dir, junge Dame, das wird ein Nachspiel haben!"


    Doch alles Rufen blieb erfolglos und mit einem leisen Fluch schritt Octavena zu Farold hinüber und nahm ihn auf den Arm, um ihn eilig zu beruhigen. Garantiert würde Ildrun sich jetzt erst einmal irgendwo verkriechen oder sonst irgendwie versuchen, sich dem Zugriff ihrer Mutter so lange zu entziehen bis deren Zorn so weit verraucht war, dass der unausweichliche Ärger nur noch halb so schlimm sein würde, und Octavena war sich dessen nur allzu bewusst. Dumm war ihre Tochter ganz eindeutig nicht. Das würde zwar Octavena eines Tages noch in den Wahnsinn treiben, weil Ildrun damit auch längst heraus hatte, wie sie im richtigen Moment die richtigen Verwandten auf ihre Seite ziehen und so so mancher Strafe entgehen konnte, aber die Taktik war nicht blöd. Octavenas Züge verfinsterten sich unwillkürlich. Heute würde sie sie damit aber nicht durchkommen lassen.


    Noch immer mit ihrem weinenden Sohn auf dem Arm schritt Octavena wütend aus dem Kaminzimmer. Draußen lief sie beinahe in Lanthilda hinein, die überrascht die Stirn gerunzelt hatte und wohl nach dem Lärm hatte sehen wollen. Octavena drückte ihr mit einer knappen Erklärung Farold auf den Arm und setzte dann sichtlich verärgert ihre Suche fort.


    "Ich gebe dir genau eine Chance, zurück zu kommen, Duccia Camelia", rief die dabei laut und hoffte, dass ihre Tochter noch in der Nähe war und sie hören würde. "Ich zähle bis zehn und wenn du dann nicht hier bist, bist du wirklich in ernsten Schwierigkeiten! - Zehn ... neun ... acht ..."

    Zitat

    Original von Numerius Duccius Marsus
    "Genucius, ich danke dir für die Einladung", entgegnete Witjon. "Sehr richtig, dies ist Petronia Octavena. Du erinnerst dich an Marcus Petronius Crispus, einst unser Duumvir? Sie ist seine Großnichte." Bei dem Wort Großnichte warf er seiner Frau einen Blick zu, der einen Bruchteil Unsicherheit ausdrückte. War diese Verwandtschaftsbeziehung korrekt? Vielleicht hätte er es besser vage bei 'Verwandte' belassen. So oder so, der Bezug zum verdienten Veteranen und Lokalpolitiker Petronius war hergestellt.


    Proculus' Miene hellte sich auch sogleich weiter auf. "Natürlich, natürlich. Freut mich sehr." Dann wies er auf seine Frau, die sich zunächst sittsam im Hintergrund gehalten hatte. "Darf ich wiederum vorstellen: Meine Gattin Cluentia Quadratilla."
    Besagte Gattin trat nun vor und reichte beiden Gästen die Hand zum Gruß. "Salvete. Seid willkommen in unserem bescheidenen Ludus." Ihr gelang sogar ein Lächeln, das echt wirkte. Quadratilla freute sich darüber, dass der Duccius erschienen war. So hatten sie schonmal einen wichtigen Beamten der Provinzverwaltung hergelockt. Sie betete zu Apollo Mogon, dass auch der Statthalter sich herbequemen möge, um ein wenig den Circenses zu frönen.


    "Genau genommen sogar Nichte", korrigierte Octavena ihren Mann bei ihrer Vorstellung und überspielte so parallel mit einem höflichen Lächeln die ungeschickte Begrüßung durch Proculus. Der Mann bemühte sich offenbar, aber Octavena fand das Gehabe dennoch reichlich albern. "Tochter seines Vetters."
    Lächelnd begrüßte sie auch Quadratilla, die direkt einen deutlich souveräneren Eindruck bei Octavena hinterließ als ihr Mann, was die Petronia in einer anderen Situation vielleicht neugierig zur Kenntnis genommen hätte, aber sie bezweifelte, dass sie diese Bemerkung noch weiter brauchen würde. Stattdessen ließ sie ihren Blick beiläufig weiter über ihre Umgebung gleiten, sehr viel neugieriger darauf, ob sie nicht doch das eine oder andere bekannte und interessantere Gesicht entdecken würde.

    "Dann ist ja gut." Die Information, dass ihre Tochter ihr den Ärger vermutlich nicht übel nahm, erleichterte sie. Dabei hatte Witjon ja recht: Das war eigentlich nichts gewesen, trotzdem hatte Octavena sofort ein schlechtes Gewissen bekommen. Schon allein Dank ihrer eigenen Familiengeschichte, obwohl die wegen ganz anderen Dingen schwierig geworden war.
    "Wahrscheinlich mache ich mir nur wieder zu viele Sorgen. Ein Nachteil am Elterndasein." Sie lächelte ein wenig schief. "Wenn der Kleine etwas ruhiger schläft und ich wieder entspannter bin, gibt sich das schon wieder."
    Octavena machte eine wegwerfende Handbewegung, um das Thema damit zu beenden. Sie hatte schon genug gejammert wegen nichts - auch wenn es gut getan hatte. "Vielleicht sollte ich mal nachsehen, ob Marga sich von Ildruns 'Hilfe' erholt hat und wirklich Hilfe gebrauchen kann. Bis zum Essen dauert es wahrscheinlich nicht mehr lang."

    "Lang", erwiderte Octavena mit einem Seufzen und streckte beiläufig eine Hand aus, mit der sie ihrem Mann kurz über den Rücken strich. "Der Kleine war unruhig und kaum hatte ich ihn kurz schlafen gelegt, kam von irgendwoher ein Geräusch oder Ildrun herein gestürmt und alles ging von vorne los. - Da fällt mir ein: Hast du sie eigentlich schon gesehen?"
    Octavena schnaubte. "Wahrscheinlich ist sie immer noch wütend, dass ich sie irgendwann deswegen ein bisschen zu scharf angefahren habe."
    Sie schnitt eine Grimasse und zuckte einen Moment mit den Schultern. Ein wenig tat ihr das ja auch leid, wusste sie doch, dass ihre Tochter es nicht böse gemeint hatte und noch nicht an ihr Dasein als große Schwester gewöhnt war. Das hatte die Situation zuvor allerdings auch nicht einfacher gemacht.


    "Sobald man sich an das Wetter gewöhnt hat, lässt es sich hier gut leben", stimmte Octavena nickend zu und schmunzelte für einen Moment mit einem Seitenblick auf ihren Mann. Vermutlich war sich der Flavius nicht bewusst, wie viel Wahrheit für sie in dieser Aussage steckte. Und dass sie diese Erkenntnis auf die harte Tour erlangt hatte, auch wenn sie Mogontiacum schon lange als ihr Zuhause definierte.


    "Ja, aber ich vermute, du kennst ihn nicht. Er ist inzwischen ein alter Mann und hat sich vor ein paar Jahren aufs Land zurückgezogen und sein Sohn lebt sogar noch länger nicht mehr hier." Und hatte sich seiner Karriere gewidmet, jedenfalls nahm Octavena das an. Denn nachdem sie und Lucius sich nie sonderlich nahe gestanden hatten, hatte sie nur eine sehr grobe Vorstellung davon, was ihr Cousin genau trieb, und wenn sie ehrlich war, kümmerte es sie auch nicht sonderlich. Ihr Onkel war vielleicht ein zäher alter Knochen gewesen, mit dem sie auch mal aneinander geraten war, aber Octavena war durchaus dankbar für alles, was er für sie getan hatte. Bei Lucius dagegen sah das ganz anders aus. "Außer mir wirst du keine Petronier mehr in der Stadt finden, jedenfalls im Moment."

    Zitat

    Original von Manius Flavius Gracchus Minor
    Der Gedanke an jene aurelische Natter erweckte in ihm die Sensibilität für die Präsenz der Begleitungen der Duccier, welche inmitten jener Männerrunde ein wenig verloren sich ausnahmen. Manius Minor blickte daher zuerst zu Petronia Octavena, deren Namen er als aufmerksamer Gastgeber selbstredend memorierte:
    "Petronia, entstammst du ebenfalls einer der örtlichen Familien?"


    Die direkte Ansprache ihrer Selbst riss Octavena ein wenig aus ihren Gedanken, gerade als sie damit gerechnet hatte, heute Abend wohl nur zu zu hören. Auf die Frage des Flaviers hin schüttelte sie den Kopf und ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Es war eine Weile her, dass sie eine Frage in diese Richtung beantwortet hatte, lebte sie doch inzwischen eine ganze Weile in Mogontiacum, wo man auch ihren Onkel meistens noch kannte, obwohl er sich schon länger aus der Stadt zurückgezogen hatte.
    "Ja und Nein", erwiderte sie dann freundlich. "Ich stamme aus Taracco und meine Familie ist dort eigentlich schon immer ansässig, aber mein Onkel hat mit seiner Familie hier gelebt lange bevor mein Vater mich zu ihm geschickt hat."
    Dass das eine diplomatische Zusammenfassung der Ereignisse war, die zu ihrem Auftauchen in Mogontiacum geführt hatten, erwähnte sie dabei nicht. Das gehörte nicht hierher, aber der Gedanke versetzte ihr wie immer einen kleinen Stich, von dem sie sich aber Mühe gab, sich nichts anmerken zu lassen.
    Sie lächelte erneut. "Mein Onkel war in der Zeit, in der ich bei ihm gelebt habe, wie ein Vater für mich und sein Sohn manchmal wie ein Bruder, also ist das alles ein bisschen eine Frage der Perspektive."
    Zugegeben, die Bemerkung über ihren Vetter war ein wenig übertrieben oder nur dann richtig, wenn man an die vermutlich normalen Streitereien zwischen Geschwistern dachte, aber das änderte nichts daran, dass ihre enge Bindung zu ihrem Onkel und dessen Familie der Wahrheit entsprach.

    Octavena reagierte auf das Zwinkern mit einem Grinsen und schüttelte ein wenig den Kopf, während sie sich wieder einmal bewusst wurde, wie angenehm es war, dass sie beide ihre Gespräche so entspannt führen konnten. Und dass sie Glück gehabt hatte, einen Mann zu heiraten, mit dem sie sich genau dafür gut genug verstand.
    "Dann Farold?", schlug sie vor, während ihr Blick zu dem Neugeborenen glitt. Ihrem Sohn. Der Gedanke war noch so neu und ungewohnt, dass Octavena unwillkürlich lächeln musste. Wenn sie vor inzwischen doch einigen Jahren gewusst hätte, wohin ihre Streitereien mit ihrem Vater führen würden, hätte sie sich vielleicht etwas weniger gesträubt, als er sie zu ihrem Onkel geschickt hatte.

    Octavena erwiderte höflich die Begrüßung, als die Duccier ein wenig zu spät eintrafen, und lächelte. Sie war sich bewusst, dass sie neben ihrem Mann vermutlich ungewöhnlich römisch aussehen musste, schließlich hatte sie ihr bewusst römisches Auftreten nie abgelegt und das war auch heute Abend nicht anders. Als sie auf einer Kline platznahm, meinte sie einen Moment lang einen merkwürdigen Ausdruck auf Runas Gesicht zu bemerken, ließ aber schon im nächsten Augenblick ihren Blick über die Gäste gleiten. Offenbar waren die Duccier die einzigen mit weiblicher Begleitung. Schade eigentlich, das bedeutete auch, dass sie heute keine neuen Kontakte zu den Frauen von irgendwem knüpfen konnte. Damit tat sie es einfach Runa gleich und hörte schweigend den Gesprächen der Männer zu. Bei Witjons Bemerkung über die Jagd und die "Beruhigung seiner Familie" hob sie kurz die Brauen und ein kleines, skeptisches Lächeln flog über ihr Gesicht, das sie aber direkt in ihrem Becher verbarg und nicht weiter kommentierte. Sie hielt wenig von diesen Jagdausflügen, gerade weil im Winter, wie Witjon gesagt hatte, auch einmal ein Wolf ihren Weg kreuzen konnte und das eine Vorstellung war, bei der Octavena sich alles anderes als wohl fühlte.


    Beim Essen schweiften einen Moment Octavenas Gedanken ein wenig ab, was aber nicht bedeutete, dass ihr entgangen wäre, wie ihr Mann die Sklavin neugierig beäugte, die ihm das Handtuch reichte. Sie warf ihm einen flüchtigen strengen Blick zu, in erster Linie weil sie ihm signalisieren wollte, dass es ihr sehr wohl aufgefallen war und er etwas unauffälliger oder sie abgelenkt sein musste, damit ihr so etwas entging, und nicht weil wie so leicht eifersüchtig geworden wäre.

    Octavena überlegte einen Moment. Sie kannte tatsächlich nur eine Hand voll germanischer Namen und das meiste davon beruhte auf Geschichten über Familienmitglieder oder Freunde der Duccii. Und mit den Bedeutungen einzelner Namen kannte sie sich zu schlecht aus, um auf diesem Wege einen schönen Namen vorzuschlagen. Aber nachdem sie ja gerade schon gewitzelt hatte, dass sich der römische Name ihres Sohnes gut schimpfen ließ, konnte sie ja auch einfach überlegen, was sich in ihren Ohren schlicht schön anhörte.
    "Gehört Farold zu den abwegigen Namen, die du mir 'wortreich ausreden' würdest? Oder Gunnar?" Sie lächelte. "Ich weiß nicht so richtig, warum, aber ich mag den Klang."

    "Quintus Duccius Firmus..." Octavena überlegte kurz und nickte dann. "Ja, das klingt gut."
    Ein Grinsen huschte über ihre Lippen. "Das lässt sich auch gut schimpfen", meinte sie dann in Anspielung darauf, dass sie die Angewohnheit hatte, schon ihre Tochter besonders dann bei ihrem vollen römischen Namen zu nennen, wenn sie etwas angestellt hatte und in Schwierigkeiten steckte.


    Das Angebot, dass sie bei dem germanischen Namen mitreden sollte, überraschte sie dagegen und kurz blinzelte sie ihn erstaunt an. Octavana hatte damit gerechnet, dass Witjon sicher auch seinen zweiten Sohn nach jemandem benennen wollte, was bedeutet hätte, dass sie auch gar nicht den Anspruch erhoben hätte, sich dabei einzumischen.
    "Natürlich, gerne... Aber wirklich? Ich dachte, du würdest bestimmt wieder einen Namen aus der Familie weitergeben wollen. Oder woran hattest du sonst gedacht?"

    "Alles bestens. Er schläft."
    Octavena seufzte, das Grinsen, das Witjon versuchte zu verbergen, gar nicht weiter bemerkend. Mit einer gewissen Erleichterung stellte sie stattdessen fest, dass er allein war und ihre Tochter offenbar irgendwo anders durchs Haus rannte und so also nicht Octavenas Mühen, das Neugeborene nach ein paar unruhigen letzten Stunden schlafen zu legen, unbeabsichtigt zunichtemachen konnte.
    Ein müdes Lächeln zuckte um Octavenas Mundwinkel. "Endlich."


    Jetzt registrierte sie auch den gut gelaunten Ausdruck auf Witjons Zügen und hob fragend die Brauen. Sie wusste, dass er den gesamten Tag unterwegs gewesen war, da hatte sie erwartet, ihn jetzt müde und erschöpft anzutreffen. Irgendetwas war da im Busch. Als nun sein Tonfall plötzlich nervös wurde und er ganz offensichtlich nach den richtigen Worten für sein Anliegen suchte, begann sie zu ahnen, in was für eine Richtung sich dieses Gespräch entwickelte und ihr Lächeln wurde immer breiter. Es amüsierte sie immer wieder aufs Neue, wenn sie ihn so erlebte. Die Ironie gefiel ihr, dass Worte normalerweise nicht seine größte Schwäche waren, er aber jetzt trotzdem vor sich hin druckste. Ganz zu schweigen, dass sie sich davon auch ein wenig geschmeichelt fühlte, wusste sie doch, dass es auch dafür sprach, dass sie Glück gehabt hatte und nun eine gute Ehe führte.
    Bis er schließlich fertig war mit seiner kleinen Ansprache und ihr sein Geschenk in die Hand drückte, hatte sich der Ausdruck auf Octavenas Zügen in ein breites Grinsen verwandelt. Vorsichtig schlug sie zuerst den Stoff zur Seite und öffnete dann neugierig die Schatulle, die darunter zum Vorschein kam. Beim Inhalt sog sie kurz scharf die Luft ein und hob überrascht den Blick. Nun war sie diejenige, die einen Augenblick lang nach den richtigen Worten suchte. Beide Schmuckstücke in der Schatulle, Kette wie Ohrringe, waren nicht nur ohne Frage fein und kunstvoll gearbeitet, sondern auch wunderschön. Vorsichtig hob Octavena die Kette an und glitt mit den Fingern an dem kühlen Material entlang ehe sie mit einem breiten Lächeln den Kopf schüttelte und ihren Mann wieder ansah.
    "Das ist wunderschön." Sie legte die Kette zurück zu den Ohrringen. "Danke."
    Mit der nun freien Hand griff sie grinsend nach seiner, um sie sanft zu drücken. "Und ich bin auch sehr stolz. Über unsere Kinder und ganz besonders über das Glück, dass auch unser Sohn gesund und munter ist."
    Den Halbsatz, dass das bei der doch etwas aufregenden letzten Schwangerschaftswochen und der Geburt nicht selbstverständlich gewesen war, schluckte sie herunter. Jetzt war alles gut, das war wichtig. An alles andere wollte sie nicht mehr denken.

    Die Tage verstrichen und während Octavena langsam wieder zu Kräften kam, zeichnete sich auch ab, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihr Sohn die Geburt überstanden hatten. Gut genug, als dass Octavena bereits begann, unruhig zu werden, und dem Kind einen Namen geben wollte. Bei der Geburt ihrer Tochter hatten sie auch nicht lange gefackelt und außerdem war sie gedanklich schon bei Familie und Freunden in Tarraco, denen sie eine Nachricht schicken wollte. Anders als zur Geburt ihrer Tochter würde allerdings dieses Mal natürlich keine Botschaft an ihren Vater gehen können... Der Gedanke versetzte ihr einen deutlicheren Stich als sie zugeben wollte. Ein Teil von ihr vermisste den alten Nörgler. Bereute es, dass sie ihre Streitereien nie beendet hatten.
    Doch genauso schnell wie diese Gedanken aufkamen, verscheuchte Octavena sie auch wieder. Sie hatte bereits getrauert und Vergangenes war vergangen. Jetzt waren Gegenwart und Zukunft entscheidend. Und das bedeutete erst einmal, den richtigen Moment abzupassen, um das vertagte Gespräch mit ihrem Mann zu führen.

    Octavena erwiderte nichts, sondern lächelte nur darüber still in sich hinein. Sie musste nicht noch extra darauf hinweisen, dass sie sicher war, dass der Tonfall seiner Antwort auch nur dazu diente, zu verbergen, dass er auch glücklich war.
    "Er braucht einen Namen", sagte sie dann, den Blick weiter auf den Säugling gerichtet ehe sie doch wieder den Kopf hob und ihren Mann fragend ansah. "Aber vielleicht sollten wir darüber auch einfach später sprechen."

    Octavena wollte gerade Alpina antworten und sie bitten, Witjon Bescheid zu geben, da erschien der Hausherr auch schon von alleine in der Tür. Sie mochte müde sein, dennoch bemerkte Octavena die Sorge, die einen Moment lang noch auf seinem Gesicht zu sehen war, auch wenn sie den Ausdruck stillschweigend überging. Er musste es nicht sagen, sie hatte auch so eine grobe Vorstellung davon, dass ihn die verfrühte Geburt sicher mindestens nervös gemacht hatte. Vielleicht auch noch machte, denn noch war ja nur der erste Schritt geschafft. Wie sie selbst ja auch.
    Gleichzeitig war das alles nichts, woran Octavena jetzt denken wollte. Im Augenblick war sie einfach nur müde, aber glücklich. Sie lachte leise, als ihr Mann sichtlich überfordert wie angewurzelt im Raum stehen blieb, und nickte mit dem Kopf in Richtung des Neugeborenen in ihren Armen.
    "Komm schon her." Sie grinste erschöpft. "Oder willst du nicht auch unseren Sohn sehen?"

    Das Neugeborene schrie und Octavena spürte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. Ihrem Kind, ihr Sohn wie Alpina ihr im nächsten Moment mitteilte, ging es gut. Zu früh oder nicht, es lebte und damit war die erste Hürde geschafft.
    Octavena hob müde den Kopf und versuchte, sich etwas besser aufzusetzen, ehe sie langsam die Hände ausstreckte, als Marga mit dem Baby auf dem Arm auf sie zukam. Stumm lächelnd hielt sie ihren Sohn in den Armen, betrachtete das kleine rosa Bündel und musste unwillkürlich daran denken, wie glücklich sie auch schon gewesen war, als sie ihre Tochter das erste Mal so in den Armen gehalten hatte.
    "Mein Sohn", murmelte sie leise und lächelte weiter.

    Octavena schrie vor Schmerz und hatte das Gefühl, damit das gesamte Haus zusammenbrüllen zu müssen. Der Widerstand, den Marga ihr dadurch bot, dass sie ihre Knie hielt, gab ihr zwar vage das Gefühl, zu helfen, vor allem, weil sie Octavena so vor allem ähnlich wie das Bett unter ihr, in das sie sich gekrallt hatte, einen Fixpunkt gab, auf den sie sich konzentrieren konnte, aber das änderte nichts daran, dass ihr Kind es eiliger hatte als es sollte. Schreiend und keuchend presste sie weiter. Dieses Mal ging es schneller, das bedeutete auch, dass es hoffentlich schneller vorbei sein würde. Nicht mehr lange, sie musste nur durchhalten.