Nachdem der Alte weg war, hatte Lucius seine fixe Idee rund um den Tod seiner Mutter rasch wieder vergessen - zu sehr hatte ihn diese spannende neue Welt, die Rom darstellte, abgelenkt. Nach ein paar Wochen wurde ihm dann allerdings doch langweilig: Die Tavernen in Transtiberim waren oft voller Ausländer, die man überhaupt nicht verstand (selbst die Stadtrömer sprachen einen hässlichen Dialekt!), Euklids Elemente hatte er zum x-ten Male durchgearbeitet und die Bibliothek der Schola Atheniensis war so weit weg, dass er meist zu faul war, dort etwas zu lesen (mitnehmen durfte man ja sowieso nichts).
Nach einigen Tagen kam er deshalb wieder auf diese Idee und begann, sich zu überlegen, ob und wie man nachweisen konnte, dass der Alte seine Frau und Lucius' Mutter im Streit erschlagen hatte. Natürlich war er dabei systematisch vorgegangen und hatte - selbst wenn er die Juristerei hasste - mit dem Naheliegendsten begonnen: § 74 CodIur, dazu den Kommentar des Vinicius. Dort hatte er gelesen:
Erste Voraussetzung der Privilegierung ist, daß er Täter in einer hochgradigen Gefühlserregung gehandelt hat. Alle Affekte kommen in Betracht, sowohl asthenische (Angst, Verzweiflung) also auch sthenische (Zorn, Wut, Rachsucht). ob ein solcher heftiger Affekt beim Täter vorgelegen hat, ist eine empirisch zu ermittelnde Tatsache, die erst in den folgenden Merkmalen normativ bewertet wird.
Das war zwar für Juristen nett, half dem jungen Petronier allerdngs wenig: die Frage war, wie er eine "empirisch zu ermittelnde Tatsache" nachwies, denn wie erfasste man bitte im Nachhinein etwas empirisch? Gab es irgendwo im Körper ein Organ, das Emotionen abspeicherte wie das Archiv der Duumvirn, das die Protokolle des Ordo Decurionum sicherte? Vermutlich nicht, sonst hätte er sicherlich schon einmal von Sektionen im Rahmen von Gerichtsverhandlungen gehört. Wovon man dort hörte, waren aber fast nur Zeugen und Verhörnotizen.
Deshalb hatte er sich schließlich eine Amphore Wein gekauft, hatte Armin herangeholt und gemeinsam mit ihm versucht zu rekonstruieren, was an dem Tag, als seine Mutter gestorben war, geschehen war. Zuerst hatte der Sklave versucht, seinen Verdacht zu zerstreuen - der Alte war zwar ein Choleriker, gegen Heila hätte er aber fast nie die Hand erhoben, er wäre doch ebenfalls todtraurig gewesen und so weiter und so weiter. Aber Lucius hatte nicht abgelassen - immerhin wussten sie beide, wie oft der alte Crispus ausgerastet war, um seine Gewaltausbrüche im Nachhinein zu bereuen, selbst wenn er zu stolz war, es zu zeigen!
Und schließlich hatte Armin nachgegeben, dass man dem ganzen ja zumindest nachgehen konnte. Dann hatten sie begonnen. Die allgemeinen Rahmenbedingungen waren trotz der vielen Jahre, die das Erlebnis zurücklag, erstaunlich schnell zu rekonstruieren: Es war mitten im Sommer gewesen, die Sonne hatte geschienen - den Monat wussten sie allerdings nicht mehr. Nach einigem Überlegen war ihnen auch gekommen, dass sie im Innehof des Hauses um die Wette gelaufen waren - nackt wie die Sportler in der Palaestra und immer im Kreis des Porticus. Zuletzt hatte Armin gewonnen, woraufhin Lucius beleidigt gewesen war und sie beschlossen hatten, dass beide einen Siegeskranz bekamen. Den Efeu hatten sie im Garten abgerupft - zum Glück war Morag außer Haus gewesen, sonst hätte es sicher Ärger gegeben. Der Schrei, den sie dann gehört hatten, war eindeutig aus der Küche gekommen - aber wie der alte Crispus dorthin gekommen war, wussten sie tatsächlich nicht mehr. Sie wussten nur noch, wie sie die Köpfe zur Tür hereingestreckt hatten und dort Heila in ihrem Blut gesehen hatten, in den Armen des alten Petroniers. Gunda hatte sie dann herausgescheucht und gesagt, Mama wäre verletzt und bräuchte Ruhe. Daraus war zu schließen, dass sie noch nicht tot war, als der Medicus gekommen war. Auf der Bank waren sie gesessen und erst nach einiger Zeit war sein Vater dazugekommen. Dann, nachdem der Medicus wieder aus der Küche gekommen war, hatte der Alte die Hiobsbotschaft verkündet. Aber wie lange die Untersuchung gedauert hatte? Keine Ahnung...