Für Lucius war der große Tag gekommen, vor dem er sich ein wenig fürchtete - auch wenn er nicht bereit war, sich das einzugestehen. Er war kein besonders guter Jurist, hatte sogar den Cursus Iuris nur durch Betrug bestanden. Trotzdem musste er die Fassade aufrecht erhalten, um den Zorn des Alten zu vermeiden. Nur die noch größere Angst vor seinem Vater war es also, die ihn dazu bewogen hatte, sich nicht zu widersetzen.
Und so stand er heute in der Regia. Immerhin war der Iudex nicht der Statthalter - ein Mann, den der junge Petronier wirklich respektiert hätte - sondern nur irgendwelche Decurionen aus Noviomagus und Borbetomagus. Erstere Stadt war etwas angesehener als das Legionsvicus Mogontiacum - selbst wenn dieses eine Provinzhauptstadt war - aber die Gesandten aus Borbetomagus waren für Lucius nicht viel mehr als größere Bauern. Das wiederum spielte ihm in die Hände, denn wie er wusste, musste er sich nur selbst einreden, dass sein Gegenüber ein Nichts war, dann konnte er auch sein Lampenfieber besiegen und flüssig reden. Das war nicht logisch, aber nach langem Überlegen hatte er beschlossen, es einfach zu akzeptieren und einmal einen Arzt zu fragen, sollte er jemals einen kennen lernen.
Seine unmittelbare Prozessvorbereitung war deshalb auch ein wenig anders als die normaler Anwälte: Er saß auf der Anklagebank und beobachtete die drei Iudices und suchte nach Hinweisen, dies es ihm erleichtern würden, auf die drei herunterzublicken. Der Iudex Prior machte es dabei etwas schwieriger - er war schon etwas älter und bewegte sich überaus aristokratisch. Normalerweise blickte der junge Petronier zu solchen Leuten auf, die auf natürliche Weise Autorität auszustrahlen schienen, aber hier würde dies nur zu Stottern und Stammeln führen. Also brauchte er ein Argument, das für seine Minderwertigkeit sprach...
Nach einigem Überlegen fand Lucius endlich etwas - Apustius Gratus hatte seinen ganzen Reichtum sicherlich ererbt und war ein Krämer wie die Decuriones in Mogontiacum eben auch. Wahrscheinlich hatte er nie in seinem Leben ein Schwert in der Hand gehabt, sondern sich von Sklaven den Hintern auswischen lassen, während Leute wie Lucius' Vater ihren Arsch hingehalten hatten, damit Städte wie Noviomagus in Sicherheit waren. Sicherlich hatte er während des Bataveraufstands gemeinsame Sache mit den Rebellen gemacht und seine Schäfchen ins Trockene gebracht, ehe Noviomagus zerstört worden war. Und überhaupt, was war Apustius denn für ein Name?
Mit diesen und anderen Gedanken aufgewärmt sah er sich noch einmal seine Tabula mit den Redepunkten an, warf sie dann aber achtlos auf die Bank - das bisschen würde er sich schon merken können, und um diese aufgeblasenen Trottel zu überzeugen, reichte seine Erinnerung allemal!
"Verehrte Iudices", begann Lucius, wobei sein Unterton bei genauem Hinhören irgendwie unernst klang. "Ich, Lucius Petronius Crispus, Decurio, Sohn des Marcus Petronius Crispus, Primipilaris der Legio II Germanica..." Eine solche Vorstellung baute den jungen Petronier immer wieder auf - denn auch wenn er den Alten fürchtete, so war er doch stolz, was er geleistet hatte... "... stehe heute vor euch, um ein schändliches Verbrechen anzuklagen, das diese Banditen dort begangen haben."
Er deutete auf die Anklagebank, wo die sechs Täter wie die Tauben auf der Stange saßen - sie zu verachten war die leichteste Übung für Lucius.
"Gemeinschaftlich haben sie die Kasse der Civitas Mogontiacum geraubt, die sich aus all den Steuern speist, die wir braven Bürger Jahr für Jahr bezahlen."
Er sah kurz zur Richterbank und der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass Apustius Gratus wahrscheinlich alle möglichen Tricks kannte, um etwas weniger in diesen Topf zu zahlen - wahrscheinlich reichte es, den Quaestor zu bestechen...
"Wie konnte so etwas wohl passieren? Natürlich durch Verrat!"
Er fixierte den ehemaligen Scriba Vipstanus - Lucius hatte immer gelernt, dass Treue und Gehorsam die wichtigsten Tugenden waren. Wer seine Pflichten vernachlässigte und sich den Worten seiner Vorgesetzten widersetzte, der war ehrlos und nichts wert. "Dieser treulose Schreiberling, Servius Vipstanus Saloninus, hat sich nämlich vom Kopf der Bande kaufen lassen. Dieser Kopf heißt Germar, Sohn des Ratbod und stammt aus der Civitas Alisinensium. Er ist ein Krämer und Verschwender, weshalb er auch versucht, sich mit dem Namen "Hermipus" einen seriösen Anstrich zu geben. Naja, er war jedenfalls auch ein miserabler Krämer, denn anstatt mit Mühe und Fleiß ordentliche Arbeit abzuliefern, verprasste er lieber das ererbte Vermögen seiner Familie, was dem Geschäft nicht gut bekam: Er drohte bankrott zu gehen! Allerdings hielt ihn das nicht davon ab, weiterhin in Fresserei und Sauferei zu leben! Bei einem seiner Saufgelage traf er dann auf einen windigen Typen namens Manceps alias Philonicus. Mit ihm heckte er den Plan aus, der im Folgenden tatsächlich gelingen sollte:
Vipstanus, dem die Civitas voller Vertrauen die Verwaltung der öffentlichen Kassen anvertraut hatte, war dabei ein willfähriger Helfer: Gegen ein lächerlich kleines Bestechungsgeld verriet der Schreiberling Germar, wie die Stadtkasse am leichtesten auszuplündern war. Das setzte Manceps dann gemeinsam mit seinen Handlangern Silus, Paulinus und Scipio in die Tat um. Sie brachen den Tresor auf, schafften die Reichtümer in Säcken auf einem Boot über den Rhenus und verluden dann alles auf Karren.
Geplant war, die Beute auf einem Gutshof bei Silva Abnoba zu teilen. Aber wie es bei Gaunern dieser Art üblich ist, war die Gier für das Teilen zu groß - Manceps und seine Spießgesellen schafften das Diebesgut auf der Straße weiter weg und konnten schließlich bei Vesontio von einer Straßenkontrolle festgenommen werden. Die Ermittlungen eines Klienten unserer Familie brachten dann hervor, was ich eben vorgetragen habe."
Da Lucius den Magoniden nicht sonderlich mochte - auch wenn er noch immer voller Begehren (er hatte inzwischen festgestellt, welches Gefühl es wra) an Nicaea dachte - hatte er beschlossen, eher zu betonen, dass er zur Familia Petronia gehörte. Abgesehen davon würde es Mathayus sowieso nichts nützen, hier lobend erwähnt zu werden, denn seit seinem Aufbruch in Richtung Aegyptus hatte man nichts mehr von ihm gehört. Wahrscheinlich war er schon längst tot.
In der kurzen Pause fiel ihm plötzlich ein, dass er ganz vergessen hatte, die Absprache zwischen Manceps und Hermipus genauer zu erklären - das würde er jetzt so noch einbauen müssen...
"Der Tatverlauf zeigt, dass folgende Tatbestände erfüllt sind:
Germar - der übrigens eigentlich mit Manceps abgesprochen hatte, die Beute halbe-halbe zu teilen - hat gemeinsam Vipstanus bestochen und gemeinsam mit Manceps eine Bande gebildet. Als Auftraggeber ist er außerdem auch wie ein Mittäter für den Diebstahl zu verurteilen. An Beweisen haben wir für ihn vor allem seine eigenen Aussagen, die hier protokolliert sind. Weitere Nachforschungen decken sich mit den Aussagen. Außerdem wird er von seinen Mittätern beschuldigt."
Er hob das Protokoll hoch, das er zur Verhandlung mitgebracht hatte. Tatsächlich hatte er selbst die Bücher Germars kontrolliert und dabei den Bankrott selbst vorgefunden. "Manceps alias Philonicus, Silus, Paulinus und Scipio, alle Peregrini, sind dagegen wegen der Bildung krimineller Banden und Diebstahl zu belangen. Sie wurden von einem Beneficarier-Posten mit der Beute aufgegriffen und waren ebenfalls im Verhör geständig.
Und zuletzt Servius Vipstanus Saloninus: Er hat sich der Bestechlichkeit schuldig gemacht und seine Amtsgewalt missbraucht, indem er das ihm anvertraute Wissen über die Sicherungsvorkehrungen der Stadtkasse an Dritte weitergegeben hat.
Das bringt uns zur Strafforderung der Civitas Mogontiaciensis, in deren Namen ich hier auftrete: Wir haben es hier mit Männern zu tun, die nicht irgendwen bestohlen haben - sie haben den Staat bestohlen! Sie haben dazu Männer angeheuert, deren einziges Ziel es war, das Geld unserer Stadt, die dieses dringend benötigt um öffentliche Bauten zu unterhalten, die Götter zu besänftigen und die Notleidenden zu unterstützen. Der Diebstahl an einem Gemeinwesen wäre schon ein Verbrechen, aber wenn wir von der Prämisse ausgehen, dass alles Geld einer kaiserlichen Provinz dem Kaiser selbst gehört, und wir außerdem die Prämisse haben, dass eine Stadt ohne Stadtrecht kein Vermögen besitzen kann, die Stadtkasse also strenggenommen ein Teil der Provinzkasse ist, dann ergibt die Konklusion, dass diese Bande Geld des Kaisers gestohlen hat. Und zwar eine erhebliche Summe.
Nach dem Strafrecht bestimmt die härteste Strafe das Strafmaß. Bandenbildung mit dem Zweck eines Verbrechens kann mit dem Tod bestraft werden. Und in Anbetracht der Tatsache, dass sich diese Männer dazu verschworen haben, dem Kaiser Geld zu stehlen, dazu noch keine römischen Bürger sind, beantrage ich die Todesstrafe als Warnung für alle, die ähnliches planen!"
Er setzte sich und bemerkte dabei erst, dass er ganz die betreffenden Zitate aus dem Codex Iuridicialis vergessen hatte - aber dafür war es sowieso zu spät und die Herren auf der Richterbank hatten sicher einen Juristen zur Beratung, der ihnen das leicht sagen konnte. Außerdem hatte er ja noch das Schlussplädoyer und eine Tabula, auf der alles notiert war. Die studierte er jetzt noch einmal, um zu sehen, was er alles vergessen hatte...