Füße und Hände waren gewaschen, denn rein musste der Opfernde sein an Leib uns Seele. Für den reinen Leib hatte er gesorgt, aber die reine Seele? Zumindest hatte Lepidus ein recht unbeflecktes Gewissen, was nicht minder wichtig ist vor einem derartigen Opfer. Als der Tiberier wieder aus dem Tempel mit bedecktem Haupt herauskam, atmete er einige Male tief durch und merkte, dass der Geruch von Weihrauch in der Luft lag. Er würde seine Stimme gleich wieder brauchen. Nun wurde auch bereits der Ochse zum Altar geführt. Würde er Widerstand leisten? Gar zu entfliehen versuchen? In diesem Fall wäre das Opfer gescheitert, denn ein Herbeitragen des Tieres war nicht gestattet. Das Tier schien aber keine Anstalten zu machen sich zu wehren. Wie überaus freundlich von ihm und ein gutes Zeichen. Auch ging jetzt ein Tempeldiener herum, der die Beteiligten immer wieder mit ein paar Tropfen Wasser bespritzte, um sie symbolisch zu reinigen. Wohlgemerkt nur symbolisch, bei den paar Wassertropfen brauchte sich niemand Sorgen machen großartig nass zu werden.
Anders als bei den bisherigen Anlässen bei denen Lepidus bisher opferte, musste er nun auch für die Öffentlichkeit ein paar einleitende Worte sprechen, die den Grund der heutigen Opferungen und die Anwesenden benannte. Dies noch bevor alles verstummen sollte und Lepidus dazu übergehen konnte den Opferungsprozess vorzunehmen. Er beschloss es kurz zu halten, da er bereits heute morgen eine kleine Rede gehalten hat und stattdessen sein Gebet den größten Teil in Anspruch genommen hatte. Er bat mit einer Bewegung seiner Hand, die er nach oben streckte um Ruhe.
"Die Societas Claudiana et Iuliana hat dieses Opfer ausgerichtet, um den großen Apollon anlässlich der Schlacht von Actium, in der er seinem Schützling Caesar Augustus zum Sieg verhalf, zu ehren. Viele Bürger haben sich heute versammelt und gemeinsam wollen wir ihm nun ein Opfer bringen." Ja, eigentlich stimmte das "viele" nicht so ganz, aber was hätte er sonst sagen sollen? Vielleicht "einige" oder "ein paar"? Nein, das klang alles nicht so gut und es war ja durchaus eine subjektive Einschätzung, was viel und was wenig war.
"Favete linguis!" erklang es nun von einem Opferdiener. Die Menge, die auch während der Worte des Lepidus ein wenig geschnattert hatte, war nun dazu angehalten wirklich still zu sein, denn nun würde der Teil kommen, auf den alle den ganzen Tag lange gewartet hatten. Die Musik der Flötenbläser hatte bereits eingesetzt, um trotzdem stattfindende störende Geräusche zu übertönen. Lepidus schritt auf das prächtige Opfertier zu, dass wieder einmal schneeweiß anzusehen war. Den Trick mit der Kreide wandte er seit er ihn kannte nun eigentlich immer an, um ein wirklich weißes Opfertier zu erhalten und meist sah es dadurch auch noch deutlich eindrucksvoller aus.
Lepidus weihte nun den weißen Ochsen und das Opfermesser, indem beides mit mola salsa bestreut wurde. Anschließend wurde ihm ein Gefäß voll Wein gereicht, welchen er nun langsam über das Opfertier goss. Bald war es ganz überströmt mit köstlichem Wein. Es schien sogar als würde es dem Ochsen ein wenig gefallen. Nun, wenigstens hatte er ein angenehmes Ende und nichts war doch schließlich für ein Opfertier von größerer Bedeutung als zu Ehren der Götter getötet zu werden. Nun konnte jeder noch einmal den Ochsen für eine kurze Zeit betrachten, doch dann gab der Tiberier das Zeichen zur Abnahme des Schmuckes. Die Bändchen, die Decke, die Verzierungen, all diese nun vom Wein etwas schmutzig gewordenen Verzierungen wurden dem Tier abgenommen. Zurück blieb ein reiner entkleideter Ochse. Nun wurde dem Lepidus das Messer überreicht und er zog den symbolischen Strich, ganz langsam und bedächtig, damit jeder Zuschauer dem Prozess genau folgen konnte, vom Kopfe des Tieres bis zum Rücken und Schwanzansatz. Nun übergab er das Opfermesser wieder und brachte sich in Position für das alles entscheidende Gebet. Lepidus hatte sich lange darüber Gedanken gemacht und auch überlegt es auswendig zu sprechen, um einen größeren Eindruck zu machen, doch letztlich entschied er sich dagegen, da das Gebet mit seiner Botschaft nicht ohne war und er sich somit keinen Fehler erlauben wollte. Also hielt ihm ein Diener die entsprechenden Zeilen vor, während er sich dem Tempel und dem darin befindlichen Kultbild zuwandte. Eine Richtung, die beim Gebet häufig vergessen wurde. Er streckte seine Arme in die Höhe und begann das Gebet zu sprechen:
"Großer Apollon, der du vermagst zu heilen und Licht zu spenden, Gott der Künste und der Musik, der Weisheit und der Weissagung. Nimm diese Opfer zu diesem besonderen Anlass zu deinen Ehren.
Zu tiefstem Dank ist dir das römische Volk verpflichtet, da du Caesar Augustus, unseren Pater Patriae, zum Sieg bei Actium verhalfst und damit Rom den langen Frieden brachtest. Damals schlossen sich die Tore am Tempel des Ianus zum ersten Mal seit langer Zeit wieder. Auf ewig zollen wir Dank für diesen Frieden, oh großer Apollon."
Der Tempel des Ianus stand wie kein zweites Heiligtum. Sein Erbauer, Numa Pompilius, sprach einst, dass dieser Tempel in Kriegszeiten immer geöffnet zu sein habe, so wurde der Tempel denn auch nur zwei Mal in seiner Geschichte geschlossen. Einmal nach dem ersten Kriege gegen die Karthager und eben von jenem Augustus nach der Schlacht bei Actium.
"Doch der Friede, weiser Apollon, blieb uns nicht ewig erhalten. Römer kämpfen wieder gegen Römer. Mütter verlieren ihre Söhne auf dem Schlachtfeld, die durch das Schwert ihres eigenen Bruders sterben. Viel Leid bricht über uns herein und jeder Tag im Bürgerkrieg ist ein verlorener Tag, doch womöglich zeichnet sich schon bald die Entscheidung ab, eine Entscheidung, die dem Ausmaß der Schlacht bei Actium sehr ähnlich sein könnte. Oh, mächtiger Apollon, auch diesmal wollen wir dich deshalb mit diesem Opfer bitten, diesem Krieg einen Ausgang zu bescheren, der uns in ruhigere Zeiten führt.
Um was bittet den Apollon also das Volk von Rom? Um was bittet er dir ein Opfer darbringend? Wir bitten nicht um Felder, nicht um Viehherden, nicht um Schätze, nicht um ein Landgut in schöner ruhiger Gegend, nicht um des fetten Sardiniens fruchtbare Felder, nicht um des heißen Kalabriens schöne Rinder, nicht um Gold und Elfenbein aus Indien, nicht um Ländereien, die der Liris mit seinem stillen Wasser benagt, auch um Weinberge bitten wir heute nicht.
Wir bitten dich einzig um Frieden, wie einst nach Actium, Heilung für unser Reich nach der Krankheit namens Bürgerkrieg. Führe auch diesmal denjenigen zum Sieg, der uns eine neue Pax Romana bescheren wird. Lege deine schützende Hand über ihn und bereite dem Blutvergießen unter Römern in der Zukunft ein endgültiges Ende. Stehe auch diesmal dem gerechten, dem großen und mächtigen Kaiser zur Seite... dem WAHREN Kaiser!
Großer Apollon, der du vermagst zu heilen und Licht zu spenden, Gott der Künste und der Musik, der Weisheit und der Weissagung. Nimm diese Opfer zu diesem besonderen Anlass zu deinen Ehren."
Lepidus hatte geendigt, nahm die Hände herab und wandte sich nach rechts ab. Hatten sein Gebet zu Beginn noch ein relativ langsames Tempo, so steigerte sich der dramatische Versuch des Tiberiers. Jeder sollte es genau hören können. Doch was hatte er tatsächlich gesagt? Er hatte den "wahren Kaiser" so stark betont, dass eigentlich nur irgendetwas unnatürliches damit gemeint sein konnte. War wirklich Palma damit gemeint? Wer wusste, dass es Tiberius Lepidus war, der dieses Opfer vornahm, hätte dies vermutet. Wer allerdings mit Lepidus bisher in Kontakt war und seine Anpassung an das salinatorische Regime sah, der konnte auch zu einem anderen Schlusse kommen. Noch bevor alle wirklich die Worte auf sich wirken lassen konnten, sprach der Victimarius auch bereits die entscheidende Frage: "Agone?" Lepidus zögerte kaum und rief so kräftig wie er konnte, immer noch etwas berauscht von der eigenen Rede, die sein Herz vor Aufregung höher schlagen ließ. Schließlich wusste er, dass er zweideutig sprach und es durchaus Raum für Fragen geben konnte. "Age!", kam es schließlich aus ihm heraus und die Menge konnte sehen wie der Ochse unter dem Schlag des Hammes niedersank. Ein Messer wurde in seinen Hals gestoßen und das Blut spritzte nur so vor sich hin. Genau der Blutrausch, den der Tiberier wohl gerade brauchte. Die Eingeweideschau würde zeigen, ob Apollon mit diesem speziell ihm durch die Societas gewidmeten Tage zufrieden war.