Der größte Teil der Vorarbeiten wurde inzwischen geleistet. Noch einmal durchatmend, ging Lepidus die Stufen des Tempels hinauf, und betrat unter den Säulen den marmornen Prachtbau, der sich auf einem Podium erhob und durch seine reichen Verzierungen und imposant geformten Kapitellen bestach. Anbei hatte er ein paar Sklaven, die die Opfergaben bei sich trugen.
Der Tiberier wandte sich zuerst zur Seite und wusch seine Hände in einem dafür vorgesehenen Becken. Einen Teil seiner Toga nun über den Kopf gezogen, schritt er weiter voran in das Innere des Tempels, wo Lepidus die diversen Kunstwerke bewunderte, die dort aufgestellt und wohl meist griechischer Herkunft waren; gleichsam wanderte er auf einem wunderschön verarbeiteten Mosaikfußboden dem foculus entgegen, wo die Sklaven bereits die nötigen Opfergaben platziert hatten und sich Lepidus nun ganz auf die eigentliche Opferung konzentrieren konnte. Er nahm das Behältnis mit dem Weihrauch und streute jenen in die entsprechende Feuerstelle, die herrlich glühte und den Duft in der gesamten Räumlichkeit verteilte. Nachdem die Verbindung zu Apollon hergestellt war, konnte er seine Gaben dem Gott offenbaren. Verschiedene Blumen und eine reiche Anzahl an Früchten wurden dem Gott der Musen dargebracht, auch etwas Gebäck war dabei und dazu legte der Tiberier ihm noch einige Lorbeerzweige bei. Die Lorbeerblätter pflückte er einzeln ab und gab sie langsam und bedächtig auf die Feuerstelle, die nun erneut einen recht eigentümlichen Geruch verbreitete. Mit dem simpuvium ließ er auch eine Weingabe in die dafür vorgesehenen Schalen am Altar tropfen. Nun streckte Lepidus die Hände in die Höhe, die Handflächen nach oben zeigend und sprach zu Apollon:
"Großer Apollon, der du vermagst zu heilen und Licht zu spenden, Gott der Künste und der Musik, der Weisheit und der Weissagung. Nimm diese Gaben zu diesem besonderen Anlass zu deinen Ehren. Es jährt sich heute der Tag, an dem du schützend deine Hand über den Caesar Divi filius Augustus legtest und ihm zum Sieg bei der Schlacht von Actium verhalfst und dem römischen Volk damit Frieden brachtest. Heute bringen dir viele aufrechte Römer ihren Dank entgegen und bitten dich gleichsam dein Werk noch einmal zu tun und uns den Frieden zu bringen. Heute laden wir dich ein, oh mächtiger Apollon, und bitten dich mit uns zu sein."
Der Geruch von Weihrauch und Lorbeer lag dem Tiberier immer noch in der Nase als er seine Worte an Apollon endigte und sich nach rechts abwandte. Tief in Gedanken versunken, musste er nun den Tempel verlassen. Auf dem Platz davor waren nun einige Menschen mehr eingetroffen und warteten auf den Beginn der Prozession. Es war an sich nur eine bescheidene Anzahl von Personen und vielleicht hätte sich der Tiberier etwas mehr Beteiligung gewünscht, aber grundsätzlich zählte wohl nur, dass den Göttern gehuldigt wurde, egal, ob dies viele oder wenige tun.
Der Tiberier blieb auf dem unteren Teil der Stufen stehen, leicht erhoben hatte er so einen guten Überblick und konnte die Menschen vor Beginn der Prozession noch ein wenig genauer aufklären, weshalb sie an diesem Tage zusammengetreten waren und weshalb an diesem speziellen Tage ein großer Opfer durch die Societas organisiert wurde. Er zog sich die Togafalte vom Kopf, blickte sich noch einmal kurz um und erhob seinen Arm als Zeichen, dass er etwas sagen wolle. Seine Helfer bemühten sich einige Menschen auf ihn aufmerksam zu machen, damit sie die Gespräche möglichst einstellten. Zweifellos war dies nicht in vollständigem Ausmaße möglich, weshalb Lepidus in jedem Fall sehr laut und eindringlich sprechen musste, damit ihn wirklich ein paar mehr Menschen gehör schenkten. Noch einmal atmete er tief durch, um sein Stimmenvolumen die nötige Kraft zu verschaffen und sprach dann:
"Bürger Roms, hört mich an! Ich freue mich, dass ihr euch heute eingefunden habt, um an der feierlichen Prozession und dem Opfer zu Ehren des Apollon teilzunehmen. Wie ihr alle wisst, befinden wir uns in schweren Zeiten. Man mag das Wort kaum aussprechen, nur flüstern möchte man es, weil es uns im tiefsten Inneren erschüttert; doch wir alle wissen genau, um was es sich handelt und deshalb spreche ich es laut aus: Bürgerkrieg! Ja, in einem solchen befinden wir uns und jener ist die Ursache, weshalb wir um die Zukunft und den Wohlstand unseres Reiches bangen müssen und dass wir von Unsicherheit erfüllt sind, nicht wissend, was mit uns geschieht."
Eine kleine Kunstpause setzte ein, der Tiberier blickte in die Gesichter der Anwesenden.
"Doch es gibt Hoffnung und jene findet sich in unserer Geschichte. Ich sage es euch, Mitbürger, Rom hat schon viele Krisen überstanden und es ist nie gefallen, nein, es ist sogar häufig gestärkt hervorgegangen. Heute jährt sich der Tag als einst Caesar Augustus - mit der schützenden Hand des Apollon über sich - die entscheidende Schlacht bei Actium gewann und dem damals ebenso wie heute kräftezehrenden Bürgerkrieg ein Ende bereitete. Es war der Wendepunkt einer Zeit, in der Römer, wie ihr und ich, die gleichen Befürchtungen hatten und die gleiche Beklommenheit verspürten wie wir sie heute empfinden im Angesicht der ungewissen Zukunft. Doch am Ende jenes Krieges stand etwas neues, etwas großartiges. Am Ende dieser Schlacht stand ein langer Frieden und die Eintracht unseres Reichs!
Ich stehe heute hier als Sodales der Societas Claudiana et Iuliana, die es sich zum Ziel gemacht hat, der Iulisch-Claudischen Dynastie zu gedenken und zu ehren. Ebenso vergessen wir nie ihre Schirmherren zu ehren. Augustus war der große pater patriae, bekannt als Apollons Sohn und apollinisch war sein Ideal. Lasst uns auch heute dem Gott für den langen Frieden danken, den er uns einst gab und lasst ihn uns gleichsam bitten uns vom Geschwür des Bürgerkrieges zu heilen. Lasst uns gemeinsam zu Ehren des Apollon durch die Straßen ziehen und bereiten wir ihm ein würdiges Opfer!"
Lepidus beendete diese kleine Rede, die alle noch einmal erinnern sollte, wofür dieses Opfer am heutigen Tage stattfinden sollte. Er musste sich wohl erst einmal den Schweiß von der Stirn wischen, denn es kostete Kraft so laut zu reden und die Wörter verständlich auszusprechen. Er konzentrierte sich in seiner Einführung vorwiegend auf das Ergebnis des einstigen Krieges, nicht wie es zu diesem Ergebnis kam. Ob sich die Bürger den jetzigen Salinator als Augustus vorstellen konnten oder nicht, blieb wohl allein ihnen überlassen. Etwas stolz war Lepidus auf seine Formulierung mit dem Geschwür, da dieses Zeichen der Krankheit auch gleichsam einen Bogen zur Bedeutung des Apollon als Gott der Heilung schlug. Dass dieser Gott, der eigentlich eher für seine musische Bedeutung bekannt war, auch für eine kriegerische Assoziation taugte, war keine Erfindung des Lepidus, sondern wurde gerne so erdacht. Mann stellte sich Apollon so manches Mal als Gott des Lichtes vor, der mit seinem Pfeil und Bogen die Gestalten der Dunkelheit bekämpft.
Auch hinter der Bedeutung des Augustus als Sohn des Apollon rankten sich die interessantesten Geschichten. So soll Augustus Mutter, Atia, tatsächlich ihren Sohn von Apollo empfangen haben. Sie sei mitten in der Nacht in den Tempel des Apollon gegangen, um ein feierliches Opfer darzubringen. Dann habe sich ihr der Gott in Gestalt einer Schlange genähert. Nicht wenige behaupteten dass, dass der Hauptgrund Caesars zum Entschluss der Adoption des jungen Gaius Octavius dessen apollinische Herkunft gewesen wäre.
Doch wie dem auch sei. Inzwischen wieder halbwegs bei sich und in der Lage die Prozession einzuleiten, gab Lepidus noch einige Anweisungen. Nun sollte sich alles in Position begeben und eine anständige Formation hergestellt werden. Während die Musiker auf ihre zugewiesenen Position gingen, das Kultbild des Apollo auf seinen Platz in der Menschenmenge getragen wurde und diejenigen auf ihre Plätze gingen, die dem Marsch voranschritten, hatte sich der Tiberier noch etwas besonderes ausgedacht, um den Erschienenen den Verlauf der Schlacht bei Actium auf musische Art etwas näher zu bringen...