Beiträge von Aulus Iunius Avianus

    "Na, du kleiner nanulus?" Der hatte gerade erst seine allabendliche Mahlzeit verdrückt und träumte seelenruig vor sich hin. Avianus beugte sich über das Bettchen und streichelte seinem Sohn übers Köpfchen. Da war er heute wohl zu spät für seinen obligatorischen kleinen Besuch am Abend.
    "Tut mir leid, dass ich heute spät dran bin. Schläfst wohl schon tief und fest. Tja, Pech für mich." Gemächlich öffnete das Kind dann doch die Augen, blickte erst unschlüssig in das Gesicht über dem Bett, und fing dann leise an zu quengeln. Nicht ganz wie geplant.
    "Ach, komm schon. So 'ne Schei- …" Er brach ab und seufzte. Das Quengeln wurde zu einem Schreien. Avianus blickte zur angelehnten Tür, durch die hoffentlich nicht gleich Sibel stürmte, nur weil er das Kind geweckt hatte. Dann würde er wohl machen, was er sonst bei seinen Besuchen auch oft genug machte: Er hob den Kleinen kurzerhand aus seinem Bett und drückte den Knirps an seine Brust. Machte man ja so, das wusste auch er schon. "Ruhig ... shhhh ... alles gut. Ich wollte dich ja nicht wecken." Beruhigt registrierte er, wie das Jammern leiser wurde. An Sibel hatte der Sohnemann sich weit schneller gewöhnt. Um genau zu sein wohl schon, während sie ihn neun Monate lang mit sich herumgeschleppt hatte. Um sich mit dem Vater anzufreunden, hatte Lucius etwas länger gebraucht.
    "Kennst mich wohl noch von gestern, was?", meinte Avianus lächelnd, als er realisierte, dass sein Sohn endlich auch ihn für würdig hielt, ihn herumzutragen. "Weißt du, ich habe die Hebamme mal gefragt, wie das so ist … also ob du auch weißt, wer dein tata ist. Sie meinte einfach, dass ich regelmäßig da sein soll, dich halten und mit dir reden soll … naja, logisch. Darauf hätt ich auch selbst kommen können. Aber ich glaub, langsam haben wir es raus. Was meinst du?" Neugierig wurde er von seinem Sohn beäugt, der selbstverständlich nicht antwortete, aber zumindest auch nicht mehr schrie. Avianus ließ sich mit seinem Zwerg in den Sessel im Zimmer sinken.
    "Dein Opa hieß auch Lucullus. Hab ich dir das schon mal erzählt? Meine Mutter sagte immer, er war ein toller Soldat und wär er nicht so ein toller Soldat gewesen, wär er jetzt vielleicht noch hier. Weil er dann vielleicht geflohen wäre oder so. Aber die Schlacht wurde ja gewonnen, weil unsere Soldaten standhaft geblieben sind. Auch wenn ich ihm früher als Kind manchmal böse war, weiß ich dass er das richtige getan hat." Wie er auf das Thema kam, wusste er selbst nicht. Irgendwas musste er eben erzählen. Und ob sein kleiner Sohn auch nur ein Wort kapierte, von dem was er sagte? Hin und wieder hatte Lucius einen entspannten Laut von sich gegeben. Aber ob er etwas verstand … vermutlich nicht im Geringsten. Aber wenn doch, was dachte er sich dann womöglich?
    "Also bei mir brauchst du dir da keine großen Sorgen zu machen. Ich steh nicht mehr an der Front", setzte er fort, "Außerdem bin ich doch der größte Glückspilz überhaupt. Mir kann doch gar nichts passieren." Er schenkte dem kleinen Lucius, der müde blinzelnd zu ihm aufblickte, ein Lächeln. Eine Zeit lang saß er nur da, und betrachtete das runde Gesicht des Säuglings, ob da vielleicht ein Merkmal war, das er von seinen Eltern hatte. Der dunkle Haarschopf … war das Sibels oder seiner? Die Stupsnase, wie sie eigentlich so ziemlich alle kleinen Kinder hatten, musste Sibels sein, dachte er. Die Augen hatten kein sattes Braun, wie er eigentlich erwartet hätte, was aber, wie man ihm gesagt hatte, vollkommen normal war in den ersten Monaten.
    "Zurück ins Bettchen, hm?", fragte er leise, als er das Gefühl hatte, schon bereit für sein eigenes zu sein. Sachte erhob er sich und tätschelte dem kleinen Mann zum Abschluss den Rücken, bevor er ihn vorsichtig wieder ins Kinderbett legte. Ein oder zwei Sekunden lang war es vollkommen still im Cubiculum. Avianus lächelte, wollte sich bereits umdrehen, da zerriss ein erneutes weinerliches Heulen die trügerische Stille.
    "Echt jetzt? Willst du mich veräppeln?", fragte er, verzog das Gesicht und ermahnte sich liebevoll und ruhig zu bleiben, denn er liebte seinen Sohn ja über alles. "Ich liebe dich, wirklich, wie verrückt, aber du machst es einem nicht leicht, nanulus." Einmal tief durchatmend schob er den Sessel ans Kinderbett. Nein, verdammt, er würde nicht seine Frau rufen. Er hatte das im Griff. Sowas von. In der Vergangenheit war er mit einer Horde von hundert Kleinkindern in Männerkörpern fertiggeworden, da würde er es doch wohl schaffen, seinen eigenen, zwei Wochen alten Sohn zu beruhigen. Er setzte sich wieder und streckte eine Hand ins Bettchen und strich dem Knirps über den dünnen Flaum in der Hoffnung, ihn damit zu besänftigen. Was machte man mit einem schreienden Kind, das keinen wirklichen Grund zum schreien hatte?
    "Was willst du, hm? Soll ich was vorsingen? Echt, Lucius, dein tata kann nicht singen. Ehrlich nicht", redete er ein klein wenig verzweifelt weiter, während sein Sohn aus voller Kehle heulte. Avianus presste die Lippen aufeinander, schob die Brauen zusammen … und gab sich geschlagen. Leise begann er, ein Soldatenlied zu brummen, schlicht und ergreifend, weil er kein anderes kannte:


    "Capites nostra
    Cremantur sole,
    Velut mille flammis,
    Et mille sagittis
    Complentur caelum,
    Obscurant lucem,
    Sed non cadimus,
    Nam dei adiuvant,
    Accuunt gladios,
    Et animum confirmant.


    Velut lupi
    Decertamus,
    Leones fimus,
    Metus non tardans,
    Romae Aeternae …"


    Als Avianus das Gefühl hatte, sogar schon sich selbst einzuschläfern, brach er ab und bemerkte, dass das Kind inzwischen nicht nur verstummt war sondern auch die Augen geschlossen hatte und seelenruhig schlief. Stille herrschte, die dieses mal nicht trügerisch sondern behaglich schien.
    "Die nächste Strophe kommt dann eben ein andermal", murmelte er betont leise.



    Sim-Off:

    An die Lateiner: Fehler dürft ihr behalten. :P
    Und für alle Nicht-Lateiner oder Nachschlagfaulen: Der Text. ;)


    Unsere Häupter
    Verbrennt die Sonne
    Wie tausend Flammen,
    Und mit tausenden Pfeilen
    Wird der Himmel gefüllt,
    Sie trüben das Licht,
    Doch wir fallen nicht,
    Denn die Götter stehen uns bei,
    Schärfen unsere Klingen,
    Schüren unseren Mut.


    Wie Wölfe
    Kämpfen wir,
    Werden zu Löwen,
    Angst uns nicht bremsend,
    Für das ewige Rom.

    Dass der Sergier nicht lange fackelte, war Avianus ganz recht. Er hatte schließlich auch nicht übermäßig viel Zeit.
    "Nunja, der ist kaum zu übersehen, würde ich meinen", antwortete er. Als langjähriger Urbaner kannte er ja die meisten Ecken der Stadt recht gut, und die Via Flaminia natürlich erst recht. "Ich halte es für sehr lobenswert, dass sich jemand um den Schrein kümmern will. Ein heruntergekommener, verwahrloster Schrein ist schließlich nicht sehr viel besser als gar keiner." Er trank ebenfalls einen Schluck und spielte tatsächlich mit dem Gedanken dem Sergius bei seinem Vorhaben zu helfen. Warum auch nicht? Ein von seinem Betrieb auf Vordermann gebrachter Schrein direkt an der Via Flaminia war wohl die beste Werbung, die es gab. Noch dazu würde es ihm keine wirklichen Nachteile bringen, da seine Handwerker derzeit unter akutem Arbeitsmangel litten, weil seine bisherigen Kunden ihn wohl oder übel jeweils nur einmal beehrten - was zwar für die Qualität seiner Ware sprach, ihm aber beim Gewinn machen nicht direkt half.
    "Mit Steinbruch meinst du Marmor, nehme ich an? Ja, den Marmor, den ich benötige beziehe ich aus meinem eigenen Marmorbruch. Handwerker mit einiger Erfahrung im Bearbeiten von Stein kann ich ebenfalls erübrigen." - Wobei er zugegebenermaßen nicht sicher war, wie gut sie mit dem Versetzen von größeren Schreinen bewandert waren. Sollte es aber zu Problemen kommen, könnte er sicher seine Cousine, oder besser gesagt ihren Architekten, um Rat fragen, also ließ er dieses Thema vorerst unter den Tisch fallen. "Am besten würde ich wohl mal jemanden hinschicken, der sich die Sache genauer ansieht. Und einer könnte sich auch mit dir treffen und genau absprechen, was gemacht werden soll. Ich bin der Idee also nicht abgeneigt. Habt ihr denn bereits einen Spender in Aussicht?"

    Ad
    Aulus Iunius Seneca
    Domus Iunia
    Mogontiacum, Germania superior



    Aulus Avianus Senecae suo s.p.d.


    Seneca, verdammte Axt, du glaubst gar nicht, was mir in den letzten Wochen und Monaten alles passiert ist! Gar nicht mal so schlimm also, dass dein letzter Brief ewig und drei Tage auf sich hat warten lassen, sonst hätte ich jetzt nur halb so viel zu berichten, obwohl ich natürlich gerne öfter von dir hören würde. Jedenfalls: Es gibt ausschließlich gute Neuigkeiten und davon jede Menge.
    Wie ist es dir lieber? In chronologischer Reihenfolge oder sortiert von der kleinen, guten Nachricht bis hin zum allerbesten Ereignis überhaupt? Letzteres? Gut, das Beste immer zum Schluss, nicht wahr?


    Du solltest definitiv Rom mal wieder einen Besuch abstatten, denn die Domus ist ein klein wenig voller geworden. Einer unserer Cousins, Vitulus, ist nach Rom gekommen, um sich nützlich zu machen. Er ist der Sohn von einem deiner Onkel, Iunius Victorius, sagte er, glaube ich. Er will den Cohortes Urbanae beitreten. Eine blendende Idee, meiner Meinung nach. Dort kann ich zumindest ein Auge auf ihn haben. Wer weiß, vielleicht schreibt er dir ja mal.
    Axilla und ihre Söhne sind noch immer hier in der Domus. Den dreien geht es gut und Axilla verhält sich zudem recht ruhig in letzter Zeit. Ich weiß nicht, ob sie noch immer etwas im Schilde führt oder ob die Moralpredigt, die ich ihr gehalten habe, entgegen aller Erwartungen doch etwas gebracht hat, was ich natürlich hoffe.
    Wie gesagt, hier in Rom wird mir nicht langweilig, und ich bin wirklich froh, dass ich regelmäßig zu Hause sein kann. Irgendwer muss ja für Ordnung sorgen und Sibel kann in nächster Zeit keinen unnötigen Stress vertragen. Da wären wir auch schon bei den Neuigkeiten Nummer Zwei und Drei. Aber eins nach dem anderen.


    Ja, du hast richtig gelesen. Ich bin inzwischen regelmäßig daheim. Warum? Ich gebe dir ein paar Hinweise: Ich musste mir ein paar neue Tuniken besorgen, lauf jetzt höchstens mit einem dieser polierten, dekorativen Brustpanzer herum und durfte mir einen Ring an den Finger stecken. Schweres Rätsel, nicht wahr? Überraschung! Der Praefectus Urbi hat dafür gesorgt, dass ich zum Eques und Tribunus ernannt werde. Der hat nicht nur mit dem Kaiser gesprochen, nein, ein Grundstück habe ich auch noch erhalten! Ich hätte mich beinahe angesabbert, so perplex war ich, als er es mir erzählt hat! Ich wusste von nichts, und plötzlich sagt der Decimus: "Du wirst Ritter. Ach ja, und ein Stück Land habe ich auch für dich."
    Da dachte ich früher, alles, was ich anfasse, geht einfach aus Prinzip schief, und jetzt tut mir vor lauter Glück schon das Gesicht weh, weil ich das Grinsen nicht loswerde, denn:


    Am Abend des Tages, an dem ich von meiner Erhebung erfahren habe, das war vor drei Tagen, ist dazu noch mein erster Sohn gesund zur Welt gekommen. Wirklich, ich verstehe jetzt, warum du immer so ein dümmliches Grinsen im Gesicht hast, wenn du von Silana erzählst. Mir geht es gerade genauso. Dieses Grinsen. Es kommt einfach. Er ist gesund und Sibel hat die Geburt auch gut überstanden. Was in aller Welt könnte besser sein? Ich weiß, es kann noch immer alles Mögliche schief gehen und schon jetzt merke ich, dass Kinder haben nicht immer lustig ist, aber in diesem Moment fühlt sich trotzdem alles perfekt an. Übrigens: Bis zum dies lustricus sind es zwar noch ein paar Tage hin, aber er wird Lucius Lucullus heißen. Kein Silanus.
    Spaß beiseite … ich wünschte, ich könnte euch einander vorstellen, aber jetzt können wir dir und Seiana in Germania natürlich erst recht keinen Besuch abstatten, so gern ich euer neues Heim auch begutachten und auch Silana einmal kennenlernen würde. Wir holen das nach, ja? Und wie geht es deinen werten Damen? Beide wohlauf? Richte ihnen liebe Grüße von mir aus.


    Jedenfalls wünsche ich dir alles erdenkliche Gute. Der viele Schnee hat dich in der Zwischenzeit doch hoffentlich nicht verschüttet?
    Pass wie immer gut auf dich auf und schreib bald zurück.



    Aulus Iunius Avianus
    TRIBVNVS · COHORS XII VRBANA



    PS: Tut mir leid, das musste einfach sein. Ich konnte nicht anders.


    PPS: Ist eigentlich dein Lararium schon angekommen? Vermutlich nicht. Ich habe es jedenfalls letztens mal losgeschickt. Selbst wenn es aber jetzt noch nicht da ist, bestimmt bekommst du es noch, bevor dieser Brief dich erreicht.



    Sim-Off:

    Die Wertkarte der Iunii bezahlt

    Die letzten Stunden hatte er mit Lauschen verbracht. Erst im Atrium, als Avianus in regelmäßigen Abständen die Schreie seiner Frau gehört hatte, später im Triclinium, nachdem die Küchensklavin ihm geraten hatte ein wenig zu essen, weil er sie doch angewiesen hatte, ihm eine Mahlzeit zuzubereiten, und die Lautstärke der Schreie war derart angewachsen, dass er sie auch bis dorthin gehört hatte. Kaum einen Bissen hatte er hinuntergebracht vor Nervosität und Sorge, hinter denen sich irgendwo vorsichtige Vorfreude verbarg. Und danach auch, als er sich darum gekümmert hatte, dass die letzten Vorkehrungen getroffen wurden und ihr gemeinsames Zimmer für die Ankunft des Kindes bereit war. Ständig hatte er gelauscht und sich gewünscht, jemand würde zu ihm treten und ihm sagen, was er davon halten sollte und wie es voranging. Längst saß er nun wieder in der kleinen Sitzecke im Atrium, spielte unruhig mit den Fingern herum, kaute auf seiner Lippe, bete leise zu Parca und wartete. Er wusste, er konnte anderweitig nicht helfen. Sobald sich aber die Tür öffnete, wollte er da sein.
    Irgendwann gegen Abend, als er gedankenverloren in den Sessel gesunken war, verstummten Sibels Laute und eine andere Stimme drang durch die verschlossene Tür ins Atrium, die ihn schlagartig aufblicken ließ. Nein, nicht Sibel war es dieses Mal, die schrie, sondern ein Säugling. Und ein Vater wollte es bereits wagen aufzuatmen. Er konnte sich nicht mehr recht auf seinem Sessel halten, lehnte sich vor, um einen Blick auf die Tür zu erspähen, wo sich allerdings noch nichts tat, wollte aufstehen, sich vergewissern, dass alles in Ordnung war, widerstand aber dem Drang, bis er nach einiger Zeit endlich hörte, wie die Tür geöffnet wurde. Da sprang er fast schon auf und ging der mit einem kleinen Bündel heraustretenden Hebamme entgegen. Den Mund öffnete er bereits, um all die Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge lagen - Ist es gesund? Was ist es? Wie geht es ihr? – und wurde von der Hebamme unterbrochen noch ehe er einen Ton herausgebracht hatte. Er hatte einen Sohn … einen kleinen, runzligen, quengelnden Sohn, der ihm soeben zu Füßen gelegt wurde. Er konnte sein Glück gar nicht recht fassen, als er hinabblickte, um den Zwerg zu mustern. Ohne ein weiteres Wort beugte Avianus sich hinab - denn obwohl er sich stundenlang auf diesen Augenblick vorbereitet hatte, fehlte ihm nun die Stimme - und hob das Kind auf. Noch ein wenig ungeübt zwar nahm er ihn hoch und ein kurzer Blick ging zu der Hebamme, aber die sprang ihm zumindest nicht gleich an die Kehle, als der Säugling, auf den er all die vergangenen Monate gewartet hatte und für den er keine Mühen gescheut hatte, auf seinem Arm zum Liegen kam.
    "Mein kleiner Lucius Lucullus …", murmelte Avianus leise und brachte nicht viel mehr hervor. So würde er heißen, nach seinem Großvater. Lucius Iunius Lucullus. Lucius … ein kleines Licht, das auf magische Weise das Leben seiner Eltern gerade gebogen hatte. Mehr brachte Avianus nicht über seine Lippen, während der rosarote Winzling mit leiser werdendem Protest zu ihm aufsah, und war sicher, dass alle Anstrengungen es wert gewesen waren: Das Kind zu behalten, zu heiraten, das Warten. Daran gab es keine Zweifel mehr. Und obwohl er noch keinen Plan hatte, was genau er mit dem Zwerg machen sollte, war er sicher, dass er es lernen würde. Mit einem stolzen Lächeln strich seinem Sohn über den dünnen, dunklen Haarschopf und sah auf.
    "Geht es meiner Frau gut? Kann ich zu ihr?", fand er endgültig seine Stimme wieder, als die Sorge um Sibel sich zurückmeldete. Ob er zu ihr konnte? Klar konnte er zu ihr. Er war hier der vedammte Chef, natürlich konnte er zu seiner Frau, wenn er wollte. Und das wollte er nicht nur, das tat er auch, und marschierte mit seinem Lucius an der Hebamme vorbei, um einen vorsichtigen Blick ins Gästezimmer zu erhaschen. Nicht direkt ein schöner Anblick, wie Sibel völlig erschöpft dalag, und doch lächelte er, weil sie es geschafft hatte. Er war so unfassbar stolz auf die beiden.
    "Ich will ihn Lucullus nennen", sagte er, als er mit einem strahlenden Lächeln auf das Bett zutrat, "Lucius." Noch einmal blickte er auf den Jungen hinab, bevor er ihn Sibel in die Arme legte und ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Hatte er nicht gesagt, alles wäre alles gut? Hah. Gut? Es könnte gar nicht besser sein.

    Unter dem Jubel seiner Soldaten wurde ihrem scheidenden Praefectus vor den Augen des Volkes die Hasta Pura überreicht. Nicht jeder mochte ein Freund des Decimus sein, aber Avianus gehörte definitiv zu jenen, die den Mann schätzten und ihm sowohl die Auszeichnung gönnten als auch den Jubel, der ihm zuteil wurde, nicht zuletzt, weil er Decimus Livianus mehr zu verdanken hatte, als Avianus ihm je zurückzahlen konnte, so fand er. Da spielte es auch keine Rolle, dass sein Verwandter Silanus Klient des Decimers war. Die großen Gefallen seines bald ehemaligen Praefectus waren keineswegs selbstverständlich gewesen. Und noch etwas stolzer als ohnehin schon wurde der Iunius als der Kaiser mehr oder weniger Livianus' kompletten Lebenslauf berichtete, den er bis dato ja nicht einmal gekannt hatte. Ein Mann der sein Leben in der Armee verbracht hatte unterstützte ausgerechnet ihn, den Kerl mit offenbar zu viel Glück. Entweder das oder er und sein Können hielten sogar dem jahre- oder gar jahrzehntelang geschulten Auge des Decimus stand.
    Sollte ihr Praefectus noch eine Rede halten wollen, bevor er sein Amt niederlegte, würde er den Soldaten ein Zeichen geben. Allerdings würden sie wohl ohnehin verstummen, wenn der Decimus die Stimme erhob. Zweifellos wäre nun aber der rechte Augenblick für einen gebührenden Abschied von der Truppe, die während der decimischen Amtszeit vorbildlich ihren Dienst geleistet hatte und nun so einwandfrei herausgeputzt vor dem Volk stand. Eine kleine Rede eben, ein ermutigendes Lob an die Männer, etwas Anerkennung von ganz oben für die Milites ganz unten.

    Den gefühlten halben Vormittag ließ Avianus die Rekruten um den Platz marschieren, Kurven nach links und rechts ausführen, und war guter Dinge, wie bei jeder anderen Truppe zuvor, dass sie sich irgendwann nicht mehr gegenseitig in die Hacken treten würden. Schon jetzt sah es immerhin schon besser aus, als er erwartet hätte. Für heute waren die Jungs aber genug marschiert und hatten sich eine kleine Pause redlich verdient.
    "State, Tirones!", befahl er der Kolonne anzuhalten, "Das reicht erstmal! Ihr habt euch gut geschlagen. Jeder von euch läuft noch X Runden um den Platz. Danach zurück zu den Baracken mit euch. Macht eine Pause. Los!"



    Soso. Der Feind. Agricola tat gut daran, sich selbst zu korrigieren, ansonsten hätte der Onkel es getan, der nun lediglich dünn lächelte. Die Iunii mochten seinem Neffen in den letzten Jahren keine Hilfe gewesen sein, aber die Bezeichnung Feind hatten sie gewiss nicht verdient. Ganz ohne Frage hatte sein Neffe ein paar Dinge verwechselt. Avianus selbst hatte ihn jungen Jahren mehr als einmal einen blöden Spruch rausgelassen, der gar nicht so gemeint war, wie er sich am Ende angehört hatte, und er tat es heute noch oft genug. Den etwas ungeschickten Scherz wollte er Agricola deshalb nicht übel nehmen, selbst wenn er einen unangenehmen Beigeschmack hatte.
    "Leute, die dir ein Dach über dem Kopf bieten, gutes Essen und Unterstützung sind wohl kaum der Feind", kommentierte er schlicht. "Aber gut, lassen wir das." Er schloss das Thema mit einem erneuten, leichten Lächeln ab und erhob sich, wie auch sein Neffe. Wenn auch die meisten vermutlich schon gegessen hatten, würden sie bestimmt auf irgendjemanden treffen, wenn auch die anderen Iunii höchstwahrscheinlich schon gegessen hatten. Die Cena fand ja für gewöhnlich zu einer Zeit statt, da war er noch nicht annähernd zu Hause, und dass der Rest der Familie einzig auf ihn wartete, wäre ihm auch nicht recht. Vielleicht würden sie sich aber zumindest dazusetzen. Wünschenswert wäre es.
    "Garantiert werden wir auf andere Iunii stoßen. Um die Zeit dürften ja alle daheim sein. Und wenn du dich morgen schon nach den Girlanden umsiehst, werden wir unseren Besuch beim Grabmal wohl möglichst bald einrichten müssen. Wir wollen ja nicht, dass die Dinger wieder lahm werden, bis wir das Grab besuchen", witzelte er, "Am besten bestellst du deine Blumengirlanden einfach beim Händler für kommende Woche. Sagen wir … am dies mercurii? Das dürfte sich ausgehen, wenn ich etwas früher Schluss mache." Blieb nur zu hoffen, dass ihm nichts Wichtiges dazwischenkam. Am besten sprach er gleich morgen früh mit seinem Scriba, damit der ihm nicht ganz überraschend irgendeinen Termin ausgerechnet auf diesen einen Tag klatschte, und alles dürfte klappen wie geplant.
    "Über alles andere können wir ja auch unten weitersprechen. Schauen wir einfach mal runter? Dann kann ich dir auch gleich das Lararium zeigen. Ist gleich beim Atrium, in dem Nebenraum bei der Sitzecke. Außerdem solltest du noch den Laren opfern, am besten gleich morgen. Das wäre dann eigentlich das einzige, was ich noch besprechen wollte. Dann kannst du dich gleich morgen ja auch um ein geeignetes Opfer kümmern, wenn du schon zum Markt gehst. Kuchen, Kekse, Wein ... oder besser gleich etwas blutiges? Ein Ferkel?" Gut, dass ihn Agricola mit seiner Frage nach dem Lararium daran erinnert hatte. Heute war es schon etwas spät für ein anständiges Opfer, aber definitiv sollte sein Neffe es morgen nachholen, um den Schutz der Lares zu erbitten, wie es sich eben für jemanden gehörte, der von jetzt an in der Domus Iunia wohnen sollte.

    Einen Termin hatte der Kerl wohl nicht, sonst wüsste er davon oder der Sergius hätte etwas gesagt, dachte sich der Ianitor. Am besten sagte er einfach mal dem Dominus Bescheid, dass jemand ihn zu sprechen wünschte. Sollte der entscheiden.
    "Einen Augenblick", meinte der Ianitor und wandte sich kurz um, um nach dem Sklavenjungen zu rufen, der stets irgendwo durchs Haus huschte.
    "Berichte dem Dominus Avianus, dass ein gewisser Sergius Plautus ihn sprechen möchte. Es geht um Geschäftliches", trug er dem Jungen auf, und bat den Gast zumindest schonmal ins Vestibulum.
    Nur wenig später kehrte der Junge zu den beiden zurück. "Der Dominus bittet dich in sein Officium."

    Sergius? Sergius Plautus? Sagte ihm der Name was? Nicht wirklich. Viel wichtiger: Sollte ihm der Name was sagen? Gute Frage. Um geschäftliche Dinge ging es, hatte der Sklavenjunge an ihn weitergeleitet. Erst hatte Avianus leicht verwundert die Stirn gerunzelt, die sich aber nur wenig später wieder geglättet hatte. Wenn man bedachte, dass er inzwischen ganze drei Betriebe sein Eigen nannte, war es vermutlich gar nicht so verwunderlich, dass sich irgendwer mal wegen irgendwelcher Geschäfte bei ihm meldete. Hoffentlich ging es nicht um irgendwelche Beschwerden. Damit wollte er sich nicht auch noch herumschlagen müssen.
    Er bequemte sich in sein Officium - unten war ihm in letzter Zeit zu viel los - und ließ den Mann zu sich bringen. Eine Sklavin stellte zwei Becher und verdünnten Wein bereit, und als der junge Sklave den Sergius ins Officium führte, winkte er ihn heran.
    "Salve, setz dich doch", forderte er ihn auf, noch immer ein wenig skeptisch, da er ja noch nicht den geringsten Schimmer hatte, worum es ging, und nebenbei kam ihm das Gesicht des Mannes seltsam bekannt vor. Nur woher, da war er sich nicht sicher. Ach, richtig! Bei den Gerichtsverhandlungen war er damals anwesend gewesen. Und davor hatte er mal die quintilischen Zwillinge blöd angequatscht. Seltsamer Kerl. Aber zumindest kein vollkommen unbekanntes Gesicht. "Sergius Plautus, richtig?"

    Die Reaktion des Iuliers hatte er längst kommen sehen, sie war zwar nicht die erhoffte, aber nur logisch, folglich verspürte Avianus wenig Überraschung. "Oh, darüber nachgedacht? Gewiss. Mehr als einmal. Aber den Grund, weshalb ich es nicht getan habe, habe ich gerade direkt vor mir, Senator", entgegnete er nüchtern und hatte dennoch einen Schimmer des Bedauerns in den Augen. Er hatte den Iulius nicht eingeladen, um sich einen Feind zu machen. Er hätte Schweigen können, denn mit Torquatas Tod war auch jeder Beweis für ihre Treffen gestorben, mal abgesehen von den Briefen, die er noch bei sich lagerte. Niemand hätte je davon erfahren müssen, was sich damals zugetragen hatte, oder besser, was er an Bruchstücken darüber wusste. Dennoch tat er es, weil er es für falsch gehalten hatte, den Vater im Dunkeln zu lassen, und würde jetzt wohl oder übel die Konsequenzen seiner Gutmütigkeit Dummheit tragen müssen. Unglücklich verzog er das Gesicht.
    "Denkst du, ich weiß nicht, welche voreiligen Schlüsse du gerade ziehst, Iulius? Welche Schlüsse auch jeder andere an deiner Stelle gezogen hätte? Ich würde wohl dasselbe tun", riet er einfach mal drauf los, was sich der Iulier womöglich dachte. Andererseits musste ihn der Senator für vollkommen bescheuert halten, wenn er glaubte, er hätte den Soldat vor sich, der sich heimlich mit Torquata getroffen hatte. Wäre besagter Soldat nämlich wirklich blöd genug, den Vater der Vestalin zu sich zu laden, um ihm davon zu erzählen, wo doch eigentlich längst Gras über die Geschichte gewachsen war? Zumindest Avianus wäre nicht so dumm gewesen. Hätte er tatsächlich etwas zu verbergen, würde er es auch verbergen. Dumm war nur, dass er gehofft hatte, er würde dazu kommen, die Situation zu erklären, bevor Iulius Dives die Fassung verlor.
    "Ja, ich kannte sie. Aber der Soldat aus den Gerüchten, der war ich nicht. Sie war eine Bekannte. Eine Freundin vielleicht. Wenn ich mit ihr gesprochen habe, dann nur weil sie mich aus freien Stücken aufgesucht hat. Und das passierte weder heimlich noch nachts. Wir führten lediglich harmlose Gespräche. Nichts davon schadete ihrem Ruf oder dem der iulischen Gens, das versichere ich dir. Nein, ich habe sogar versucht ihr zu helfen den Quell der gefährlichen Gerüchte zu finden, weil sie mich darum gebeten hat. Deshalb war ich damals so scharf darauf, dem Mord an dem Händler am Mercatus nachzugehen. Weil sie mich persönlich darum gebeten hat und meinte, jemand wolle ihr und den Iuliern damit schaden." Vielleicht würde der Senator nun etwas besser verstehen. Das war zumindest der Plan. Ein Zurück gab es ja nicht mehr, nur noch ein Vorwärts. "Ich habe es bisher verschwiegen, da ich nicht wollte, dass einer von uns in unnötige Schwierigkeiten gerät, und weil Torquata mich darum gebeten hat, Stillschweigen zu bewahren. Aber jetzt ist sie tot und endlich kann ich, was ich vermutlich längst hätte machen sollen, auch guten Gewissens tun. Sie hat mir nämlich gewisse ... Einzelheiten erzählt, die dich interessieren dürften. Denn es gab noch einen anderen Soldaten."

    Nach kurzer Wartezeit öffnete der Ianitor die Tür, um nachzuschauen, wer denn nun schon wieder klopfte. Hier gings ja letztens zu wie in einem Bienenstock, stellte er einmal mehr fest.
    "Salve", grüßte er den Mann knapp, "Was führt dich her?"

    Gut, dass Agricola nichts mehr sagte. Jegliche Widerrede hätte Avianus' Laune lediglich zurück in den Keller sinken lassen, wenn er sie nicht ohnehin bereits im Keim erstickt hätte. Ein aufmüpfiger Neffe zusätzlich zu all den anderen Dingen, die ihn derzeit beschäftigten, hätte ihm nämlich gerade noch gefehlt. Vielleicht war er auch ein kleines bisschen zu harsch gewesen, dass Agricola nun kein Wort mehr darüber verlieren wollte? Nein, versicherte er sich selbst. Weder er noch die anderen Verwandten im Haus hatten sich etwas zu Schulden kommen lassen, ganz im Gegenteil, sie dienten vorbildlich dem Reich und mehrten das Ansehen der Familie. Am besten war es wohl das Thema als gegessen anzusehen, was es ja gewissermaßen auch war. Er hatte seinen Standpunkt dargelegt und Agricola schien ihn akzeptiert zu haben. In einer Familie das Sagen zu haben unterschied sich irgendwie gar nicht so sehr vom Herumkommandieren von Soldaten. Man gab Befehle und verteilte Anpfiffe, die den Leuten nicht immer schmeckten, aber sie taten was man sagte und hielten den Rand, anstatt ihrem Unmut Luft zu machen. Damit konnte Avianus gut leben.
    Außerdem brachte der Junge erneut ein Lächeln auf seinem Gesicht zum Vorschein, sodass er an den ganzen Mist zuvor nicht mehr allzu viele Gedanken verschwenden wollte. Großvater, Vater und Onkel in den Exercitus zu folgen war ja mehr oder weniger das Beste, was Agricola in Avianus' Augen tun konnte. Und die Entschlossenheit, mit welcher sein Neffe gesprochen hatte, ließ ihn daran glauben, dass dieser es nicht nur sagte, um das Wohlwollen des Onkels zu gewinnen.
    "Deine Karriere hat tatsächlich noch etwas Zeit", stimmte er lächelnd zu, "Aber natürlich freut es mich, wenn du daran denkst, unsere Tradition fortzusetzen. Bis dahin aber … konzentriere dich auf dein Leben hier in der Domus und deine Aufgaben. Und ja, dazu zähle ich auch, dich mit deiner Familie bekannt zu machen. " Wenn der Rest der Familie irgendwann bemerkte, dass sich sein Neffe schon eine halbe Ewigkeit lang in einem der Zimmer verschanzte, würde es nämlich peinlich, und dann wäre auch die Unsicherheit womöglich tatsächlich angebracht. Jetzt allerdings? Nein, Agricola brauchte sich keinesfalls zu verstecken. "Warum du dich noch nicht vorgestellt hast, spielt für mich keine große Rolle. Und ich bin dir auch nicht böse deswegen. Ich wollte dir nur deine eigenen Fehler vor Augen halten. Du brauchst dich also nicht zu entschuldigen, wenn ich davon ausgehen kann, dass es in Zukunft anders sein wird." Agricolas Unsicherheit schien ihm ohnehin vollkommen unbegründet. Sein Neffe mochte sich als Außenstehender sehen. Dabei schien er vollkommen zu vergessen, dass er ebenfalls den Namen Iunius trug und im Grunde dasselbe Recht hatte, hier zu wohnen wie alle anderen. Axilla und die anderen würden ihm ebenso wenig feindselig begegnen wie er. Da war er sich sicher.
    "Weshalb aber die Unsicherheit? Fürchtest du dich vor deiner eigenen Verwandtschaft?", scherzte Avianus, um die Stimmung etwas aufzulockern. "Iunius Agricola, du hast in deinem Leben noch nichts getan, um bei deiner Familie in Ungnade zu fallen, in dir fließt dasselbe Blut und keiner von ihnen beißt. Das es dir bis gestern verwehrt war, bei deiner Familie zu leben, kann deinem Vater vorgeworfen werden, den Ituriern, oder auch meiner Mutter und mir noch eher als dir …" Mach dir also nicht in die Tunika, verkniff er sich. "Nun … also ich habe noch nichts gegessen. Was alle anderen angeht … wenn ich abends nach Hause komme habe ich leider in den seltensten Fällen den Überblick, aber wir können sie ja mal fragen. Wahrscheinlich treibt sie dann zumindest die Neugier ins Triclinium, wenn schon nicht der Hunger."

    "Salve, Senator Iulius", grüßte Avianus und lächelte mindestens so dünn zurück. Wenn der Iulier ihn schon absichtlich warten ließ, hätte er ihn wenigstens informieren können. Doch es gab wichtigeres, als irgendwelche Verspätungen,
    "Nimm doch Platz", forderte er den verspäteten Besucher zusammen mit einer knappen Geste auf. "Ich danke dir. Wir werden sehen, ob ich den Ansprüchen auch gerecht werde. Noch ist es, muss ich zugeben, etwas ungewohnt", nahm er noch die Glückwünsche entgegen, bevor er endlich auf den eigentlichen Grund ihres Treffens zu sprechen kam.
    "Du jedoch solltest mir vermutlich erst danken, wenn wir über deine Tochter gesprochen haben, Senator Iulius." Vorausgesetzt dem war dann noch danach. Das Lächeln war aus Avianus' Gesicht gewichen. Er hatte ja nicht unbedingt gute Neuigkeiten auf Lager. "Wie du bereits weißt geht es mir um deine verstorbene Tochter. Es gibt einige Informationen, die ich bislang für mich behalten habe. Einerseits weil sie in Sackgassen geführt haben, andererseits um sie zu schützen, denn … ich kannte sie recht gut." – Was er wiederum verschwiegen hatte, um zusätzlich zu ihr noch sich selbst zu schützen. Zu schnell hätte es passieren können, dass jemand in ihm den Soldaten sieht, von dem in den Gerüchten die Rede war. "Noch einmal möchte ich dir mein Beileid aussprechen. Sie war ein außerordentlich großherziges Mädchen. Deshalb hatte ich damals auch Interesse daran, den Gerüchten nachzugehen, allerdings wollte ich nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden, sodass ich den Kontakt zu ihr verschwieg. Jetzt allerdings … ist sie tot und über die Gerüchte längst Gras gewachsen. Und ich halte es nur für richtig, wenn du erfährst, was es über sie zu wissen gibt. Die ganze Wahrheit kenne auch ich nicht, aber doch mehr, als die meisten anderen." Und keinesfalls hatte Avianus vergessen, dass dem Iulier womöglich gewisse private Dinge über ihn und seine Familie bekannt waren, sofern dieser sich noch an das Geständnis der damaligen Gefangenen und jetzigen Ehefrau erinnerte. Vielleicht ließ sich sogar ein Vorteil aus dem Gespräch ziehen. Manche Geheimnisse blieben eben besser Geheimnisse.
    Vorerst ließ er aber seine Worte sacken und wollte dem Iulier Zeit geben, etwas dazu zu sagen oder Fragen zu äußern, die sich ihm sicherlich stellten.

    Avianus nickte dankbar. Klar, wenn er seinem Neffen eine Aufgabe erteilte, erwartete er auch, dass Agricola sich darum kümmerte. Sehr viel hilfreicher war es aber, wenn der Junge seine Aufgaben freiwillig erledigte. Eine richtige Antwort erhielt er zwar nicht, Avianus ging aber davon aus, dass der Neffe verstanden hatte. Ja, Kinder. War ja nicht so kompliziert. Und er erwartete ja keinesfalls von Agricola, dass er eine zweite Amme spielte, nur, dass ein weiteres Augenpaar auf den Zwillingen ruhte, damit die beiden keinen Unfug anstellten.
    So gut es sich eben noch angefühlt hatte, die Entschuldigung losgeworden zu sein, so sehr bereute er es nur einen Moment später. Avianus schwieg, so kühl, wie Agricolas Ton von einem Augenblick auf den anderen geworden war. Genau das war es doch womit er hätte rechnen müssten, die einzig logische Reaktion auf sein verspätetes schlechtes Gewissen. Doch um ehrlich zu sein, hatte er keinen blassen Schimmer, womit er gerechnet hatte. Über solche Dinge dachte er meist viel zu spät nach. Der Monolog, den sein Neffe ihm hielt war es allerdings definitiv nicht.
    Vierzehn also. Fast schon erwachsen. Wirklich anzunehmen schien Agricola seine Entschuldigung nicht, was Avianus ihm kaum verübeln konnte. Und das war es auch gar nicht worauf er aus war. Den Gedanken loswerden, darum war es ihm gegangen, und dass sein Neffe zumindest wusste, dass es ihm leid tat. Aber ob es ebenso ergangen war? Ein kleines bisschen vielleicht? Avianus wusste keine Antwort. Vielleicht tief versteckt in seinem Inneren, wo es niemand spüren konnte, denn zugegeben hätte sein Bruder es wohl nie. Und es hätte ihm noch so leid tun können, gegangen wäre er vermutlich dennoch. Das entschuldigte aber noch lange nicht, was alle anderen Iunii getan oder nicht hatten. Er war nicht sein Bruder, sondern selbst für sein Handeln verantwortlich, Regulus hatte damit nichts zu tun. Sein Blick verfinsterte sich ein wenig, sowie in ihm der Verdacht aufkam, dass er ihr kleines Gespräch gerade vollkommen versaut hatte. Nur ein Verdacht? Nein, ganz eindeutig sogar. Mit einem einzigen Satz hatte er es geschafft, Agricolas gute Laune zu zerstören und ihn dazu zu bringen den Onkel anzupflaumen, und das noch dazu vollkommen unbeabsichtigt. Wahrlich eine neue Meisterleistung. Beherrscht saß er auf seinem Stuhl, um seinen Neffen zumindest ausreden zu lassen, bevor er konterte.
    Was Agricola nur kurz darauf wieder wesentlich ruhiger hinzufügte, stimmte Avianus wieder etwas milder, die Illusion, dass der ganze Mist mit einem kleinen "Tut mir leid" gegessen wäre, war allerdings futsch, und ebenso die Hoffnung, dass es einen einfachen Weg gab, dem Neffen klar zu machen, dass Regulus weder ihn noch den Rest der Iunii repräsentierte. Dass Agricola ihn gerade wieder in die unbequeme Realität zurückgeholt hatte, ließ ihn aber auch etwas ganz anderes bedenken. Mussten sich die Iunii wirklich beweisen, einem Jungen gegenüber, der dankbar sein sollte, ein Teil ihrer Gens sein zu dürfen? Die Iunii waren eine angesehene und ehrbare Familie, davon konnte sich Agricola auch überzeugen, ohne dass Avianus dasselbe tat wie Iturius Geta. Warum glaubte er immer, für alles und jeden zuständig zu sein? Sein Neffe war alt genug und hatte jede Möglichkeit, die er nutzen wollte, um sich ein eigenes Bild zu machen. Er nickte knapp. Einverstanden, weg mit der Vergangenheit, da hatte er ja nicht wirklich etwas dagegen. Agricolas Meinung zu den Iunii war allerdings eine ganz andere Sache.
    "Wenn du die Iunii kennenlernen willst, musst du nur nach unten gehen und mit welchen reden, anstatt zu warten, bis jemand herkommt. Dass du bisher nur mich kennst, scheint mir dein eigener Verdienst zu sein, wenn du es den ganzen Tag über geschafft hast, allen anderen aus dem Weg zu gehen. Du hast hier Cousins und eine Cousine, eine Tante, einen entfernten Onkel, meine Frau … mach dich mit ihnen bekannt, lern sie kennen", wies er Agicola zurecht, "Ich könnte hier den ganzen Tag davon reden, wie Unrecht dein Onkel in Cales hatte, aber mach dir dein Bild doch selbst, wenn du nicht willst, dass dir jemand eines eintrichtert. Denn wenn ich das mache, bin ich erstens wohl kaum besser als dein Onkel Geta, und zweitens haben die Iunii das gar nicht nötig." Schließlich hinderte niemand Agricola daran, den Eindruck der verräterischen, niederträchtigen und undankbaren Iunier in seinem Kopf zu revidieren. Das hatte er dem Jungen aber zu genüge klar gemacht, so fand er und entspannte sich wieder.
    "Gut, die Vergangenheit ... lassen wir sie ruhen. Deine zumindest", sprach er nun versöhnlicher, "Mit deinen Vorfahren wirst du dich selbstverständlich umso mehr beschäftigen müssen. Jedenfalls … es freut mich, dass du deinen Beitrag leisten willst. Das Haus ist in letzter Zeit recht voll geworden, sodass ich froh bin über jeden, der nicht nur ein Bett belegt und an den Vorräten zehrt, sondern die Familie auch unterstützt. Wenn du dich gut machst, werde ich dir auch gerne ein angemessenes Taschengeld zukommen lassen, dann kannst du dich auch selbst darum kümmern, wenn du etwas brauchst, und brauchst nicht wegen allem mich oder sonst jemanden zu fragen." Ein dünnes Lächeln blitzte nun auch wieder durch. "Tja, und die guten Anlagen, die hat bei uns jeder. Hättest du die nicht, müsste ich mir Gedanken machen, ob du wirklich mein Neffe bist. Im Soldatsein waren wir schon immer gut."

    Sim-Off:

    Ich habe mir erlaubt, ein wenig "vorzuspulen" ;)


    Avianus wollte seinen Kram bereits zusammenpacken. Senator hin oder her, ewig würde er auf den Mann trotzdem nicht warten, schließlich hatte er selbst genug zu tun, und sein Schreiber würde vermutlich auch bald gehen. Zumindest einen Brief hätte der Iulius schreiben können, wenn ein anderer Termin praktischer für ihn gewesen wäre.
    Ungeduldig tippte Avianus auf seinem Schreibtisch herum. Für heute war alles erledigt. Er hatte sogar noch seine Papiere und Tabulae sortiert, die Griffel fein säuberlich beiseite geräumt, bis auf einen, mit dem er aus purer Langeweile noch in den Fingern der anderen Hand herumspielte. So saß er mehr oder minder untätig da, als es an der Tür seines Officiums klopfte.
    Er blickte auf. "Ja?", fragte er nur. Vermutlich würde sein Schreiber ihm verkünden, dass er sogleich der letzte Mensch im Officium wäre.
    "Der Senator Iulius Dives ist hier, um dich zu sprechen, Tribunus", berichtete ihm sein Schreiber, der seinen Kopf vom Vorzimmer ins Officium steckte.
    Der Iunier war ein klein wenig überrascht, dass der Senator die Einladung doch annehmen wollte, wenn auch mit einiger Verspätung. Aber gut ... wenn sie nun beide hier waren, sollte es ihm recht sein.
    "Schicke ihn herein."

    Sein kleiner Scherz zeigte die ersehnte Wirkung, lockerte die Stimmung ein wenig und brachte den werten Neffen sogar zum Kichern. Oh, er würde sich noch sehr viele harmlose Scherze mehr mit Agricola erlauben, da kannte er sich gut genug. Avianus grinste lediglich breit. Sehr schön, dachte er sich auch, als Agricola sich mit seinem Vorschlag einverstanden erklärte, denn alles andere war für ihn mehr oder weniger selbstverständlich. Avianus diente schon fast zehn Jahre bei Roms Stammeinheiten und kannte Roma inzwischen besser als Misenum, seine Heimat, wagte er zu behaupten, und wusste, wie groß das Herz des Reiches wirkte, wenn man es zum ersten Mal sah. Aber dass der Junge nicht allein in der Urbs herumlief, war ihm ohnehin lieber, egal wie gut er sich in ihren Straßen auskannte. Darum, in der Stadt auf sich allein gestellt zu sein, brauchte sich Agricola definitiv nicht zu sorgen.
    "Wegen der Blumen kannst du ja Aesara fragen, wann sie das nächste Mal ihre Einkäufe erledigt. Bestimmt hat sie nichts dagegen, wenn du mitgehst. Und zum Grabmal kann ich dich begleiten, falls du das möchtest", schlug er ohne große Umschweife vor und hätte eigentlich auch keine Gegenleistung verlangt. Dass Agricola nach einer Art Aufgabe suchte und sich seinen Platz in der Familie verdienen wollte, verstand er aber nur zu gut, sodass Avianus nicht einfach abwinken wollte. Irgendetwas gab es eigentlich immer zu tun, das stand fest. Er fragte sich vielmehr, was davon geeignet und machbar für einen Jungen in Agricolas Alter war. "Worin bist du denn gut? Oder was machst du gerne? Wir haben Kaninchen und Hunde. Wenn du gut mit Tieren kannst, kannst du dich vielleicht da einbringen. Außerdem sind vor kurzem auch Iunius Crassus und Iunia Marsa hier angekommen, Zwillinge, ein Stück jünger als du. Sie scheinen ihre Amme ganz schön auf Trab zu halten. Wenn du ein Auge auf sie haben könntest, wäre ich dir dankbar. Oder du könntest mir bei meinen Geschäften helfen." So langsam wurde ihm klar, dass er auf Dauer nicht alles selbst würde erledigen können, wenn er sich jetzt auch noch um ein Haus voller junger Verwandter kümmern wollte. Er könnte sich zwar auch einen Schreibsklaven anschaffen, andererseits war es vielleicht gut, wenn Agricola ein paar Erfahrungen sammelte, die ihn auf sein späteres Leben vorbereiteten. Und um Abrechnungen durchzugehen, Kosten und Einnahmen zu berechnen oder ihm die Briefe auf dem Schreibtisch zu sortieren, war Agricola allemal alt genug. "Den Rest des Tages solltest du mit lernen und körperlicher Ertüchtigung verbringen. Es kann nicht schaden, dich schon jetzt auf eine mögliche Karriere im Exercitus vorzubereiten. In ein paar Jahren möchtest du ja vielleicht die Tradition unserer Familie fortsetzen." Ganz umhin kam er nicht, dem Burschen in regelmäßigen Abständen klar zu machen, welchen Weg er für den richtigen hielt. Andererseits … war es als verantwortungsvoller Patruus nicht sogar seine Aufgabe den vaterlosen Jungen auf einen anständigen Pfad zu lenken?
    In dem Zusammenhang kam ihm noch ein anderer Gedanke. "Ähm ... ja … denn du bist … wie alt?", stellte er dann die ihm so verhasste Frage, die ihn daran erinnerte, wie sehr er als Iunius versagt hatte, wenn es um den eigenen Neffen ging. Ausgerechnet er, der immer davon sprach, wie unfassbar wichtig ihm seine Familie war, der für seine Verwandten beide Hände ins Feuer legen würde, hatte es in den vergangenen Jahren nicht auf die Reihe bekommen, Kontakt zu seinem Neffen aufzunehmen. Das Lächeln war ihm vergangen und deutlich zeigte sich stattdessen in seinen Zügen, wie unangenehm ihm die Situation war.
    "Dreizehn? Vierzehn? Es tut mir leid, Agricola … dass ich nie versucht habe, Kontakt zu dir aufzunehmen, nachdem meine Mutter es aufgegeben hat, meine ich." Dass er es in der Zeit kurz nach dem Tod seines Bruders und während Helia ihren kleinen Krieg mit den Iturii geführt hatte, nicht getan hatte, war vielleicht noch entschuldbar, allerdings nicht, dass er all die Jahre danach versucht hatte, keinen Gedanken mehr an das Geschehene zu verschwenden. Jetzt, da er es endlich losgeworden war, fühlte er sich, musste er zugeben, auch gleich viel wohler in seiner Haut und hoffte, auch endlich eine Reaktion zu seinem Handeln von Seiten des Neffen zu erhalten. Es irritierte ihn, dass Agricola deswegen bisher weder Ablehnung ihm gegenüber gezeigt noch danach gefragt oder es erwähnt hatte. Als wäre es vollkommen logisch, dass sich kein Iunier mehr um ihn geschert hatte.