"Na, du kleiner nanulus?" Der hatte gerade erst seine allabendliche Mahlzeit verdrückt und träumte seelenruig vor sich hin. Avianus beugte sich über das Bettchen und streichelte seinem Sohn übers Köpfchen. Da war er heute wohl zu spät für seinen obligatorischen kleinen Besuch am Abend.
"Tut mir leid, dass ich heute spät dran bin. Schläfst wohl schon tief und fest. Tja, Pech für mich." Gemächlich öffnete das Kind dann doch die Augen, blickte erst unschlüssig in das Gesicht über dem Bett, und fing dann leise an zu quengeln. Nicht ganz wie geplant.
"Ach, komm schon. So 'ne Schei- …" Er brach ab und seufzte. Das Quengeln wurde zu einem Schreien. Avianus blickte zur angelehnten Tür, durch die hoffentlich nicht gleich Sibel stürmte, nur weil er das Kind geweckt hatte. Dann würde er wohl machen, was er sonst bei seinen Besuchen auch oft genug machte: Er hob den Kleinen kurzerhand aus seinem Bett und drückte den Knirps an seine Brust. Machte man ja so, das wusste auch er schon. "Ruhig ... shhhh ... alles gut. Ich wollte dich ja nicht wecken." Beruhigt registrierte er, wie das Jammern leiser wurde. An Sibel hatte der Sohnemann sich weit schneller gewöhnt. Um genau zu sein wohl schon, während sie ihn neun Monate lang mit sich herumgeschleppt hatte. Um sich mit dem Vater anzufreunden, hatte Lucius etwas länger gebraucht.
"Kennst mich wohl noch von gestern, was?", meinte Avianus lächelnd, als er realisierte, dass sein Sohn endlich auch ihn für würdig hielt, ihn herumzutragen. "Weißt du, ich habe die Hebamme mal gefragt, wie das so ist … also ob du auch weißt, wer dein tata ist. Sie meinte einfach, dass ich regelmäßig da sein soll, dich halten und mit dir reden soll … naja, logisch. Darauf hätt ich auch selbst kommen können. Aber ich glaub, langsam haben wir es raus. Was meinst du?" Neugierig wurde er von seinem Sohn beäugt, der selbstverständlich nicht antwortete, aber zumindest auch nicht mehr schrie. Avianus ließ sich mit seinem Zwerg in den Sessel im Zimmer sinken.
"Dein Opa hieß auch Lucullus. Hab ich dir das schon mal erzählt? Meine Mutter sagte immer, er war ein toller Soldat und wär er nicht so ein toller Soldat gewesen, wär er jetzt vielleicht noch hier. Weil er dann vielleicht geflohen wäre oder so. Aber die Schlacht wurde ja gewonnen, weil unsere Soldaten standhaft geblieben sind. Auch wenn ich ihm früher als Kind manchmal böse war, weiß ich dass er das richtige getan hat." Wie er auf das Thema kam, wusste er selbst nicht. Irgendwas musste er eben erzählen. Und ob sein kleiner Sohn auch nur ein Wort kapierte, von dem was er sagte? Hin und wieder hatte Lucius einen entspannten Laut von sich gegeben. Aber ob er etwas verstand … vermutlich nicht im Geringsten. Aber wenn doch, was dachte er sich dann womöglich?
"Also bei mir brauchst du dir da keine großen Sorgen zu machen. Ich steh nicht mehr an der Front", setzte er fort, "Außerdem bin ich doch der größte Glückspilz überhaupt. Mir kann doch gar nichts passieren." Er schenkte dem kleinen Lucius, der müde blinzelnd zu ihm aufblickte, ein Lächeln. Eine Zeit lang saß er nur da, und betrachtete das runde Gesicht des Säuglings, ob da vielleicht ein Merkmal war, das er von seinen Eltern hatte. Der dunkle Haarschopf … war das Sibels oder seiner? Die Stupsnase, wie sie eigentlich so ziemlich alle kleinen Kinder hatten, musste Sibels sein, dachte er. Die Augen hatten kein sattes Braun, wie er eigentlich erwartet hätte, was aber, wie man ihm gesagt hatte, vollkommen normal war in den ersten Monaten.
"Zurück ins Bettchen, hm?", fragte er leise, als er das Gefühl hatte, schon bereit für sein eigenes zu sein. Sachte erhob er sich und tätschelte dem kleinen Mann zum Abschluss den Rücken, bevor er ihn vorsichtig wieder ins Kinderbett legte. Ein oder zwei Sekunden lang war es vollkommen still im Cubiculum. Avianus lächelte, wollte sich bereits umdrehen, da zerriss ein erneutes weinerliches Heulen die trügerische Stille.
"Echt jetzt? Willst du mich veräppeln?", fragte er, verzog das Gesicht und ermahnte sich liebevoll und ruhig zu bleiben, denn er liebte seinen Sohn ja über alles. "Ich liebe dich, wirklich, wie verrückt, aber du machst es einem nicht leicht, nanulus." Einmal tief durchatmend schob er den Sessel ans Kinderbett. Nein, verdammt, er würde nicht seine Frau rufen. Er hatte das im Griff. Sowas von. In der Vergangenheit war er mit einer Horde von hundert Kleinkindern in Männerkörpern fertiggeworden, da würde er es doch wohl schaffen, seinen eigenen, zwei Wochen alten Sohn zu beruhigen. Er setzte sich wieder und streckte eine Hand ins Bettchen und strich dem Knirps über den dünnen Flaum in der Hoffnung, ihn damit zu besänftigen. Was machte man mit einem schreienden Kind, das keinen wirklichen Grund zum schreien hatte?
"Was willst du, hm? Soll ich was vorsingen? Echt, Lucius, dein tata kann nicht singen. Ehrlich nicht", redete er ein klein wenig verzweifelt weiter, während sein Sohn aus voller Kehle heulte. Avianus presste die Lippen aufeinander, schob die Brauen zusammen … und gab sich geschlagen. Leise begann er, ein Soldatenlied zu brummen, schlicht und ergreifend, weil er kein anderes kannte:
"Capites nostra
Cremantur sole,
Velut mille flammis,
Et mille sagittis
Complentur caelum,
Obscurant lucem,
Sed non cadimus,
Nam dei adiuvant,
Accuunt gladios,
Et animum confirmant.
Velut lupi
Decertamus,
Leones fimus,
Metus non tardans,
Romae Aeternae …"
Als Avianus das Gefühl hatte, sogar schon sich selbst einzuschläfern, brach er ab und bemerkte, dass das Kind inzwischen nicht nur verstummt war sondern auch die Augen geschlossen hatte und seelenruhig schlief. Stille herrschte, die dieses mal nicht trügerisch sondern behaglich schien.
"Die nächste Strophe kommt dann eben ein andermal", murmelte er betont leise.
An die Lateiner: Fehler dürft ihr behalten.
Und für alle Nicht-Lateiner oder Nachschlagfaulen: Der Text.
Unsere Häupter
Verbrennt die Sonne
Wie tausend Flammen,
Und mit tausenden Pfeilen
Wird der Himmel gefüllt,
Sie trüben das Licht,
Doch wir fallen nicht,
Denn die Götter stehen uns bei,
Schärfen unsere Klingen,
Schüren unseren Mut.
Wie Wölfe
Kämpfen wir,
Werden zu Löwen,
Angst uns nicht bremsend,
Für das ewige Rom.