Avianus hatte sich von Anfang an gefragt, wie Axilla darauf kam, Seiana wollte ihnen ausgerechnet durch die Ehe mit Seneca schaden. Und er hatte richtig gelegen, diese Heirat brachte ihr rein gar nichts. Der ganze Streit brachte Seiana rein gar nichts. Er glaubte nicht alles, was Seiana sagte, ohne zu hinterfragen. Aber bisher machte für ihn alles Sinn und wich auch nicht so sehr von den Erklärungen seiner Cousine – wenn ihr Gezeter im Atrium als Erklärungen bezeichnen konnte – ab, als dass er Seianas Worte als kompletten Humbug abgetan hätte. Das Wichtigste war aber: Sie wollte keinem Schaden, sie wollte lediglich ein normales Leben mit seinem Cousin führen und nichts mehr zu tun haben mit dem, was in der Vergangenheit geschehen war. Mehr brauchte er eigentlich gar nicht zu wissen. Und Axilla würde ihm glauben, wenn er es ihr erklärte, hoffte er. Was sollte sie auch sonst tun? Sie hatte ewig nicht mehr mit der Decima gesprochen, und ihre letzten Aufeinandertreffen waren alles andere als ruhig und sachlich abgelaufen. Woher sollte Axilla also wissen, was wirklich los war.
Vielleicht war sein kurzes Auflachen zuvor etwas fehl am Platz gewesen, aber der Gedanke, dass Seiana und Axilla nach allem, was seine Cousine letztens gesagt hatte, sich doch noch irgendwann die Hand reichen könnten, war einfach zu abwegig gewesen. Er räusperte sich kurz und lächelte dann trotzdem leicht.
"Gut, davon bin ich ausgegangen", entgegnete er beruhigt, "Jetzt muss ich nur noch Axilla davon überzeugen. Ich habe ja keinen Streit mit ihr, deshalb bin ich ziemlich sicher, mir schenkt sie mehr Gehör als Seneca. Zu hoffen ist es jedenfalls. Ich kann nicht zulassen, dass sich unsere Gens wegen einer solchen Farce von innen selbst zerreißt, und ich weiß, Seneca würde dasselbe für mich tun." Gut, in der Casa Iunia war er einfach aus dem Atrium hinausgehetzt, nachdem das mit der Hochzeit raus war. Im Ernstfall würde er aber hinter ihm stehen, da war Avianus sicher. "Jedenfalls ... es tut mir leid, dass ich ausgerechnet am Abend vor der Hochzeit dieses Thema angeschnitten habe."
Was sie dann sagte, ließ ihn die Stirn runzeln. Sie glaubte offenbar nicht ganz daran, dass er sehr wohl verstand. Andererseits war seine Situation eine gänzlich andere – er war nur ein kleiner Fisch, mehr nicht, während sie zwischen den höchsten Männern des Reiches stand. Und dennoch existierten Parallelen. Aber sie konnte von alldem nichts wissen, dass er vielleicht doch mehr Ahnung hatte, als sie dachte. Es gab Dinge, die suchte man sich nicht aus. Die passierten einfach. So wie man sich eben in jemanden verlieben konnte, den man eigentlich nicht lieben sollte. Und manchmal verliebte man sich so sehr, dass man verrückte Dinge tat. Zumindest für Außenstehende schienen sie verrückt, während man selbst sicher war, das richtige zu tun. Trotzdem, es hatte sehr wohl etwas Verrücktes an sich, sich etwa für eine Straßenhure verprügeln zu lassen, oder diese Hure zu kaufen und sie in der Castra Praetoria unterzubringen, oder eben auch derselben Hure für teures Geld schöne Kleider zu kaufen, um sie zur Hochzeit des Vetters mitzubringen. Aber für manche Menschen nahm man das auf sich, das Verrücktsein. Ihm war klar, er hatte nie so viel aufs Spiel gesetzt wie Seneca und Seiana, so war seine Beziehung an sich etwa nie lebensgefährlich gewesen. Aber er wusste zumindest, dass es bei solchen Dingen nicht einfach nur schwarz und weiß gab.
"Ja … denke ich", entgegnete er deshalb nachdenklich und fragte sich gleichzeitig, wieviel er von sich preisgeben sollte. "Manchmal gibt es kein wahres richtig oder falsch. Jedenfalls nicht für diejenigen die in dieser bestimmten Situation stecken. Für Außenstehende ist es immer leicht zu sagen, man hätte dieses oder jenes tun sollen …", sagte er nur vage und schwieg schließlich.
Sowie sie ihn schockiert vor sich hin stammelte, ahnte Avianus, dass Seiana gar nicht gewusst hatte, wieviel Seneca ihm erzählt hatte. Verdammt nochmal, Seneca. Du und deine Überraschungen. Der konnte vermutlich einfach nicht anders, als immer irgendetwas vor irgendwem zu verheimlichen. Dabei war es doch halb so wild, er hatte Seneca ja nicht den Kopf abgerissen und war hier, um morgen an der Hochzeitsfeier teilzunehmen. Ihre Reaktion konnte er sich deshalb nicht recht erklären.
"... von Silana", vervollständigte er schlicht ihr Gestammel, "Ja ... ich weiß von Silana. Ich dachte du wüsstest, dass ich davon weiß. Ich wollte dich nicht beunruhigen."