Beiträge von Aulus Iunius Avianus

    "Ganz wie du meinst", antwortete Avianus seinem Vetter lächelnd. Die Decima musste es ihm wirklich angetan haben. Natürlich, immerhin wollte er die Frau heiraten und hatte dafür einige Hindernisse in Kauf genommen. Avianus sollte es recht sein, so musste er nicht daneben sitzen und zusehen, während Seneca eine vollbusige Lupa auf dem Schoß herumrutschte. Denn obwohl es ihn bis vor kurzem noch öfter ins Lupanar gezogen hatte, war der Grund dafür ja Sibel gewesen, nicht irgendeine beliebige Hure.
    Nun gut, wo trank man inzwischen in Rom? Überall eigentlich, wollte er erst sagen, verkniff sich allerdings seinen blöden Scherz und grinste stattdessen.
    "Da gibt es zum einen die Caupona Aluta, ein Wirtshaus in Trans Tiberim, wo auch richtig gutes Essen serviert wird, aber ich glaube, die haben inzwischen wieder zugemacht. Meine Männer zieht es an freien Abenden ins Rufo's Elysium - ein billiger Laden, so sieht's dort auch aus und genauso schmeckt auch der Wein. Nichts für uns also." Zum Spaß zwinkerte er seinem Cousin zu. "Die alte Taverna Apicia gibt's tatsächlich immer noch, vermutlich schon unter ihrem zehnten Besitzer. Ein echtes Relikt." Er schlug den Weg in eine Seitengasse ein. "Aber wenn du richtig guten Wein suchst, musst du ins Uva Bacchi, die Schenke macht ihrem Namen alle Ehre", endete er seinen Exkurs zu nennenswerten Schenken, die ihm in der Urbs bekannt waren und war im Grunde ohnehin schon dabei, seinen Vetter zu letzterer zu führen, vor der er schließlich stehen blieb. Der Lärm der Gäste, der aus der Schenke nach draußen in die Gasse drang, hatte sie bereits aus einiger Entfernung angekündigt, nun da Avianus seinem Verwandten den Vortritt ließ und hinter diesem die Schenke betrat, konnten sich auch andere Sinne mit der Taverne bekannt machen. Es roch nach Wein, hier und da zog der Duft von frischem Käse und Oliven an einem vorbei, die Wände waren verziert mit Malereien und zwischen den Tischen wanderten zwei junge Schankmädchen und bedienten die Gäste.
    "Was sagst du? Suchen wir uns einen Tisch?"

    Als sie ihm gegenüber ihr Herz ausschüttete, hatte Avianus das Gefühl, dass es falsch gewesen war, sie seinen Ärger spüren zu lassen. Er kannte schließlich ihre Vergangenheit und wusste, dass ihr dadurch manches schwer fiel. Allerdings musste er es doch sagen, denn wenn er es nicht tat, geschah erst recht nichts, und es konnte ihr nicht gut tun, wenn sie zuließ, dass ihre Zukunft ständig von den unangenehmen Erlebnissen ihrer Vergangenheit beeinflusst wurde. So eingehend wie heute hatte sie sich bisher noch nie darüber ausgesprochen, sodass er, so schmerzhaft was sie sagte auch sein mochte, er sich anschließend etwas besser fühlte. Ein wenig versöhnt wandte er sich ihr ganz zu und beugte sich etwas zu ihr hinab. Tränen benetzten ihre Wangen. Wer auch immer glaubte, seine Sibel wäre nichts wert, konnte nicht ganz richtig sein. Natürlich, sie war für die Aurii lediglich eine Sklavin gewesen, eine Sache, ein Hilfsmittel, ein wandelndes Möbelstück, dessen war er sich absolut bewusst. Aber sie anzublicken und zu versuchen zu verstehen, wie jemand so über sie dachte, fühlte sich verrückt an. Er wischte die Tränen weg.
    "Du weißt gar nicht, wie viel du wert bist. Würde ich morgen alles verlieren, was ich habe, und würde sich jeder von mir abwenden … ich weiß, du wärst noch immer da. Noch dazu bist du das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen habe, und du hast so viel mehr verdient als ich dir bieten kann. Würde man mich lassen, würde ich mein Leben mit dir verbringen. Was man dir erzählt hat, waren nichts als Lügen", sagte er und ließ keine Zweifel, dass er seine Worte ehrlich meinte.
    Nur darauf, was für sie beide wohl am besten wäre, wusste auch er keine passende Antwort, zumindest nicht heute. Sorgenfalten wurden zwischen seinen Brauen sichtbar, weil er ihr vielleicht nicht die Antwort geben würde, die sie sich wünschte.
    "Ich sagte schon, dass ich dich nicht wegschicken werde, aber ich brauche ein wenig Zeit zum Nachdenken. Was heute passiert ist, war ein wenig viel für einen Tag."

    Etwas in ihm wollte sich aufbäumen gegen ihre Rechtfertigungen und Ausflüchte, ihre Vergangenheit und andere Leute hätten Schuld daran, was sie tat als hätte sie keine andere Wahl, wie sie sich hinter ihrem Dasein als Sklavin versteckte, alle ihre Fehler darauf schob. Gefühle und Erinnerungen waren das eine, Handeln etwas anderes. Das eine musste nicht zwangsläufig das andere beeinflussen, oder?
    "Nein, ich weiß nicht wie das ist. Aber glaubst du, ich hatte nie Angst vor irgendetwas? Keine Angst, dich zu verlieren? Nur lass ich nicht mein Leben davon bestimmen. Ich habe eine Scheißangst davor, dich zu verlieren, aber ich weiß, wenn ich dieser Angst nachgebe, verliere ich dich erst recht", entgegnete Avianus. In seinen bisher so kontrollierten Gesichtszügen regte sich wieder etwas, Falten gruben sich in seine Stirn und er biss sich kurz auf die Lippe.
    "Ich verstehe, was du meinst …" Nur nachvollziehen konnte er es nicht. Wie sie darauf kam, dass sie, sobald ihre Beziehung ein Ende fand, wieder vollkommen alleine dastand, war ihm schleierhaft. "... aber ich habe dich nicht vollkommen ohne Plan gekauft, Sibel. Wenn du mir nur ein einziges verdammtes Mal vertrauen würdest, mich nur einmal machen lassen würdest, dann müsstest du nie wieder in deinem Leben allein dastehen. Du könntest frei sein und würdest sogar den Namen meiner Gens tragen. Als Iunia wärst du sicherlich nicht allein." Tat sie aber nicht. Wie oft hatte er sie bereits darum gebeten, ihm zu glauben, wenn er sagte, sie könne sich auf ihn verlassen, und machte seine Rechnung jedes Mal ohne ihre Furcht vor ihrer eigenen Vergangenheit. Schon das allein raubte so viel Kraft und es war immer dasselbe. Langsam war er es leid, aber was sollte er tun, es half ja scheinbar alles nichts.
    "Oder vielleicht habe ich auch das Glück, sollte ich es tatsächlich einmal schaffen, in den Ordo Equester aufzusteigen, ans andere Ende der Welt versetzt zu werden, wo es kein Schwein interessiert, mit wem ich zusammen bin. Deine Angst blendet dich so sehr, dass du all diese Dinge gar nicht siehst, und mir gibst du keine Zeit nachzudenken." Ärger schwang in seiner Stimme mit. Um nicht damit anzufangen herumzugestikulieren, stützte er die Hände leicht verkrampft auf seine Knie. Wenn er sich in der Vergangenheit genauso verhalten hätte wie sie und bei jedem Unwetter versucht hätte, vom Schiff zu springen, niemals wären sie dann bis hierher gekommen. Und so weit, wie sie inzwischen gekommen waren, hätte er sich damals in den Gärten nie zu träumen gewagt. Sibel wäre dennoch bereit gewesen alles aufzugeben.
    "Ja, ich habe Angst, ja, ich weiß nicht, was ich machen soll, und ja, es war bescheuert zu glauben, das mit uns könnte irgendwann einfacher sein. Aber deswegen werfe ich noch lange nicht alles aus dem Fenster und nur weil ich das nicht mache, heißt das noch lange nicht, dass ich mir damit alle Möglichkeiten verbaue. Habe ich mir bisher irgendetwas verbaut? Verachtet mich irgendjemand? Verdammt, Seneca akzeptiert es sogar!"

    Dass sie lebte und wohlauf war, war doch immer das Wichtigste gewesen. Wie konnte sie auch nur ansatzweise glauben, ihm damit einen Gefallen zu tun, ihm das zu nehmen, was ihm noch mehr bedeutete als die Liebe zu ihr. Und eine Entscheidung zu treffen, hatte sie ihm durch ihr Handeln ebenfalls nicht leichter gemacht.
    "Wenn dem so ist … wenn es das ist, was du dann tun würdest ... deinem Leben ein Ende bereiten … wie soll ich dich dann jemals guten Gewissens gehen lassen?", fragte Avianus und schüttelte dabei leicht den Kopf. Wenn sie damit, sich fast umzubringen, etwas bewirkt hatte, dann nur, es ihm noch schwerer zu machen.
    "Aber so wie jetzt kann es auch nicht bleiben. Ich habe immer alles versucht, damit du eine Zukunft hast, in der es dir an nichts fehlt, und währenddessen musste ich dir noch ständig beweisen, dass ich dich nicht fallen lasse … und das konnte ich alles, weil ich wusste, dass du da bist …", erklärte er tonlos. Jetzt hingegen war Sibel scheinbar nur noch auf der Suche nach einem Ausweg, einem Schlupfloch, dabei war doch vollkommen klar, dass sie an dem Punkt, an dem ein halbwegs erträglicher Ausstieg möglich gewesen wäre, längst vorbei waren. Und ein Zurück gab es ebenso wenig. Blieb nur ein Ende, welches sie zweifellos beide gleichermaßen zerreißen würde, oder der Weg nach vorne. Weiter, vorwärts, wie er es als Soldat gewohnt war, bis das Schicksal ein Ende herbeiführte, doch ohne jeglichen Halt wusste er nicht wie.
    "… aber jetzt soll ich weitermachen, während du hinter mir einen Weg suchst, alles wieder einzureißen? Mit der ständigen Angst, dass du dich umbringst, wenn ich einen Augenblick lang nicht bei dir bin? Und dabei habe ich mit keinem Wort gesagt, dass ich dich fortschicken werde." Der einzige Schluss, zu dem er kommen konnte, war, dass sie es nicht mehr wollte ... ihr fürchterliches Leben. Sie hatte ihr Dasein offenbar satt und selbst er und was zwischen ihnen war oder zumindest in der Vergangenheit einmal existiert hatte war nicht mehr wertvoll genug, sie am Leben zu erhalten. Natürlich könnte sie immer etwas trennen, wie sollte er ihr widersprechen, sie war schlichtweg naiv gewesen, das Gegenteil zu glauben, aber war es wirklich besser, dann schon von vornherein aufzugeben? Er hatte sich selbst schon mit derartigen Gedanken herumgeplagt, sie allerdings jedes Mal verworfen. Vielleicht hatte sie Recht und er sollte sie gehen lassen und hoffen, dass jemand zur Stelle war, um ihn aufzufangen, denn wie sollte er ihr helfen, wenn sie sich dagegen stemmte. Nur wäre sie die einzige, die ihn in einer solchen Situation auffangen könnte.
    "Ich kann dich nicht wegschicken ... nur frage ich mich, ob du wirklich bleiben willst."

    "Es tut dir immer leid, Sibel …", entgegnete Avianus ihr. Es tut mir Leid … wie oft hatte er diese Worte bereits gehört. Beinahe jedes Mal, wenn sie sich getroffen hatten, so hatte er das Gefühl. So oft jedenfalls, dass sie inzwischen mit jedem weiteren Mal an Bedeutung verloren. Und es war im Grunde immer dasselbe. Sie geriet in Schwierigkeiten, tat etwas Unüberlegtes oder knickte schlicht unter der Last ihres Schicksals ein und seine Aufgabe war es scheinbar, sie stets wieder aus dem Sumpf zu ziehen und weiterzumachen. Aber noch nie war sie so weit gegangen wie heute. Ihr Blick hatte schon im Balneum Bände gesprochen, tat es jetzt immer noch, und nun kam ihre weinerliche Entschuldigung hinzu. Und kein Mensch ertrank einfach so im Balneum. Sie leblos auf den Fließen liegen zu sehen, hatte ihm bereits ein Schwert in den Rücken gerammt, dass sie es so gewollt hatte, drehte ihm die Klinge nur tiefer ins Fleisch. So sehr er es inzwischen gewohnt war, Stärke für zwei aufbringen zu müssen, irgendwann kam der Punkt, an dem auch er nicht mehr konnte.
    Sie hatte ihn aufgeben wollen, ihn in Schmerzen und Trauer zurücklassen wollen und noch dazu mit dem Gefühl, der Grund für ihren Tod zu sein. Nie könnte er ihr dasselbe antun, wäre er auch noch so verzweifelt. Sie hingegen wäre dazu in der Lage, und hatte es sogar versucht.
    Während er dasaß, wusste er weder, was er fühlen, noch, was er sagen sollte. Er war versucht, seine Emotionen, die nun nach dem ersten Schub an Erleichterung, dass sie überhaupt noch lebte, aus ihm herausbrechen wollten, weiter hinunterzuschlucken wie er es schon in den letzten Minuten getan hatte, um ihr die Zeit zu geben, sich ein wenig zu erholen, anstatt Wut, Verzweiflung und Enttäuschung freien Lauf zu lassen. Zumindest das hatte er in all der Zeit gemeinsam mit ihr und auch als Offizier inzwischen gelernt: Hinunterwürgen, was an Gefühlen die Situation nur komplizierter machte. Also riss er sich zusammen, weil sie ihm doch das Liebste auf der Welt war, glaubte er zumindest. Aber stumm konnte er nicht mehr bleiben.
    "Du weißt, dass du mir nichts Schlimmeres antun könntest …?", fragte er sie deshalb nach einer Weile und rührte sich noch immer nicht vom Fleck. Er spürte, wie er an seine Grenzen stieß. Der Rest der Welt stand schon nicht auf ihrer Seite, wenn nun auch Sibel nicht nur endgültig aufgab sondern dazu ihn und ihre Liebe verriet, wie wollte er dann noch weitermachen?
    "Ich kann nicht mehr", stellte er schließlich leise fest.

    Leicht fiel es ihm nicht, Sibel für den heutigen Abend allein zu lassen, nach dem, was erst vor wenigen Tagen geschehen war. Avianus wusste, er hatte es bitter nötig, endlich den Kopf frei zu kriegen, und noch dazu würde Seneca, bei dem er erstens ein Versprechen einzulösen hatte und mit dem es sich zweitens zweifellos bestens einen heben ließ, nicht ewig in Rom bleiben. Schlussendlich war er deshalb gar nicht mal so unglücklich darüber, Sibel in der Casa Iunia in der Obhut der Sklaven zurückzulassen, sich dort seinen Cousin zu schnappen und sich mit ihm in die Straßen der Urbs Aeterna zu wagen. Behäbig sank die Sonne dem Horizont entgegen, wovon man zwischen den teilweise mehrere Stockwerke hohen Häusern ohnehin nichts bemerkte, ließ aber einen angenehm lauen Abend für all jene zurück, die ihn außerhalb der eigenen vier Wände nutzen wollten. Von frischer Abendluft und Stille konnte in Rom zwar nie die Rede sein, eine nette Abwechslung war es dennoch und spätestens wenn sie auf den ersten Becher Wein in einer Taberna landeten, würde Avianus, vorerst noch etwas angespannt, vermutlich ganz von alleine locker werden.
    "Was hast du dir für heute Abend vorgenommen? Sollen wir nur mal anstoßen oder hast du vor, deine enthaltsame Zeit in Mantua wettzumachen?", fragte er Seneca mit einem Lächeln, "Für beides kenne ich geeignete Läden."

    Das Bett bereiteten die Sklaven selbstverständlich als erstes vor, damit sich Sibel so schnell wie möglich hinlegen konnte, während man sie aus dem Balneum hinaus und nach oben trug. Avianus legte sie darauf ab, als die Sklaven zumindest damit fertig waren und schickte diese vorerst aus aus dem Zimmer, einerseits um dafür zu sorgen, dass Sibels Kleidung aus dem Balneum geholt wurde und der Medicus gleich nach oben kam, sobald er da war, andererseits um endlich einen Augenblick mit ihr allein zu haben. Später hätten die Sklaven noch genügend Zeit, den Raum, der Sibel fürs Erste zur Verfügung stehen würde, herzurichten.
    "Ein Medicus wird bald kommen und nach dir sehen", sprach er sie nun das erste Mal wieder direkt an, unsicher ob sie ihn überhaupt hörte, während er sie von dem feuchten Handtuch befreite und dabei die letzten Tropfen Wasser abwischte, die noch auf ihrer Haut hafteten - eine Arbeit, die er sicherlich auch einer Sklavin hätte überlassen können, hätte er denn gewollt. Bestimmt fühlte sie sich wohler, wenn er stattdessen bei ihr war, so hoffte er zumindest. Es waren schon immer nur er und sie gewesen, sie hatten alles immer zusammen durchgestanden, warum sollte es an diesem Tag anders sein. Hätte sie ihn jedenfalls nicht bei sich haben wollen oder gebraucht, hätte sie sich auch sicherlich nicht derart an ihn geklammert. Und wenn sie ihn brauchte oder auch nur wollte, war er bisher immer da gewesen.
    Er legte das Handtuch beiseite und nahm stattdessen eine der Wolldecken, die die Sklaven am Fußende des Bettes bereitgelegt hatten, breitete sie über ihr aus, setzte sich an den Rand des Bettes, um mit ihr auf den Medicus zu warten. Stumm betrachtete er sie, obwohl er sich zuvor noch vorgenommen hatte, sie zu fragen, was passiert war. Und natürlich führte daran kein Weg vorbei. Jetzt musste er sich aber eingestehen, er hatte ein wenig Angst vor ihrer Antwort. So viel hatte sie in ihrem Leben durchgestanden, und der heutige Abend ließ ihn mit der Frage zurück, wie viel sie noch ertragen würde, bevor sie daran zerbrach – so leicht verletzbar schien sie nämlich in diesem Augenblick, so zerbrechlich –, oder auch wie viel er wohl ertrug. Sicher war nur, wenn sie ging oder gar starb, würde sie ein gewaltiges Loch zurück lassen, von dem er nicht sicher war, ob es durch irgendetwas wieder zu füllen wäre.

    Pünktlich zur hora quarta wurde er im Officium des Gardetribuns vorstellig: Trotz Termin klopfte er kurz, wartete bis er eingelassen wurde und trat vor den Decimus, wo er schließlich Haltung annahm. Dass sein ehemaliger Vorgesetzter zu den Cohortes Praetoriae zurückgefunden hatte, war nichts neues mehr, dennoch nach wie vor ein Lichtblick, weil es zeigte, dass die hohen Tiere des Reiches zumindest versuchten ihre alten Differenzen zu überwinden. Und noch dazu wäre es eine Schande, jemandem mit der Menge an Erfahrung, wie sie der ehemalige Praefectus vorzuweisen hatte, keinen Stabsposten zu überlassen.
    "Salve, Tribunus Decimus Serapio", grüßte Avianus militärisch, "Centurio Iunius Avianus meldet sich wie verlangt."
    Weshalb man ihn herzitiert hatte, konnte viele Gründe haben, zumal sie einander ja nicht vollkommen unbekannt waren. Vorerst ohne sich darüber den Kopf zu zerbrechen, überließ der Iunier aber dem Decimus, der sicherlich gleich erklären würde, worum es ging, das Wort und wartete ab.

    Nicht mehr als ein Schatten ihrer selbst war sie, wie sie sich an ihn klammerte, und das Gefühl, sie so sehen zu müssen, war beinahe unerträglich. Nur wusste er nicht, wie er ihr in diesem Augenblick helfen sollte. Er war kein Medicus und vor den Augen anderer allzu viele Zärtlichkeiten auszutauschen, um sie zu trösten, schickte sich ja nicht. Aber sie im Arm zu halten, das ließ er sich nicht nehmen.
    Mit einem Ohr hörte er dabei Atticus zu. Einer von Axillas Söhnen also … zu was machte ihn das dann? Zum Onkel? Oder Vetter? Jedenfalls sprach der junge Pompeius beinahe so, als wäre Avianus noch nie hier gewesen.
    "Nun, ich kenne Axilla …" – Sie war immerhin seine direkte Cousine. – "… und auch Silanus", sprach er und brachte endlich ein mildes Lächeln zustande, selbst wenn es dank der jüngsten Ereignisse recht schnell wieder verblasste. Er mochte die Casa Iunia nur selten besuchen, doch ein vollkommen Fremder war er auch wieder nicht. "Aber vielleicht finden wir später einen geeigneteren Augenblick, uns genauer darüber zu unterhalten."
    Als Atticus vorschlug ein Cubiculum für sie herrichten zu lassen, nickte er. "Ja … das wäre gut. Und meines sollte anschließend auch gleich vorbereitet werden. Ich werde mit ihr vorerst hier bleiben." Sicherlich hätte er auch selbst einem Sklaven Bescheid geben können, doch in der gegenwärtigen Situation war er durchaus dankbar, wenn jemand seine Hilfe anbot.
    Sanft strich er Sibel noch über die wirren Haare. "Na komm schon …", murmelte er dann mehr zu sich selbst, hatte einen Arm bereits um ihren Oberkörper gelegt, schob nun den anderen unter ihren Beinen durch und hob sie erneut hoch, um sie nach oben zu tragen. Ein weiches Bett war sicherlich besser zum Ausruhen geeignet als harte Fliesen oder Steinbänke, erst recht in ihrem Zustand. Wie es für die übrigen Hausbewohner aussehen musste, wenn der vermeintliche Dominus seine in ein Handtuch eingewickelte Sklavin durch die Casa trug, war ihm dabei gerade herzlich egal. Die würden früher oder später ohnehin erfahren, dass Sibel nicht einfach irgendeine Sklavin war, oder hatten das vielleicht schon, bei dem Lärm, den sie zuvor im Atrium produziert hatten.

    Wer konkret dafür sorgte, dass ein Medicus kam, spielte für Avianus definitiv keine Rolle. Viel zu sehr war er mit Sibel beschäftigt. Bestimmt war ihr kalt, immerhin lag sie nun doch schon eine Weile da, und er konnte sehen, wie sie inzwischen eine Gänsehaut bekam und leicht zu zittern begann, obwohl der Grund dafür nicht nur Kälte sein konnte sondern auch schlicht der Schock, den ihr Körper sicherlich hinter sich hatte.
    "Ja … sie gehört zu mir. Ich danke euch, wären du und dein Begleiter nicht hier gewesen, wäre sie jetzt vielleicht tot", antwortete er und wollte auch gar nicht genauer auf die komplizierte Beziehung zwischen ihm und Sibel eingehen, zumal er den Jungen ja nicht einmal richtig einordnen konnte. Und dann war da noch Sibel, die seine Aufmerksamkeit bitter nötig hatte.
    Während er sprach, legte er ihr einen Arm um die Schultern um sie aufzusetzen, konnte so das Handtuch zurechtziehen und besser um ihre Schultern legen, und hob sie schließlich hoch, sodass sie endlich nicht mehr in den Pfützen lag, die sich unter ihr auf dem Boden ausgebreitet hatten. All das tat er, ohne erneut ein Wort an Sibel zu richten. Was sollte er auch sagen. Danach zu fragen, was genau passiert war – wobei er nach ihrem seltsamen Verhalten und aufgrund der Tatsache, dass sie nicht verletzt schien, so eine Ahnung hatte –, dafür war es wahrscheinlich noch zu früh. Und vermutlich wäre sie auch noch gar nicht in der Lage, ihm richtig zu antworten.
    "Mein Name ist Iunius Avianus … und du bist wohl … ebenfalls ein Iunius? Entschuldige, aber ich bin nur selten hier im Haus", startete er stattdessen einen Versuch zu klären, wer der Blondschopf war, der da noch im Balneum herumstand, auch weil er sich blöd vorkäme, nichts zu sagen. Unterdessen trug er sie hinüber zu einer der Bänke, setzte sich vorerst dort mit ihr und drückte sie an sich. Sollte er sie gleich in sein Cubiculum tragen? Oder erst auf den Medicus warten?
    "Vielleicht sollte ich sie nach oben tragen …?", stellte Avianus eine Frage in den Raum. Zweifellos würde er sie später hoch in sein Cubiculum bringen, damit sie sich ausruhen konnte und dann wäre sie vielleicht auch soweit, ein paar Worte mit ihm zu wechseln, aber noch war er schwer beschäftigt, das geschehene zu verarbeiten und war selbst noch merklich durch den Wind. Der Anblick ihres leblosen Körpers hatte sich in seinen Verstand gefressen und er würde ihn sicherlich länger nicht loswerden, selbst wenn er gerade einfach nur erleichtert war, ihre schweren Atemzüge zu spüren.

    "Und du bist wohl der einzige Bruder, den ich noch habe", entgegnete Avianus lächelnd. Es tat jedenfalls gut zu wissen, dass da jemand war, der ihm den Rücken frei hielt, wie auch immer er die Situation mit Sibel lösen würde. Avianus erhob sich, denn Seneca hatte nicht Unrecht. Was auch immer mit Sibel los war, seitdem sie aus der Casa gestürmt war, es schadete sicherlich nicht, wenn er nochmal nach ihr sah.
    "Klar, auf alle Fälle ziehen wir mal um die Häuser. Wenn Mantua wirklich so fad ist, hast du ja einiges aufzuholen", stimmte er mit einem Grinsen zu, hielt aber noch einmal inne, bevor er das Cubiculum verließ.
    "Ach ja: Zumindest heute Nacht werden auch Sibel und ich noch hier bleiben. Das Gespräch und alles drum herum … das hat sie etwas mitgenommen", bemerkte er, damit sich Seneca nicht wunderte, wenn er am nächsten Morgen noch immer in der Casa war.

    Vollkommen hilflos stand Avianus diesem Moment da und spürte wie seine Knie nachgeben wollten. Nur ein Nicken hatte ihm die Sklavin zukommen lassen, doch es reichte, um ihm damit den Atem zu rauben. Sie war weg … so plötzlich, als hätte ihm jemand ein Schwert in den Rücken gerammt. Er hatte es nicht kommen sehen und das obwohl er Mitschuld trug. Er hatte sie hierher gebracht, zugelassen, dass das Gespräch zwischen Seneca und ihm sie verletzte, und es danach nicht einmal für nötig befunden, an ihrer Seite zu bleiben, sie zu trösten und ihr zu zeigen, wie viel sie ihm doch bedeutete.
    Dann ging ein Zucken durch ihren Körper, das erlösende Geräusch eines Hustens drang langsam aber sicher zu ihm durch. Ihr Oberkörper regte sich. Eine gefühlte Ewigkeit dauerte es, bis er ihre Laute und Regungen voll und ganz realisierte und sich endlich aus seiner Starre löste. Verdammt, sie lebte. Avianus griff nach einem Handtuch und ging neben dem Kerl, der Sibel zu Hilfe geeilt war, in die Knie. Der drehte sie nur zur Seite und zog sich zurück. Sie war haarscharf am Tod vorbei geschlittert, hätte man ihr nur ein paar Minuten später geholfen, vielleicht auch weniger, hätte er sie wahrscheinlich verloren. Er würde sich nachher noch die Zeit nehmen, dem Mann ausreichend zu danken.
    "Du lebst …", sagte er nun einfach nur erleichtert zu Sibel und strich ihr die feuchten Haare aus dem Gesicht, brachte nach all der Aufregung aber noch kein Lächeln zustande. Damit sie nicht weiterhin nackt vor den Leuten lag, legte er ihr das Handtuch über die Schulter und würde ihr helfen, sich aufzusetzen, wenn sie soweit war.
    Ein Medicus. Natürlich. Noch hatte er gar keine Zeit dazu gehabt, sich darüber Gedanken zu machen, wie es überhaupt soweit kommen konnte, das Sibel im Balneum fast ertrank. Aber selbst jetzt schien das nebensächlich. Erst sollte sie wieder halbwegs auf die Beine kommen. "Ja… ein Medicus", stimmte er dem Jungen zu, hatte sich dabei noch immer nicht ganz gefasst und blickte zu der Sklavin hinüber, die wimmernd dasaß, "Zieh dir was über und sie zu, dass einer vorbeikommt!" Dann blickte er zurück zu dem Jungen, den er nicht einmal kannte, aber mit solch einer Selbstverständlichkeit herumstand, dass anzunehmen war, dass er hier wohnte. "Salve", grüßte er knapp, ohne recht zu wissen, wie er sich nach dem Drama, das gerade stattgefunden hatte, vorstellen sollte. Die Umstände unter denen sie sich hier kennenlernten, waren wohl alles andere als gewöhnlich.

    Das Geschrei, dass im Balneum etwas vorgefallen war, war auch bis zu ihm vorgedrungen, und Avianus verlor keine Zeit, durch die Casa dorthin zu hetzen, wohl wissend dass außer Sibel und der ein oder anderen Sklavin niemand anderes dort gewesen war. Von außen hörte er bereits die aufgeregte Stimme einer Sklavin und es war eindeutig nicht Sibel.
    Voller Angst eilte er durch die Tür ins Balneum. Wie ein Schlag traf ihn dort das Bild des leblosen Körpers, der im Balneum lag, nicht aber wie der einer Faust oder eines Knüppels, viel eher wie der einer Abrissbirne. Ein Fremder war über sie gebeugt, und versperrte ihm ansonsten die Sicht, aber ihr Anblick - nackt, blass, ohne jegliche Regung, die feuchten, schwarzen Haare, ... - wischte alle Gedanken fort, ließ nur Panik zurück und alle anderen im Raum, der Junge der da stand und auch die Sklavin, nebensächlich werden.
    Jedes Wort blieb ihm im Hals stecken und sein Herz hämmerte ihm bis zum Hals, als er auf sie zuhetzte und erkannte, dass der Fremde bereits Beatmungsversuche startete. Nein, war alles was er gerade dachte. Nein, das kann nicht sein. Nein, tu' mir das nicht an. Sie musste atmen, alles andere war egal … sie musste einfach.
    "Ist sie ...?", brachte er endlich Worte hervor, wenn auch nicht viele, stockte und betete innerlich zu allen Göttern, die da sein mochten, dass es nicht zu spät war. Wie hatte er sie nur allein lassen können, nach allem, was heute geschehen war.

    Avianus schüttelte den Kopf.
    "Als Sklavin wird sie nie vollwertige Bürgerin sein, höchstens ihre Kinder, wenn ich sie vorher freilasse", erklärte er und bekam so langsam das Gefühl, dass Seneca nicht richtig verstand. Ja, sie hatte sich ihm anvertraut, und er hatte sein Möglichstes getan. Ganz bestimmt würde er sie auch nicht einfach fallen lassen. Müsste sie sich von einander trennen, würde er sicherstellen, dass sie eine Zukunft hätte und nicht wieder auf der Straße landen würde, aber mehr konnte er vielleicht einfach nicht tun. "Darum geht es doch schon die ganze Zeit. Eine Lösung, bei der alle glücklich aus der Sache rauskommen, gibt es nicht. All die Jahre haben wir alles mögliche geschafft, und ich hab' mir eingeredet, dass ich auch für das hier eine Lösung haben würde, wenn es soweit ist ... dass es irgendwie schon funktionieren würde, wie immer eben ... und jetzt muss ich erkennen: Das alles war Blödsinn."
    Er atmete tief durch. Je öfter er es wiederholte, desto realer wurde es und desto schwerer lastete es auch. Die Wahrheit konnte eben unangenehm sein.
    "Aber ich will dich damit nicht weiter belasten, immerhin hast du offensichtlich selbst genug um die Ohren."

    Das war's dann also. Es gab keinen Haken oder Seneca wollte einfach glauben lassen dass da keiner war. Avianus blieb ein wenig skeptisch, wollte es aber vorerst dabei belassen, denn er hätte nicht einmal erwartet, endlich zu hören, wer Senecas Liebschaft überhaupt war. Vielleicht würde er zu einem anderen Zeitpunkt noch ein paar Fragen mehr stellen.
    "Darauf bestehe ich sogar", entgegnete er und schüttelte leicht den Kopf, lächelte aber gleich darauf. Seneca würde ihm doch sicherlich nicht vorenthalten, seine Braut kennenzulernen, sollte sie tatsächlich seine Braut werden.
    Sowie sie wieder auf Sibel zu sprechen kamen, seufzte er leise. Seneca wollte helfen oder zumindest aus Höflichkeit interessiert wirken, dafür war ihm Avianus irgendwie sogar dankbar, aber dass sein Cousin plötzlich doch noch die eine perfekte Lösung parat hätte, daran glaubte er nicht mehr.
    "Ich weiß es nicht. Abgesehen von der Möglichkeit, sie freizulassen? Wie denn?", fragte er desillusioniert zurück und sein Lächeln verwandelte sich in ein bitteres. Selbstverständlich hatte er sich darüber bereits den einen oder anderen Gedanken gemacht, war aber nicht zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gekommen.
    "Sollen wir einfach wieder so tun, als wäre sie eine Peregrina? Inzwischen wissen mehr als nur ein paar Leute hier in Rom, dass sie eine Sklavin ist. Sie gehört zwar nicht rechtmäßig mir, nicht direkt jedenfalls, da schon ihr voriger Besitzer sie einfach zu seinem Eigentum erklärt hat, aber selbst wenn wir uns das irgendwie zunutze machen, welche auch nur halbwegs gut situierte Familie nimmt eine Peregrina bei sich auf? Und wen sollte ich um so etwas bitten? Ganz davon abgesehen, dass ich ihren Hintergrund als Sklavin und Lupa zweifellos verschweigen müsste."

    Seneca könnte glatt Politiker werden, so wie der sich gekonnt durch seine Fragen hindurchschlängelte, ohne wirkliche Antworten zu geben. Nicht ganz, was Avianus sich gewünscht hatte, aber was soll's, eine "Wunschantwort" gab's hier vermutlich sowieso nicht, hatte er das Gefühl. Dass Seneca nicht blind vor Liebe alle Probleme übersah, sondern sich anscheinend schon einiges an Gedanken dazu gemacht hatte, versöhnte ihn auch wieder ein wenig, obwohl das Gegenteil für ihn äußerst verwunderlich gewesen wäre. Immerhin kannte er Seneca nicht anders und er war ja nicht umsonst bis zum Eques und Tribun aufgestiegen.
    "Versteh' mich nicht falsch, ich wünsche keinem, erst recht nicht dir, in dieselbe Situation zu gelangen, in der ich mich gerade befinde, von daher gönne ich es dir, solltest du das mit deiner Decima hinkriegen. Außerdem kann ich dir ja nicht verbieten, der Frau einen Heiratsantrag zu machen ..." - Ob die wiederum annahm war sowieso wieder ein ganz anderes Thema. - "... Ich will nur nicht, dass es am Ende Ärger gibt", meinte er deshalb nicht unfreundlich, fügte aber noch an: "Und wenn du das alles weißt, was ich gesagt habe, es für beide Seiten in erster Linie Vorteile bringt und es keinen Haken gibt, dann freut es mich ja." Dabei zog er eine Augenbraue in die Höhe und überließ es aber Seneca, wie er seinen letzten Kommentar deuten wollte. Regten sich etwa alle umsonst auf?

    Hätte er gerade etwas getrunken, hätte er sich vermutlich verschluckt. Aber auch so blickte Seneca reichlich überrascht an. Und wäre er noch der Miles, der vor ein paar Jahren regelmäßig schneller geredet als über seine Worte nachgedacht hatte, hätte er ganz bestimmt ebenfalls anders reagiert. Avianus zog die Augenbrauen hoch, lehnte sich zurück und hätte am liebsten einen Schluck Wein genommen. Je länger er sacken ließ, was er soeben gehört hatte, desto ernster wurde sein Ausdruck.
    "Von mir erfährt niemand etwas …", stellte er allerdings zuerst klar. Immerhin hatte Seneca bisher auch für ihn stets ein offenes Ohr gehabt und sich als Freund erwiesen, selbst wenn Avianus das Gefühl hatte, seine Geschichten waren gegen Senecas vermutlich nur Kleinigkeiten.
    Das war aber längst nicht alles, was er seinem Verwandten dazu sagen wollte, vollkommen egal, wie sehr Seneca von der Decima schwärmte. Er musste ja selbst gerade lernen, dass persönliche Gefühle manchmal nicht von Bedeutung waren, selbst wenn er seinen Vetter verstehen konnte.
    Seneca hatte ja für diese Frau eine ganze Menge riskiert, wie er einst selbst gesagt hatte, und sicherlich lief die Sache schon eine ganze Weile. Dunkel erinnerte Avianus sich an den Abend, bevor Seneca nach Mantua abgereist war und auch daran, dass die Beziehung sich schon damals nicht ganz frisch angehört hatte. Die nächste Frage war also wie ernst und vor allem intim diese Beziehung bisher gewesen war. Avianus hatte da so einen unangenehmen Verdacht.
    "Aber dir ist hoffentlich klar, was du da tust? Wer mit wem einen Streit hat oder hatte, davon weiß ich nichts … aber sie ist die Schwester des ehemaligen Praefectus Praetorio, war die Frau von dessen Vorgänger, ist die Tochter des Praefectus Urbi, und der ist mein Vorgesetzter und Silanus' Patron", meinte er ernst. Dessen war sich Seneca sicherlich bewusst, der war ja kein Idiot, aber zu irgendeinem Zeitpunkt musste er es wohl oder übel verdrängt oder vergessen haben, von daher schadete es sicherlich nicht, es noch einmal klarzustellen.
    Bei dem Gedanken kam ihm dann noch eine weitere Frage. Weshalb Axilla keinen guten Draht zu den Decimern hatte, hatte Seneca ja bereits begründet, aber den Zwist mit Silanus, der ansonsten kein Problem mit den Decimern zu haben schien, erklärte das nicht direkt, was seinen Verdacht nur verstärkte. "Welches Problem hat Silanus damit? Geht es ihm nur um deinen und ihren Stand?", fragte er nicht direkt, sondern wartete ab, was sein Cousin ihm dazu zu sagen hatte. Dass er genauer nachbohrte und Frage stellte, damit hatte Seneca hoffentlich gerechnet, sonst hatte er eben Pech.

    Gespannt hörte er Seneca zu, ließ ihn zu Ende reden und blickte dann ein wenig skeptisch. Sein Cousin wollte heiraten, darüber sollte er sich doch freuen, dann würde sich wenigstens einer die Frau nehmen, die er liebte, aber Seneca bestand ja darauf, ihm jegliche Information zu dessen Beziehung stets nur als kleine Brocken vorzuwerfen.
    "Das hast du, allerdings nicht besonders viel", gab Avianus zunächst zu bedenken. Was wusste er bereits? Sein Vetter hatte für diese Frau alles riskiert, hatte jetzt einen besseren Stand und wollte sie also heiraten, was auch nicht direkt neu war, immerhin hatte er in einem seiner Briefe schon etwas von einer höheren Stufe geschrieben, auf die er seine Beziehung führen wollte.
    "Dass du sie heiraten willst ist ... schön für dich", meinte er dann, versuchte dabei nicht neidisch zu klingen, rang sich ein schmales Lächeln ab und wurde daraufhin wieder ernster, "Aber was für ein Versteckspiel eigentlich, Seneca? Kannst du mir das alles mal erklären? Ich meine, wirklich erklären?" Seneca tat ja geradewegs so, als hätte er ihm bereits alles wichtige erzählt, dabei hatte Avianus noch nicht einmal eine Ahnung, wer diese mysteriöse Frau war und was es mit dem Ärger zwischen seinem Vetter und der restlichen Verwandtschaft auf sich hatte. So langsam fragte er sich, ob er vielleicht einfach der Dumme war, der da nicht durchblickte.