Zwar war Senecas Antwort genau das, was er schon die ganze Zeit über zu hören erwartet hatte, dennoch schluckte er schwer, als es endlich laut ausgesprochen wurde. Damit wurde es mit einem Schlag so viel realer. Wäre noch eine Spur seiner Freude übrig geblieben hätte er vielleicht bitter gelacht, weil sein Cousin offenbar glaubte, keiner außer ihnen wüsste von ihm und Sibel. So blieb er aber nur stumm.
Seneca, sein ehemaliger Vorgesetzter, der sie im Kampf angeführt hatte, der immer gewusst hatte, was zu tun war, von dem er geglaubt hatte, dass er immer noch irgendeinen Rat wusste, wenn er schon längst verzweifelte … selbst der wusste nun nicht mehr zu sagen, als dass er sich zwischen A und B entscheiden musste, nie aber beides haben konnte. Es war ernüchternd … mehr als das … enttäuschend. Niederschmetternd. Avianus tat sein bestes, seine Fassung zu wahren.
Ein Leben ohne Sibel. Darauf würde es vermutlich früher oder später hinauslaufen … eine befremdliche Vorstellung. Und das obwohl er sich stets gesagt hatte, es ginge ihm in erster Linie darum, dass es ihr gut ging, nicht darum, sie für immer an seiner Seite zu haben. Es ging um Sibel, einzig und allein um sie, nicht um ihn. Das hatte er sich selbst und allen anderen zumindest immer vorgemacht. Aber wenn er daran dachte, dasselbe noch einmal durchmachen zu müssen, wie schon einmal, befiel ihn Angst. Er lehnte sich zurück, strich sich fahrig durch die Haare, wollte Sibels Finger gleichzeitig mit seinen verschränken, aber die entglitten seiner Hand.
Sibel hatte sich neben ihm erhoben, machte nun lautstark ihrem Kummer Luft, und er konnte unterdessen nicht mehr tun, als sie anzustarren.
"Solange ich dich bei mir behalten will …?", war das erste, was er hervorbrachte, als er seine Beherrschung wiedergefunden hatte. In jeder anderen Situation hätte er sie vermutlich in den Arm genommen, damit sie sich beruhigte, aber sie war es ja, die sich von ihm gelöst hatte und derart stumpfsinniges Zeug redete, als wäre sie einfach nur ein netter Bonus für ihn, den er eigentlich gar nicht brauchte. Die Kirsche auf der Sahnetorte. Wo sie doch lange schon so viel mehr war und sie sich dessen bewusst sein sollte. Noch dazu versuchte er hier ruhig und sachlich zu bleiben, ihre Optionen durchzugehen, und sie heulte nun in ihrer Hoffnungslosigkeit die immer selben verzweifelten Worte durchs Atrium, von denen er gehofft hatte, sie nie wieder hören zu müssen, um ihr dann die immer selben Antworten zu geben.
"Wann wollte ich denn jemals, dass du gehst? Und wer hat denn einmal gesagt, solange wir uns lieben, macht das mit uns immer Sinn?! Und verdammt nochmal, ich habe dir schon einmal nachgetrauert! Die beschissenste Zeit, die ich je hinter mich bringen musste! Und es würde wieder genauso sein, mach' dir also nichts vor! Womit soll ich also aufhören, Sibel? Dich zu lieben oder damit, ein Iunius zu sein?!" Zwar hatte er sie nicht angeschrien, war aber doch zum ersten mal, seit sie im Atrium saßen, lauter geworden, schnaubte nun kurz und starrte durch seinen Weinbecher hindurch ins Leere. "Ich weiß einfach nicht, was ich machen soll, denn scheißegal was ich tu', ich werde es nie allen recht machen, und mir selbst sowieso nicht." Verstand sie denn gar nichts? Sie begriff das Dilemma, in welchem er sich verfangen hatte, wohl gar nicht. Nicht sie stand im Grunde im Weg. Alle standen irgendwie im Weg. Entweder würde Sibel den Kürzeren ziehen oder seine Karriere und Familie. Und er selbst immer. Er konnte gar keine richtige Entscheidung treffen.