Wenn Atticus' Kommilitone recht hatte und die Voluten tatsächlich das ganze, angesprochene Problem darstellten, dann war die Lösung sehr simpel. Vor allen Dingen hatten sie sie direkt vor der Nase, denn bei eben diesem Tempel, vor dem sie standen, wurde es genau so gelöst: “Wenn man die Voluten an der betreffenden Ecke nach außen verdreht, im Winkel um fünfundvierzig Grad, sieht man die Volute von beiden Seiten gleich gut.“
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“Richtig und richtig“ strich sich Kephalos zufrieden durch den Bart. “Indem die Eckvoluten herausgedreht werden, ist es optisch von beiden Seiten möglich, sie zu sehen. Allerdings sieht man so noch immer, dass diese Eckvoluten aus den übrigen herausstechen und somit ist keine echte Symmetrie gegeben. In vereinzelten Tempeln wird dies nun so gelöst, dass sämtliche Voluten um 45 Grad herausgedreht sind. Hierdurch ist es natürlich wieder symmetrisch, allerdings sehr auffällig. Ich bezweifle, dass sich diese Lösung durchsetzen wird.“ Kephalos konnte ja nicht wissen, dass in etwa 100 Jahren diese Lösung tatsächlich zum Standard werden würde.
“Nungut, widmen wir uns dem weiteren Aufbau. Auf den Kapitellen ruht der Architrav (5). Das ist der Stützbalken für den kompletten Dachaufbau. Dieser leitet das Gewicht der gesamten Dachkonstruktion auf die Säulen weiter und muss daher mit besonderer Sorgfalt ausgewählt werden. Wenn dieser das Gewicht nicht tragen und verteilen kann, wird früher oder später das gesamte Dach sonst einstürzen. Daher war man in den ältesten, noch dorischen Tempelkonstruktionen aus Holz hierbei auf die Länge und Tragfähigkeit entsprechender Bäume beschränkt, und die Suche nach passenden Stämmen und deren Transport konnte Monate dauern. Erst mit der Steinbauweise konnten die Bauten insgesamt vergrößert werden.
Während im dorischen Stil der Architrav einfach nur glatt gehauener Stein – oder eben Holz – ist, sieht man hier sehr schön den Unterschied in der ionischen Ordnung: die drei Fascien, also die eingearbeiteten Rillen in den Stein, die der Verschönerung dienen.
Darüber nun kommt der Fries (4), der allerdings auch entfallen kann. Doch macht dieses Fries die meisten Tempel erst zu wirklichen Augenweiden. Häufig ist er plastisch gestaltet, indem in den Stein entweder plastische Figuren gehauen werden, oder aber mit Stuck aufgebracht werden. In jedem Fall, auch bei glatten Friesen, wird es bunt bemalt. In unserem Fall nun sehen wir Fische und Ranken und – weil sie ein Zeichen des Portunus sind – Schlüssel. Bei anderen Tempeln sehen wir neben typischen Symbolen der Gottheit gerne auch Darstellungen von Sagen die Gottheit betreffend, oder aber auch Darstellungen desjenigen, der einen Tempel gestiftet hat, im Treffen mit der Gottheit.
Über dem Fries nun ist eine kleine Zierleiste, das Kymation, das direkt an den Zahnschnitt, genannt Geisipodes, anschließt (3). Dieses Element wiederum ist rein ästhetischer Natur, um die Dachkonstruktion noch besser vom Architrav abzuheben, und als weitere Verzierung des Gebäudes.
Darüber nun kommt die prismatische Konstruktion des Daches. Um den Eindruck des Prisma zu verstärken, sehen wir nun hier an der Stirnseite des Gebäudes das dreieckig umlaufende Geison (2) als dicken Balken, von dem das Hauptfries im Dachgiebel, das Tympanon, nach innen deutlich abgesetzt ist.
Und erst darauf, noch einmal deutlich abgesetzt erkennend, kommt das eigentliche Dach mit der Rinnleiste, Sima genannt (1). Diese kann auch wiederum verziert sein, häufig beispielsweise mit Löwenköpfen oder Fischköpfen, die als Regenauslässe dienen.
Teilweise sitzen auch kunstvolle Steinfiguren wie Sphingen, Vasen oder Palmetten auf der Sima zu dem Zweck, die Eckpunkte des Giebels besonders zu betonen. Diese nennt man dann im Fachjargon Akroter. Allerdings finden sich an diesem Tempel weder besonders gestaltete Regenauslässe, noch Akroteria.“
Kephalos machte kurz eine Verschnaufpause. So viele Fachworte in so kurzer Zeit unters Volk zu bringen, das tat man dann ja auch nicht alle Tage.
“Gut, wenn jemand noch Fragen zur ionischen Tempelordnung hat, kann er diese gerne jetzt stellen, ansonsten machen wir uns auf zum Tempel des Apollo Sosianus, um den Vergleich mit einem korinthischen Tempel uns vor Augen zu führen.“