Ich schüttelte nur den Kopf. "Das spielt doch keine Rolle, Aemilius." War mein Standpunkt denn so schwer zu verstehen? "Es spielt keine Rolle, was die anderen, die Prätorianer oder sonstwer, vielleicht gedacht haben." Darum war es mir schleierhaft, warum er die jetzt anführte. "Es spielt nur eine Rolle, was wir alle hier an diesem Tisch heute denken." Alle anderen waren hier gerade egal. Völlig egal. "Und da hast du einen einzelnen Römer ganz allgemein als einen Feind betitelt.", wiederholte ich die Fakten. "Und entschuldige, aber da musste ich dir widersprechen. Denn ganz egal, was die anderen denken oder gedacht haben. Ich stand nie auf so einem Schlachtfeld. Und deswegen lasse ich mir auch nicht unterstellen, dass ich diese Feindschaft teile." Ganz einfach. "Genau das hast du aber getan, mir und allen anderen hier das unterstellt. Denn du hast in dieser Runde, in der wir hier sitzen, von einem einzelnen Römer ganz allgemein als Feind gesprochen. Heißt: Du hast uns allen hier unterstellt, dass wir in dem Punkt allgemein einen Konsens haben; dass wir deinen Feind hier also teilen. War das jetzt verständlicher? "Aber genau das, Aemilius, tun wir eben nicht. Nicht alle hier teilen diese Feindschaft. Denn ich teile diese Feindschaft nicht." Für die anderen am Tisch konnte ich natürlich nicht sprechen. Vielleicht war die Feindschaft zu diesem Römer für alle anderen hier ja allgemeiner Konsens. Konnte gerne so sein. War kein Problem. Dann konnten sie, wenn sie nur unter sich waren, ihrem gemeinsamen Konsens auch nach Belieben durch solche allgemeinen Phrasen Ausdruck verleihen. Da hatte ich nichts dagegen. (Denn es ging mich auch einfach nichts an.) Aber wenn ich mit dabei war und so einen allgemeinen Konsens nicht teilte, dann war es eben in dem Moment auch kein allgemeiner Konsens mehr. Denn ich war nun mal eine Frau mit eigener Meinung. Und ich widersprach anderen, wenn mir etwas nicht passte.
Tze. Und widersprechen musste ich hier wieder. Aber mit einem herrlich amüsierten Lächeln. "Fein. Für dich macht es einen Unterschied, ob man von einer Person spricht und dabei ihren Namen nennt, oder ob man von einer Person spricht und ihn nicht nennt?" (Denn auch beim Aemilius ging es ja um ganz konkret nur eine Person. Es ging um denjenigen, der seinen Sohn erschlagen hatte. Singular. Nicht Plural. Eine Person, die ganz eineindeutig definiert war. Nur eben nicht über einen Namen, sondern über eine begangene Tat. Das war der einzige Unterschied. Und der war hier in meinen Augen eindeutig zu vernachlässigen.) Ich zuckte leichtfertig mit den Schultern. "Kein Problem. Ich kann das gleiche Beispiel für dich gerne auch nochmal ohne einen Namen wiederholen." Nichts leichter als das. "Wenn ich jetzt also sagen würde .. ja .. damals, da hat "der Freund" .. dessen Namen ich leider gerade "vergessen" habe .. die Patrizier endlich von ihrer Steuerfreiheit befreit und fleißig in wenigen Wochen Dinge erledigt, die der Senat alleine wahrscheinlich in 10 Jahren nicht alle geschafft hätte." Ich nickte dem Aemilier lächelnd zu. "Da würdest du doch aber bestimmt jetzt auch eingreifen und würdest mit Nachdruck betonen, dass dieser maßlose Raffzahn, von dem ich spreche, mein Freund ja gerne gewesen sein kann, aber dein Freund ganz sicher niemals war. Oder?" Exakt das gleiche Beispiel. Nur ohne Namen. Und noch immer war ich mir sicher, dass der Aemilier natürlich auch in diesem Beispiel das Bedürfnis verspüren würde, sich davon zu distanzieren, wenn jemand so eine Aussage machte. "Siehst du jetzt, dass es genau das gleiche ist?" Egal ob namenlos oder nicht.
Dann konnte ich mir ein kurzes Kichern nicht verkneifen. "Warum er sich .. ganz allein .." Och, der arme, kleine Junge. "gegen den Vescularier stellen sollte?" Herrlich amüsant! "Wie wäre es damit: Weil es erstens die einzig richtige Entscheidung gewesen wäre. Und weil er zweitens alles .. und ich sage alles .. andere als allein war." Reichte das? "Denn mein Lieber, du warst vielleicht allein, die Germanici waren vielleicht allein, der Konsular Purgitius war vielleicht allein." Das alles vielleicht, ja. "Aber Iulius Proximus? Der hatte das Kommando über die kompletten Stadtkohorten. Keine Ahnung, wie viele Männer das damals waren. Aber allein war er .. als einer der ganz wenigen .. bestimmt nicht.", widersprach ich entschieden dieser Fehldarstellung. Und die hinkte ja auch nicht nur an dieser einen Stelle gewaltig. "Überhaupt. Ich weiß ja nicht, was du unter einem "anerkannten Augustus" verstehst. Aber wenn mehrere Legionen aus den beiden Germaniae, aus Italia, aus Syria auf Rom marschieren, dann scheint der Mann an der Spitze dort so ganz "anerkannt" ja nicht gerade zu sein. Oder?" Äußerst zweifelhaft. Völlig egal also, welche Scheinbeweise für seine Rechtmäßigkeit auf den Thron er allen gezeigt hatte, ein anerkannter Augustus war er nie gewesen. Nicht überall. Nicht im ganzen Reich. Ja, nicht mal in der Hälfte. (Denn auch Ägypten und Britannien zum Beispiel hatten ihm zwar keine Legion entgegen geschickt. Unterstützt hatten sie ihn aber auch nicht.)
Und Plünderungen verhindert? Dass ich nicht lachte! "Ach, hat er das?" Rhetorische Frage. "Also ist die Stadt nach ihrer Übergabe nicht im Chaos versunken, es gab keine Plünderungen und keinen Mord und Totschlag?" Noch so eine rhetorische Frage. "Wie würdest du das dann nennen, was mit diesem Haus, in dem wir hier gerad so gemütlich liegen, nach der Übergabe Roms passiert ist? Habt ihr die Leute damals etwa eingeladen, hier alles kurz und klein zu schlagen?" Das wagte ich ja aber wohl zu bezweifeln. "Iulius Proximus hatte als Kommandeur der Stadtkohorten die Aufgabe, für Sicherheit, Recht und Ordnung in dieser Stadt zu sorgen. Und anstatt das zu tun, hat er nur eine Fehlentscheidung nach der anderen getroffen." Für irgendetwas qualifiziert hatte er sich damit jedenfalls bestimmt nicht. Nicht für irgendeine Dankbarkeit. Nicht für sonst irgendwas. Nicht in meinen Augen.
Ich zählte auf: "Der Vescularier war so weit am Ende, dass er schon die Prätorianer, seine eigene Leibwache" Das war sie ja. "nach Vicetia geschickt hat. Aber hat dein Verwandter das zum Anlass genommen, diesem Krieg ein schnelles Ende zu machen? Nein. Er war weiter ein treuer Gefolgsmann vom Vescularier." Nummer Eins. "Dann wurde selbst dieses letzte Aufgebot der Prätorianer bei Vicetia geschlagen. Aber hat dein Verwandter das zum Anlass genommen, die siegreichen Soldaten mit offenen Armen als Befreier in Rom zu empfangen? Nein. Er hat lieber weiter zum Vescularier gehalten und den Befreiern die Tore vor der Nase zu geschlagen." Nummer Zwei. "Meinst du, da waren die Befreier davon angetan, dass er ihnen ihren jubelhaften Empfang für diese Befreiung verwehrt hat? Oder meinst du, dass auf der anderen Seite der Stadtmauern die Menschen sich gefreut haben, von ihm eingeschlossen zu werden? Ich glaube das nämlich nicht. Und trotzdem hat Iulius Proximus weiter blind zum Vescularier gehalten." Denn wer die Realität nicht sah, der musste ja entweder blind sein oder Garum in den Augen haben. "Und erst als dann wahrscheinlich damit gedroht wurde, dass man Rom auch gewaltsam einnehmen würde, da hat er dann vielleicht einmal auch eine richtige Entscheidung getroffen und die Stadttore geöffnet." Selbst ein (und da war das Adjektiv wieder) blindes Huhn fand eben auch mal ein Korn. "Aber das ändert natürlich nichts daran, dass er hauptsächlich falsche .. ja, katastrophal falsche Entscheidungen getroffen hat. Denn meinst du, irgendwer hätte hier geplündert und gemordet, wenn alle Bewohner der Stadt groß ihre Befreiung und ihre Befreier gefeiert hätten? Oder glaubst du, die Befreier wären plötzlich selbst zu Plünderern geworden, statt sich darin zu baden, eben als Befreier hier von allen groß gefeiert zu werden?" Ich bezweifelte das.
Klar, Iulius Proximus hätte den Siegern nach Vicetia einen Boten entgegen schicken müssen, damit die sich (und ihre Soldaten) auch darauf einstellen konnten, dass die Zeit von Krieg und Eroberungen, Plünderungen und Totschlag vorbei war; und dass stattdessen die Zeit des Jubelns und Feierns gekommen war. Sowas musste man natürlich machen, bevor man einfach die Stadttore für mehrere Legionen sperrangelweit öffnete. "Da Rom lieber belagern zu lassen und so auf beiden Seiten der Mauer den Unmut zu schüren, der am Ende nur zu den ganzen Plünderungen und Co. führen konnte .." Ich fand dafür keine Worte. "Von dem Punkt, wo er sich entschieden hat, das Kommando über die Stadtkohorten trotz des aufkeimenden Bürgerkriegs zu übernehmen .. bis zu dieser letzten Fehlentscheidung nach Vicetia .. hätte er zigfach die richtige Entscheidung treffen können. Selbst nach Vicetia wäre er noch der Mann gewesen, der dem Vescularier den Dolchstoß verpasst; der für einen ruhigen, geordneten und friedlichen Seitenwechsel der Stadt sorgt. Selbst da hätte er sich noch die Dankbarkeit, die du für ihn forderst, verdienen können." Ich schüttelte den Kopf. "Aber er hat nur immer wieder und wieder Fehlentscheidungen getroffen, bis es irgendwann dann halt einfach zu spät war." So einfach war das. "Und da hat er dann plötzlich auch mal .. aus der Not heraus", musste man ja schon sagen, "auch einmal eine richtige Entscheidung getroffen." Denn dass er umringt von mehreren Legionen nicht in der Position für irgendwelche Forderungen oder auch nur irgendwas war, war ja wohl klar. (Die Kutsche war abgefahren, als er nicht direkt auf die Nachrichten aus Vicetia mit einem freundlichen Boten an die Sieger reagiert hatte.) "Wenn du mich also fragst, bei aller Liebe und Verwandtschaft und so weiter. Aber ich halte seine Behandlung nur für die logische Konsequenz seines Versagens." Seines Versagens auf ganzer Linie. Er hätte (Konjunktiv!) der Mann sein können, der den Befreiern den goldenen Apfel überreicht. Aber durch seine zahllosen Fehlentscheidungen war (Indikativ!) er eben nur der Mann geworden, der den Befreiern die Tore vor der Nase zu geschlagen hatte und zum Schluss wahrscheinlich der Letzte in Rom gewesen war, der vom Vescularier abgefallen war. Und da, wo ich her kam, war es halt eben so: Die Ersten waren die Sieger; die Letzten mussten sehen, was übrig blieb (und das war meistens halt eben nicht viel).
Selbst mit dem Teil, dass sein Verwandter hier jetzt die Verantwortung übernommen hatte, hatte Iulius Centho nur zur Hälfte recht. Denn gegenüber Rom war das richtig. Da konnte man sein Verlassen der Stadt so sehen. (Obwohl er wahrscheinlich sowieso hier auch nie wieder einen Fuß auf den Boden bekam.) Aber gegenüber seinen Verwandten (auch gegenüber dem, der ihn hier gerade so verzweifelt verteidigte) hatte er diese Verantwortung noch nicht übernommen. Denn hätte er das getan, dann hätte er dafür gesorgt, dass er mit seinem Namen keinen Schatten mehr auf alle anderen (meine Kinder, meinen Mann, Iulius Licinus und seinen Sohn, Iulius Centho samt Kindern) warf. Er hätte sich, wie ein ehrenvoller Römer, ein Schwert genommen und seinem Leben ein Ende gesetzt. Denn nur so konnte endgültig (Achtung Wortwitz) Gras über seinen Namen wachsen. (Aber bei aller offenen Kritik an Iulius Proximus breitete ich diesen Teil meiner Meinung natürlich nicht vor unseren Gästen aus. Stattdessen bemerkte ich nur, dass Iulius Centho seinen eigenen Fehler nicht weiter versuchte, zu rechtfertigen. Und auch im Fall des Iulius Proximus wähnte ich mich natürlich schon sicher auf der Via Triumphalis.)