Je mehr und je länger Kaeso sprach, desto mehr glättete sich die steile Falte zwischen Alpinas Augenbrauen. Ihr wurde bewusst, dass der junge Mann genau so ein lieber Kerl war, wie sie es immer vermutet hatte. Liebesbedürftig und nach Liebe suchend. Auf dem Pfad der Erkenntnis, dass es verschiedene Arten der Liebe gab. Eine davon verkörperte Alpina für ihn. Das war die mütterliche Seite, die besorgt um ihn war, ihn behütete und nur sein Bestes wollte. Und es verwunderte sie nicht, dass die Hinwendung auch andere Gefühle in Kaeso geweckt hatte. Jung und unerfahren wie er war. Die andere Seite wurde von Phryne bedient. Die leidenschaftliche, erotische Liebe. Bei ihr konnte er sein Mann-sein erproben. Und auch diese Seite bekam all seine Aufmerksamkeit und seine Fürsorge.
Alpina lächelte zärtlich, als Kaeso offenbarte, dass er beide Frauen liebte. Sie ergriff seine Hand und hielt sie.
"Das ist schon gut, Kaeso. Ich konkurriere nicht mir Phryne. Wir könnten unterschiedlicher nicht sein, wie du selbst festgestellt hast. Sie gibt dir etwas, das ich dir nicht geben kann. Genieß es! Aber sei vorsichtig. Frauen wie Phryne ziehen die Motten an wie das Licht. Und diese Motten sind beileibe nicht immer harmlos."
Genau das, was Alpina befürchtet hatte, traf zu. Dieser Mann, mit dem Phryne sich eingelassen hatte, war ein Ungeheuer. Wie auch immer - wie genau, das wollte Alpina gar nicht wissen - er war der Freigelassenen offensichtlich entglitten. Er beherrschte sie mit Gewalt und alle in ihrem Umfeld. Kaeso war dazwischengeraten in seiner blinden Leidenschaft und Liebe zu "seiner Göttin". Wie herzzerreißend naiv von beiden, sich an die Mysteriengöttin Kybele zu wenden, anstatt sich den brutalen Kerl von bezahlten Leibwächtern vom Leib zu halten. Oder wollte es Phryne so? War sie am Ende eine Frau, die beherrscht werden wollte? So hatte Alpina sie nicht eingeschätzt. Doch man konnte sich täuschen.
Alpina drückte Kaesos Hand fest. "Nein, du musst das Haus nicht verlassen. Wir müssen für dich eine Lösung finden und offenbar für Phryne auch. Ich hatte sie nicht so hilflos eingeschätzt. Sie wirkt so gerissen und hat ein derart loses Mundwerk, dass ich nie geglaubt hätte, dass sie sich von einem dahergelaufenen Verbrecher so demütigen lässt. Aber vermutlich liegt es daran, dass sie lange Zeit Sklavin war."
Es sollte nicht herablassend klingen, doch Alpina ertappte sich dabei, dass sie Phryne nach all den Beleidigungen und Demütigungen, die diese der Raeterin zugefügt hatte, wenig Mitleid für die Freigelassene empfand. Alpina sah ihren Schützling ratlos an.
"Die Casa Helvetia wird immer dein Zuhause sein, komme was wolle. Hier wird dir nicht die Tür gewiesen, wie töricht du dich auch in deinem jugendlichen Leichtsinn manchmal gebärdest. Du kannst jederzeit zu mir kommen."
Nun machte sie einen Schritt auf ihn zu und nahm Kaeso in den Arm. Sie spürte sein Herz klopfen und wusste, dass es das Leben nicht immer nur gut mit ihm meinte. Deshalb wollte sie ihm die Sicherheit geben, die er brauchte.
"Was sollen wir machen? Was schlägst du vor? Wie kann ich dir helfen?"