Auch wenn sie wohl das ein oder andere Mal kurz eingenickt war, stand Alpina an diesem Morgen übermüdet, steif und gerädert von ihrem Lagerplatz auf. Sie löschte das Feuer und in Ermangelung einer Waschgelegenheit schulterte sie gleich ihre Rückentrage und machte sich auf die letzte Etappe nach Mattiacum.
Wie schon in den vergangenen Tagen begegneten ihr nicht viele Menschen. Den Hut tief ins Gesicht gezogen murmelte Alpina immer dann eine kurze Begrüßung, wenn ihr jemand entgegenkam oder ein Reiter sie überholte. Nach ihrer Mittagsrast kam es jedoch zu einer unerwartet brenzligen Situation. Schon von weitem konnte sie die beiden Männer sehen, die nebeneinander reitend die gesamte Breite des Weges einnahmen. Alpina wich seitlich in den Wald aus und blieb stehen. Der gleichmäßige Takt der trabenden Pferde kam näher. Es waren bewaffnete germanische Krieger, womöglich gehörten sie zu Norwigas Leuten. Mit grimmigen Blicken musterten sie Alpina, ritten dann aber an ihr vorbei. Doch kaum war die Raeterin auf den Weg zurückgekehrt, hörte sie, wie die Reiter ihr Tempo verminderten, anhielten und dann sogar umdrehten. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen und ging unbeirrt weiter. Nun kam das Klappern der Hufe näher.
Heida du! Bleib stehen!
Der Befehl hallte durch den stillen Wald. Alpina blieb stehen. Sie hielt den Kopf gesenkt. Wenig später waren die Reiter bei ihr. Einer von ihnen, ein Krieger mit rotblondem Haar und wildem Bart, sprang ab. Er kam auf Alpina zu. Ihr Herz begann bis in den Hals hinein zu hämmern, die Knie wurden weich. Nur mühsam konnte sie sich beherrschen, nicht wegzurennen.
Was hast du in der Rückentrage? Du weißt doch sicher, dass der Handel mit den Römern verboten ist!
Da sie sich nicht mehr weit vom Limes entfernt befanden, war die Frage des Germanen nur zu verständlich. Alpina hielt den Kopf tief gesenkt und versuchte ihre Stimme zu verstellen. Ein wenig half ihr, dass sie seit zwei Tagen kein Wort gesprochen hatte. Kratzig kam ihre Antwort.
"Es sind nur meine persönlichen Sachen, Kleider und Proviant. Ich bin kein Händler."
Das will ich selbst sehen! Mach die Rückentrage auf!, bellte er.
Alpina hob die Rückentrage von den Schultern und öffnete die Verschnürung. Der Rothaarige schubste sie zur Seite und begann ihre Kleidung herauszureißen und auf dem Boden zu verteilen. Als er die zwei Tuniken als Frauentuniken erkannte, stockte er in seiner Bewegung und sah Alpina an. Mit einer schnellen Bewegung zog er ihr den Hut vom Kopf.
Hab ich mir doch gedacht, dass mit dir was nicht stimmt! Schau her, Thorwulf! Es ist ein Mädchen und was für ein hässliches Entlein! Ihr Gatte scheint sie nicht ohne Grund gezüchtigt zu haben... sie ist eine Ausreißerin! Sprich, Mädchen! Wo kommst du her und wo willst du hin?
Alpina gab das Verstellen der Stimme auf, ihre Tarnung war aufgeflogen. Sie sagte die Wahrheit.
"Ich bin Hebamme aus Raetia und suche eine Heilerin in Mattiacum auf, um von ihr zu lernen."
Der rotblonde Germane sah sie misstrauisch an.
So einen Blödsinn habe ich ja noch nie gehört! Das willst du mir weißmachen? Eine römische Spionin bist du! Man hört es doch an deiner Sprache, dass du Römerin bist!
Alpina zitterte vor Angst. Sie musste daran denken, was passiert war, als man sie das letzte Mal als römische Spionin bezeichnet hatte. Die beiden sahen auch nicht so aus, als wenn sie sich lange bitten lassen würden, gewalttätig zu werden. Ihr musste jetzt schnell etwas einfallen.
"Sakradi, ihr Saubuam, ihr Mistkrippi! Jetza schleichts eich und losts ma mei Ruah!", schimpfte sie in wildestem Raetisch.
Irritiert sah sie der Rotblonde an. Dann wanderte der Blick zu seinem Begleiter.
Hm, Latein war das nicht. Sollen wir sie ziehen lassen?
Der andere zuckte die Achseln. Er schien nicht viel Lust zu haben, umzukehren, um die eventuelle Spionin zum nächsten Stützpunkt der chattischen Krieger zu bringen. Er wendete sein Pferd bereits wieder. Lass sie gehen!, sagte er.
Der Rotblonde musterte Alpina noch einmal neugierig, als wäre sie ein exotisches TIer, dann schwang er sich auf den Rücken seines Pferdes. Ohne ein weiteres Wort trabten die Germanen weiter.
Mit schlotternden Knien und zitternden Fingern klaubte Alpina ihre Sachen zusammen, steckte sie zurück in die Rückentrage und setzte ihren Weg fort. An der nächsten Weggabelung setzte sie sich auf einen Stein, um sich von dem Schreck zu erholen. Sie blickte den Weg hinunter, der von Westen her kam. In einiger Entfernung konnte sie eine Gruppe mit einem Eselswagen erkennen. Alpina sah genauer hin, sie schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Konnte es wirklich sein? Waren das tatsächlich Othmar und seine Männer?