Beiträge von Susina Alpina

    Als der Eselswagen näher kam, war sich Alpina ganz sicher, dass es Othmar und seine Gefährten waren. Ihr wurde bewusst, dass er sie in den Männerkleidern und mit dem großen Hut wohl nicht erkennen würde, vielleicht sogar besorgt wäre, dass sie ein Wegelagerer wäre oder ein Lockvogel für Räuber. Also sprang sie auf, riss sich den Hut vom Kopf und rannte, mit dem Hut schwenkend und rufend auf die Gruppe zu.


    "Othmar, Hrothgar, Wolfhart! Ich bin´s, Alpina!"


    Sie freute sich so ihre Weggefährten vom Hinweg wiederzusehen, dass sie vergass, dass sie mit dem blauen Auge, das noch immer tief in der Augenhöhle der linken Gesichtshälfte hing, den kurzen Haaren und ihrem Aufzug wohl eher erschreckend wirken musste.


    Als sie dem Wagen näherr kam, erkannte sie aber auch, dass mit den Weggefährten etwas nicht stimmte. DIe ganze Gruppe ging sehr langsam. Hrothgar hielt einen Arm unnatürlich an den Körper gepresst und auch Wolfhart ging schleppend. Was war passiert?

    Auch wenn sie wohl das ein oder andere Mal kurz eingenickt war, stand Alpina an diesem Morgen übermüdet, steif und gerädert von ihrem Lagerplatz auf. Sie löschte das Feuer und in Ermangelung einer Waschgelegenheit schulterte sie gleich ihre Rückentrage und machte sich auf die letzte Etappe nach Mattiacum.


    Wie schon in den vergangenen Tagen begegneten ihr nicht viele Menschen. Den Hut tief ins Gesicht gezogen murmelte Alpina immer dann eine kurze Begrüßung, wenn ihr jemand entgegenkam oder ein Reiter sie überholte. Nach ihrer Mittagsrast kam es jedoch zu einer unerwartet brenzligen Situation. Schon von weitem konnte sie die beiden Männer sehen, die nebeneinander reitend die gesamte Breite des Weges einnahmen. Alpina wich seitlich in den Wald aus und blieb stehen. Der gleichmäßige Takt der trabenden Pferde kam näher. Es waren bewaffnete germanische Krieger, womöglich gehörten sie zu Norwigas Leuten. Mit grimmigen Blicken musterten sie Alpina, ritten dann aber an ihr vorbei. Doch kaum war die Raeterin auf den Weg zurückgekehrt, hörte sie, wie die Reiter ihr Tempo verminderten, anhielten und dann sogar umdrehten. Sie versuchte sich nichts anmerken zu lassen und ging unbeirrt weiter. Nun kam das Klappern der Hufe näher.


    Heida du! Bleib stehen!


    Der Befehl hallte durch den stillen Wald. Alpina blieb stehen. Sie hielt den Kopf gesenkt. Wenig später waren die Reiter bei ihr. Einer von ihnen, ein Krieger mit rotblondem Haar und wildem Bart, sprang ab. Er kam auf Alpina zu. Ihr Herz begann bis in den Hals hinein zu hämmern, die Knie wurden weich. Nur mühsam konnte sie sich beherrschen, nicht wegzurennen.


    Was hast du in der Rückentrage? Du weißt doch sicher, dass der Handel mit den Römern verboten ist!


    Da sie sich nicht mehr weit vom Limes entfernt befanden, war die Frage des Germanen nur zu verständlich. Alpina hielt den Kopf tief gesenkt und versuchte ihre Stimme zu verstellen. Ein wenig half ihr, dass sie seit zwei Tagen kein Wort gesprochen hatte. Kratzig kam ihre Antwort.
    "Es sind nur meine persönlichen Sachen, Kleider und Proviant. Ich bin kein Händler."


    Das will ich selbst sehen! Mach die Rückentrage auf!, bellte er.


    Alpina hob die Rückentrage von den Schultern und öffnete die Verschnürung. Der Rothaarige schubste sie zur Seite und begann ihre Kleidung herauszureißen und auf dem Boden zu verteilen. Als er die zwei Tuniken als Frauentuniken erkannte, stockte er in seiner Bewegung und sah Alpina an. Mit einer schnellen Bewegung zog er ihr den Hut vom Kopf.


    Hab ich mir doch gedacht, dass mit dir was nicht stimmt! Schau her, Thorwulf! Es ist ein Mädchen und was für ein hässliches Entlein! Ihr Gatte scheint sie nicht ohne Grund gezüchtigt zu haben... sie ist eine Ausreißerin! Sprich, Mädchen! Wo kommst du her und wo willst du hin?


    Alpina gab das Verstellen der Stimme auf, ihre Tarnung war aufgeflogen. Sie sagte die Wahrheit.
    "Ich bin Hebamme aus Raetia und suche eine Heilerin in Mattiacum auf, um von ihr zu lernen."


    Der rotblonde Germane sah sie misstrauisch an.
    So einen Blödsinn habe ich ja noch nie gehört! Das willst du mir weißmachen? Eine römische Spionin bist du! Man hört es doch an deiner Sprache, dass du Römerin bist!


    Alpina zitterte vor Angst. Sie musste daran denken, was passiert war, als man sie das letzte Mal als römische Spionin bezeichnet hatte. Die beiden sahen auch nicht so aus, als wenn sie sich lange bitten lassen würden, gewalttätig zu werden. Ihr musste jetzt schnell etwas einfallen.


    "Sakradi, ihr Saubuam, ihr Mistkrippi! Jetza schleichts eich und losts ma mei Ruah!", schimpfte sie in wildestem Raetisch.


    Irritiert sah sie der Rotblonde an. Dann wanderte der Blick zu seinem Begleiter.
    Hm, Latein war das nicht. Sollen wir sie ziehen lassen?


    Der andere zuckte die Achseln. Er schien nicht viel Lust zu haben, umzukehren, um die eventuelle Spionin zum nächsten Stützpunkt der chattischen Krieger zu bringen. Er wendete sein Pferd bereits wieder. Lass sie gehen!, sagte er.


    Der Rotblonde musterte Alpina noch einmal neugierig, als wäre sie ein exotisches TIer, dann schwang er sich auf den Rücken seines Pferdes. Ohne ein weiteres Wort trabten die Germanen weiter.


    Mit schlotternden Knien und zitternden Fingern klaubte Alpina ihre Sachen zusammen, steckte sie zurück in die Rückentrage und setzte ihren Weg fort. An der nächsten Weggabelung setzte sie sich auf einen Stein, um sich von dem Schreck zu erholen. Sie blickte den Weg hinunter, der von Westen her kam. In einiger Entfernung konnte sie eine Gruppe mit einem Eselswagen erkennen. Alpina sah genauer hin, sie schirmte die Augen gegen die Sonne ab. Konnte es wirklich sein? Waren das tatsächlich Othmar und seine Männer?

    Die Nachtwache in der Schutzhütte hatten sich Alpina und Ulfr geteilt und obwohl er die zweite Hälfte übernommen hatte, bot der Sohn von Egbert und Brunnhild am Morgen an, Alpina noch ein Stück zu begleiten. Er vertraute auf die Kraft und Ausdauer seines Pferdes. Sie verließen also nach einem kurzen Frühstück mit Brot vom Vortag ihre Bleibe und marschierten weiter.
    Offenbar keineswegs müde von der Nachtwache plapperte Ulfr daruflos. Munter plätschernd wie ein Gebirgsbach sprudelten die Anekdoten aus ihm hervor. Sehr zu Alpinas Leidwesen waren es gerade Horrorgeschichten über wilde Wölfe und entlaufene, tollwütige Hunde, die in den Wäldern ihr Unwesen trieben. Da Alpina die kommende Nacht im Freien verbringen musste, fand sie wenig Gefallen als Ulfrs ausgeschmückten Geschichten.


    Gegen Mittag machten sie Rast und teilten sich Käse und Brot. Dann verabschiedete sich der Junge mit einem schiefen Lächeln, schwang sich aufs Pferd und verschwand in einem, seinem Imponiergehabe angepassten, gestreckten Galopp in Richtung Heimat. Lächelnd sah Alpina ihm nach. Dann zog sie ihren Hut wieder ins Gesicht und stapfte voran.


    Über Nacht hatte es geregnet. Pfützen standen auf dem Weg und von den Bäumen tropfte es noch ab und an. Das frische Grün der ersten Frühlingsblätter gab dem Wald ein vitales Aussehen. Alpina konnte sich an den vielen Nuancen des Grüns kaum stattsehen. Sie pflückte nebenbei Kräuter, mit denen sie sich ein Abendessen bereiten wollte.
    Als sich die Umgebung veränderte, felsige Abschnitte mit sanften Hügeln wechselten, begann sie nach der Stelle zu suchen, die Othmar und seine Begleiter zur Übernachtung ausgesucht hatten. Doch Alpina fand den Lagerplatz nicht wieder. Sie suchte sich stattdessen einen ähnlich gearteten Platz für die Nacht. Im Rücken die Felswand, die sie vor Gefahren schützte, und vor ihr in Sichtweite der Weg. Eine kleine Lichtung schien den idealen Platz zu bieten.
    Nachdem sie in mühevoller Arbeit aus einigermaßen trockenem Holz mit Hilfe von Zunderschwamm ein Feuer entfacht hatte, wickelte sie sich in Runas Fellumhang.


    Der Umstand, dass sie alleine war, führte dazu, dass Alpina wachsam auf jedes Geräusch achtete, das an ihre Ohren drang. Jedes Knacken im Unterholz, jeder Laut eines Tieres ließ sie aufhorchen. Dann starrte sie ins Dunkel des sie umgebenden Waldes und hoffte darauf, dass es keiner der Wölfe oder Hunde aus Ulfrs Erzählungen war. Die Hand um den Griff ihres Dolches geschlossen wartete sie, das die Nacht verging.

    Am kommenden Morgen war die Schwellung auf Alpinas linker Gesichtshälfte soweit abgeklungen, dass sie nicht mehr spannte, die Sicht war nicht mehr eingeschränkt. Sie dankte Brunnhild von Herzen.
    Als sie dann jedoch wieder alleine aufbrechen wollte, erntete sie energisches Kopfschütteln. In einer Art Familienrat wurde beschlossen, dass Alpina auf ihrer kommenden Etappe vom jüngsten Sohn des Ehepaares begleitet werden sollte. Ulfr war ein großgewachsener, schlacksiger Kerl von etwa 16 Jahren. Wie alle Jungen in diesem Alter liebte er das Waffentraining und probierte seine Kräfte bei jeder Gelegenhiet aus. Im Augenblick schmückte ihn ein ebenso dunkles Veilchen wie Alpina, von dem er stolz berichtete, dass er es sich bei einer Schlägerei zugezogen hatte.


    Die Vorstellung, schneller voranzukommen, indem sie ritten, begruben sie jedoch schnell wieder. Schon nach dem Aufsitzen war klar: Alpina konnte aufgrund ihrer Verletzungen nicht den ganzen Tag auf einem Pferderücken sitzen. Also einigten sie sich darauf, dass Ulfr sein Pferd mitführen würde. Er sollte die Nacht noch mit Alpina in der Schutzhütte auf dem Weg nach Mattiacum verbringen und dann am kommenden Tag zurückreiten.


    Ausgestattet mit Proviant für die nächsten drei Tage, machten sich Ulfr und Alpina auf ihren Weg. Der junge Mann war erstaunlich gesprächig. Im Gegensatz zu ihren bisherigen Wegbegleitern quatschte er wie ein Wasserfall. Alpina erfuhr alles mehr oder wenige Wissenswerte von der Familie, der Dorfgemeinschaft und den Freunden des Jungen. Schnell wurde ihr bewusst, dass obwohl sie nur wenige Jahre trennten, sie doch so gänzlich unterschiedlich auf das Leben blickten. Für Ulfr war das Leben ein Spiel, ein großes Abenteuer, das er in vollen Zügen genoss. Alpina hingegen hatte die Schattenseiten des Lebens schon zur Genüge am eigenen Leib erfahren müssen. In einem Dreivierteljahr würde sie Mutter sein und dann nicht mehr nur für sich allein die Verantwortung tragen müssen. Ihre Zukunft war alles andere als gesichert. Selbst wenn sie Mogontiacum heil erreichte, stand ihr noch einiges bevor. Auch wenn ihr Corvinus bei dem Geständnis, dass sie von Marcellus schwanger gewesen war, angeboten hatte, sich als "Vater" des Kindes auszugeben, löste das ihr Problem nicht wirklich. Diesmal war er der Vater, doch wollte sie überhaupt, dass er die Vaterrolle übernahm? Eine echte Partnerschaft und eine richtige Familie würden sie ohnehin nicht haben. Mit jedem Schritt mit dem sie sich Mogontiacum näherte wurde ihr mehr und mehr bewusst, wie schwer die Aufgabe war, die ihr Osrun und die Nornen gestellt hatten.
    Sie seufzte tief während Ulfr ihr die Regeln eines Spieles erklärte, das er immer mit seinen Freunden spielte.

    Brunnhild schob Alpina einen Stuhl hin und nahm sich selbst einen zweiten. Sie untersuchte Alpinas Gesicht genau und murmelte dabei einige für die Raeterin unverständliche Sätze. Es war offensichtlich, dass sie entsetzt war, wie man mit der jungen Frau umgegangen war.


    Als Alpina begann von ihrer Reise zu berichten, kam auch Brunnhilds Mann Egbert dazu. Er schüttelte mehrmals den Kopf, als sie zur Schilderung der Ereignisse in Novaesium kam. Brunnhilds Hand ergriff die ihres Gastes und streichelte sie mitfühlend. Dabei bemühte sich die Raeterin schon, die allerschlimmsten Details auszusparen. Zum Glück konnte sie sich ohnehin nicht an alles erinnern, was geschehen war. Eine entsetzte Stille kehrte im Haus des Dorfoberhaupftes ein. Egbert und Brunnhild machten sich offenbar Gedanken darüber, wie sie verhindern konnten, dass sich Norwigas Schreckensherrschaft auch auf ihr Dorf ausdehnte.


    Im Anschluss an Alpinas Schilderung machte Brunnhild Umschläge für das Auge der jungen Hebamme. Überhaupt wurde Alpina nach Strich und Faden verwöhnt. Sie bekam eine hervorragende Mahlzeit vorgesetzt und durfte in einem guten Bett schlafen. Selbst die wunden Füße versorgte Brunnhild mit einer selbstgemachten Salbe auf Schweineschmalzbasis.

    Bereits als der Morgen graute und das erste Licht des Tages wieder Konturen in das dämmrige Einheitsgrau der Hütte zauberte, verließ Alpina die Schutzhütte. Der Mann, der am vorigen Abend noch so spät gekommen war, schlief noch tief und fest.


    Die Wegstrecke würde sie bis zum späten Nachmittag entlang des Visurgis führen. An einer geeigneten Stelle machte sie halt und wusch sich. Das Gesicht spannte noch, doch immerhin konnte sie schon wieder besser sehen. Dann zog sie den Hut wieder tief ins Gesicht und schritt zügig voran. Der Weg war weit. Mittags spürte Alpina bereits, dass die neuen Sandalen an diversen Stellen rieben. Sie zog die Schuhe aus und kühlte die Füße im kalten Wasser des Visurgis. Bis zum Abend würde sie sich sicherlich Blasen gelaufen haben. Händler waren kaum unterwegs, selten ein Bauer, der sein Vieh auf eine Weide trieb. Seit der Gewaltherrschaft der Chatten schienen sich die Leute nicht mehr zu trauen, ihrem gewohnten Leben nachzugehen. Der Handel war förmlich zum Erliegen gekommen.


    Als am Spätnachmittag der Weg vom Visurgis in Richtung Melocabus abbog, zog Alpina die Schuhe endgültig aus. Den Rest der Strecke legte sie barfuß zurück.
    Am Durchlass durch den Wall der die Siedlung Melocabus umgab standen die üblichen Wachen. Die Reste des umgestürzten Baumes waren inzwischen abgetragen und weggeschafft worden. Alpina trat auf die Männer zu. Sie grübelte noch darüber nach, ob sie sich zu erkennen geben sollte oder ihre Tarnung aufrechterhalten.


    "Heida, Männer. Ich bin auf der Wanderung nach Mogontiacum und suche eine Bleibe für die Nacht. Euer Dorfoberhaupt Egbert und seine Frau Brunnhild kennen mich."


    Der misstrauische Blick des älteren der beiden Wächter hellte sich kurz auf, dann trat er näher an sie heran.
    "Kenne ich dich denn? Wie heißt du denn?", fragte er. Er zog ihr mit einer schwungvollen Bewegung den Hut vom Kopf. Angewidert von ihrem lädierten Gesicht, zog er die Augenbrauen zusammen. Er murmelte irgendetwas, das nicht erkennen ließ, ob er sie wiedererkannte. Aber er ließ sie passieren.


    Alpina steuerte das Haus des Dorfoberhauptes an und klopfte beherzt. Den Hut behielt sie in der Hand. Brunnhild öffnete. Entsetzt starrte sie Alpina an.
    "Bei allen Göttern! Wie siehst du denn aus, Kind? Was haben sie denn mit dir gemacht? Und was ist mit deinem Haar passiert? Komm rein, Alpina. Komm und erzähl mir, was dir widerfahren ist."
    Sie trat zur Seite und gab Alpina den Weg ins Haus frei.

    Aus stabilem Schilfgras fertigte sich Alpina noch einen Sonnenhut mit breiter Krämpe. Er sollte sie nicht nur vor der immer unbarmherziger vom Himmel strahlenden Sonne schützen, sondern auch die Tarnung unterstützen. Viele Wanderer trugen solche Hüte. Man würde sie nicht mehr so offensichtlich für eine Frau halten. Die Natur hatte es in dieser Hinsicht ohnehin so eingerichtet, dass Alpina eher klein und zart gebaut war, die weiblichen Rundungen also nicht übertrieben hervorstachen. Durch eine locker fallende Tunika war ihre Figur gut zu kaschieren. Den neuen Hut tief ins Gesicht gezogen marschierte sie also voran und erreichte gegen Abend die Schutzhütte.


    Nichts hatte sich seit ihrem letzten Aufenthalt geändert. Das Dach war nach wie vor zum Teil eingestürzt und der dicke Ast hing noch immer bis weit in die Hütte hinein. Alpina machte es sich im hintersten Eck bequem. Sie legte den Fellumhang aus und stärkte sich zunächst mit den mitgebrachten Vorräten. Als es dunkel wurde zog sie sich den Kapuzenmantel über und wickelte sich zum Schlafen darin ein.


    Kaum hatte sie sich eingerichtet, als sich knarzend die Tür der Hütte öffnete. Sofort war Alpina wieder wach. Die Gestalt, die hereinkam, trug gleichfalls eine Rückentrage und einen Hut. Der Statur und dem Bewegungsverhalten nach war es ein Mann. Alpina bekämpfte die aufkeimende Angst. Sie griff nach ihrem Hut und setzte ihn wieder auf. Dann verstellte sie die Stimme und murmelte möglichst tief einen Gruß. Der Neuankömmling erwiderte ihn und legte seine Sachen nieder. Zum Glück schien er nicht eben gesprächig und wohl auch schon recht müde zu sein. Denn er suchte sich einen Schlafplatz und rollte sich dort in seinen Mantel ein. Bereits kurz darauf hörte Alpina tiefe schnarchende Atemzüge.

    Sie verließ das Gasthaus und machte sich auf den Weg durch die Gassen der Stadt. Tatsächlich fand Alpina nicht weit entfernt einen Laden der Kleidung verkaufte. Die Händlerin musterte die junge Frau misstrauisch als Alpina von ihr eine Hose und eine kurze Männertunika kaufen wollte. Doch achselzuckend taxierte sie die Maße der Raeterin und hielt ihr zwei Exemplare hin. Alpina entschied sich für die unauffälligere von beiden, die in einem hellbraunen Naturwollton gewebt war. Eine dazu passende kurzärmlige Tunika war schnell ausgesucht. Alpina feilschte nur kurz, dann zahlte sie und packte beides in ihre Rückentrage.
    Direkt um die Ecke fand sie dann auch einen Schuster, der ihr ein Paar neue Sandalen verkaufte. Das Leder war weich und fest. Nach einer Eingewöhnungsphase würden sie ihr sicher gut passen. Auch bei den Schuhen einigte man sich schnell auf einen fairen Preis. Alpina behielt die Sandalen gleich an.


    Die Sonne stand nun schon hoch am Himmel. Es war an der Zeit, sich auf den Weg zu machen. Am Holztor der Siedlung verlangte Alpina von den Torwächtern ihren Dolch zurück. Zunächst verweigerten sie die Herausgabe. Nach einem Blick auf Alpinas zugeschwollenes Auge fanden sie sich dann jedoch bereit, ihr den Dolch auszuhändigen. Sie steckte ihn in den Gürtel und machte sich auf den Weg.


    Als sie das Ufer des Visurgis erreichte, und weit und breit kein anderer Wanderer zu sehen war, hob Alpina die Rückentrage von den Schultern. Sie schlüpfte aus der Frauentunika und in die Männerkleidung. Dann beugte sie sich über das Ufer des Flusses und versuchte in einem Seitenarm, wo das Wasser still lag, ihr Spiegelbild zu erkennen. Der Anblick war alles andere als schön. Das zugeschwollene Auge, die Hämatome auf der gesamten linken Gesichtshälfte, vor allem aber unter dem linken Auge, dazu die zerzausten Haare... in Mogontiacum hätte sie so niemand wiedererkannt.


    Alpina holte den Dolch aus dem Gürtel und nahm eine erste Haarsträhne in die Hand. Es schmerzte sie, sich von ihren langen Haaren zu trennen. Langes Haar war ein Statussymbol. Eine Frau trug langes Haar als Zeichen ihres Standes, als Symbol für Wohlstand, Gesundheit und Vitalität. Kurzes Haar hatten höchstens Sklaven und entrechtete Frauen. Es kam einem Ehrverlust gleicht. Doch wenn sie sich und das Kind in ihrem Leib sicher bis Mogontiacum bringen wollte, dann musste sie Opfer bringen. Sie atmete tief durch und schnitt die Strähne auf kinnhöhe ab. Mit dem restlichen Haar verfuhr sie ebenso.
    Der Blick in den Fluss offenbarte die Veränderung.

    Alpina stand auf. Es schien tatsächlich so als wenn Norwiga sie einfach gehen ließ. Über Nacht war der Germanin zwar offenbar bewusst geworden, dass Alpina sie geschickt manipuliert hatte, doch das einzige das zählte, war dass sie frei war. Sie hatte ihr Leben und das des Ungeborenen gerettet. Zumindest für´s erste. Also nickte sie demütig auf den Ratschlag hin, sich als Frau unkenntlich zu machen. Das war sicher kein falscher Gedanke, wenn sie weiterhin alleine reisen musste.


    Mit gesenktem Haupt dankte Alpina der Anführerin der Chatten.
    "Ich möchte dir nocheinmal dafür danken, dass du mich vor deinen Kriegern gerettet hast. Ohne dein Eingreifen stünde ich vermutlich jetzt nicht hier. Komm mich in meiner Taberna Medica besuchen - jederzeit - und ich werde sehen, wie ich ein Treffen mit Titus Petronius Marcellus arrangieren kann. Ich glaube nicht, dass er sich einer Bitte zu einem Treffen mit mir verweigern würde, ich habe noch etwas gut bei ihm. Du könntest dann einfach dazukommen. Gib mir ein wenig Zeit, es einzufädeln. Da ich dich aber schlecht erreichen kann, musst du bitte den Weg zu mir machen. Hab Dank und lebe wohl, Norwiga."


    Sie senkte den Kopf noch tiefer, um ihren demütigen Dank mit einer Geste zu unterstreichen. Dann zog sie den Mantel eng um den nackten Leib und schlüpfte aus dem Haus.


    Noch war es sehr ruhig auf den Gassen der Siedlung. Alpina hastete barfuß zum Gasthaus des Berengar. Mit gesenktem Kopf damit man ihre Verletzung nicht sofort sehen konnte, schlich sie sich an dem Wirt vorbei auf ihre Kammer. Mit klopfendem Herzen schloss sie die Tür hinter sich und lehnte sich an die Tür. Vor ihr lag das unberührte Bett. Statt in diesem teuer bezahlten bequemen Zimmer hatte sie die vergangene Nacht auf dem matschigen Boden eines Pferchs, dem blutbesudelten Tisch der Folterknechte und dem harten Boden von Norwigas Unterkunft verbracht. Das Wichtigste aber war, dass sie überlebt hatte.
    Zitternd legte Alpina den Mantel ab und begann sich akribisch zu waschen. Sie fühlte sich verdreckt, beschmutzt und unrein. Selbst große Mengen des kalten, klaren Wassers halfen nicht wirklich dieses Gefühl loszuwerden. Dennoch zog sie irgendwann eine Tunika aus ihrer Rückentrage und über den Kopf. Sie dachte über Norwigas Rat nach. Vielleicht sollte sie sich eine Hose und eine kurze Tunika holen und sich die Haare abschneiden, um nicht sofort als Frau erkannt zu werden?
    Nachdem sie in der vergangenen Nacht eine Tunika und ihre Schuhe eingebüßt hatte, musste Alpina ohnehin in der Siedlung nach neuer Kleidung suchen, dabei konnte sie sich nach unauffälliger Kleidung für die weitere Wegstrecke umsehen. Wenn sie bis Mittag fertig war, würde sie vermutlich die Schutzhütte, in der sie mit Othmar und seinen Begleitern genächtigt hatte noch vor Einbruch der Dunkelheit erreichen können.


    Mit einem letzten wehmütigen Blick auf das unbenutzte Bett hob sich Alpina die Rückentrage auf die Schultern und verließ das Gasthaus.

    Als der Morgen anbrach und sich die Anführerin der Chatten aufsetzte, rappelte auch Alpina sich vom Boden hoch. Das linke Auge war bis auf einen schmalen Spalt gänzlich zugeschwollen und ab dem Nabel abwärts fühlte sich Alpinas ganzer Körper wund an. Die vor Angst verkrampften Muskeln hatten einen Kater, Hämatome überzogen die Schenkel. Sie schloss den Mantel, um ihre Blöße und die Verletzungen zu bedecken. Norwiga hatte bereits wieder ihr Schwert in der Hand. Alpina fragte sich, ob sie es überhaupt während der Nacht aus der Hand gelegt hatte.
    Als die Kriegerin sie neugierig musterte, wagte es Alpina sie anzusprechen.


    "Darf ich jetzt gehen?"

    Erstaunt stellte Alpina fest wie leichtgläubig und naiv Norwiga eingentlich war. Nach außen hin die starke, martialische Kämpferin, aber wenn es um Herzensangelegenheiten ging, war sie doch relativ leicht zu packen. Doch Alpina blieb vorsichtig. Noch war sie nicht frei, noch trennte sie eine Nacht von der in Aussicht gestellten Freilassung. Jederzeit konnte die Anführerin der grausamen Krieger ihre Meinung ändern oder ein falsches Wort einen Stimmungswandel auslösen. Also zwang sich Alpina die Chattin anzuächeln.


    "Ich danke dir für dein Vertrauen und deine Großzügigkeit, Norwiga. Mir ist bewusst, dass ich mich an mein Wort halten muss."


    In den geliehenen Mantel gehüllt rollte sich Alpina erneut am Boden zusammen. Sie wünschte sich nichts mehr, als dass diese Nacht schnell vorüber ging. Doch statt zu schlafen wälzte sie Überlegungen, wie sie es wohl anstellen könnte, ihr Versprechen zu halten. Denn dass Norwiga den Weg zu ihr finden würde, stand für Alpina außer Frage. Sie würde zwar nur unbewaffnet das Stadttor passieren dürfen, doch so wie die Kriegerin gebaut war, wäre es mit Sicherheit ein Leichtes für sie, Alpina mit bloßen Händen zu erledigen. Ihr musste also eine Lösung einfallen, wie sie Marcellus zu einem Treffen mit der Anführerin der Chatten bewegen konnte. Zum Glück würde sie einige Wochen Zeit haben, einen Plan auszuhecken, bis sie wieder in Mogontiacum war. Vorausgesetzt alles lief nach Plan und sie würde nicht gleich den nächsten üblen Gesellen in die Arme laufen. Wo sie doch ohne ihre Reisebegleiter vollkommen ungeschützt war.

    Es war nur zu offensichtlich, dass Norwiga sich in Marcellus verschossen hatte. Was die Germanin so gar nicht verstand, war die Gesellschaftsstruktur der römischen Städte und das ausgeprägte Standesdenken. Ihr war ganz offensichtlich nicht bewusst, dass ein Mann wie Marcellus, der eine Karriere in der Verwaltung der Provinzhauptstadt und später womöglich noch in der Legion anstrebte, dessen Onkel im Ordo Decuriorum ein wichtiges Amt bekleidet hatte, sich niemals ernsthaft mit einer chattischen Kriegerin einlassen würde. Alpina hatte selbst erfahren, dass sie als Peregrina nicht für eine ernsthafte Beziehung mit Marcellus infrage kam. Aber eines erkannte Alpina in dieser träumerischen Beschreibung. Norwiga hatte ein intensives Interesse an Marcellus und sie würde versuchen das auszunützen. Vielleicht war es ihre Chance, der Gefangenschaft zu entkommen.


    "Weißt du was, Norwiga? Ich kenne Marcellus. Nicht sehr gut, aber gut genug, um vielleicht ein Treffen mit ihm für dich zu arrangieren. Wenn du mich freilässt, kann ich nach Mogontiacum zurüchgehen und versuchen, ihn für dich zu gewinnen. Was hältst du davon?"

    Betreten schwieg Alpina. Natürlich konnte sich eine mächtige Frau und starke Kriegerin wie Norwiga selbstbewußt die Männer aussuchen, die bei ihr lagen. Sie hatte weder auf Konventionen noch auf ihren Ruf zu achten, wie Alpina. Aber war das Liebe? Das was Norwiga beschrieb war Sex.
    Das war nicht das, was sich Alpina erhoffte. Sie war nicht auf der Suche nach einem Partner für eine Liebesnacht, das hatte sie bereits zweimal erlebt... auf sehr unterschiedliche Weise. Was Alpina eigentlich suchte, war das Gefühl dahinter, diese Gewissheit, dass man füreinander da sein wollte, miteinander durch dick und dünn zu gehen und sich eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Das was Corvinus mit Alwina verbunden hatte...wirkliche Sehnsucht und Hingabe. Das war in es ihren Augen, was echte Liebe ausmachte. Nicht eine schnelle Nummer mit irgendeinem Kerl, nur weil man ihn "haben konnte".


    "Träumst du nicht manchmal von echter Liebe mit einem Partner, der ein Leben lang an deiner Seite bleibt?", fragte sie vorsichtig.

    Zweifelnd sah Alpina die Germanin an. Sie konnte sich Norwiga weder mit dickem Schwangerenbauch noch mit einer tobenden Kinderschar vorstellen. Darüber, ob Marcellus ihre "wilde Liebe" durchalten würde, konnte sie sich keine Meinung bilden, dafür war das eine Mal im Garten eindeutig zu kurz gewesen. Was Alpina der Anführerin der Chatten aber hätte sagen können, war, dass ihr "Schnuckelchen" durchaus potent und zeugungsfähig war. Sie selbst hatte es ja schließlich am eigenen Leib erfahren. Doch Alpina war klug genug, sich diese Bemerkung zu sparen. Zumal Norwiga nun wieder begann akribisch die Klinge ihres Schwertes zu schärfen.
    Stattdessen konzetrierte sich Alpina auf die Frage, die Norwiga ihr stellte. Sie setzte sich auf und zog den Mantel enger um ihren Leib. Tiefe Melancholie war in ihren Augen lesbar, als sie antwortete.


    "Ich hatte bislang nicht sehr viel Glück in der Liebe. Zumindest was die Bereitschaft meiner Partner sich zu binden angeht. Das ist auch der Grund, warum ich mich alleine in diese Region aufgemacht habe. Ich kann dir nur raten, sei vorsichtig bei der Wahl deiner Partner, Norwiga! Einmal schwanger kannst du nur das Kind austragen, mit allen persönlichen und gesellschaftlichen Folgen für dich oder es töten..."

    Natürlich war es Marcellus, die Beschreibung ließ keinen Zweifel offen. Der Mann mit dem "netten Gesicht mit zwei intensiven Augen die einen träumerischen Eindruck" vermittelten... ja, genau der war es, auf den auch Alpina reingefallen war. Der harmlos und träumerisch wirkende Marcellus...


    Am liebsten hätte sie Norwiga entgegengeschrien, dass ihr süßer, kleiner Römer mit dem verträumten Blick sie geschwängert und dann sitzen gelassen hatte. Alpina war gerade recht gewesen, um im Garten über sie herzufallen und ihr nur wenig später zu offenbaren, dass sie ja leider nicht die "gute Partie" war, die ein Petronier mit nach Hause bringen durfte...


    Nur mit Mühe konnte Alpina sich zurückhalten. Doch ihr Blick und ihre Körperhaltung hatten wohl schon zuviel ausgesagt. Norwigas Stimme wurde erst laut und misstrauisch, dann richtete sie ihr Schwert auf die Raeterin. Die Wut in den Augen der Kriegerin ließ Alpina erschaudern. Wie schon der blutige Lappen sprach ihr Blick eine deutliche Sprache. Sie würde wohl nicht lange zögern, ihr Schwert zu benutzen, wenn ihr nicht gefiel, was sie zu hören bekam. Also versuchte Alpina alle Gefühle aus ihrer Stimme zu verbannen und so neutral wie möglich zu klingen als sie sprach.


    "Nun, so wie du ihn beschreibst, und das deckt sich auch mit meiner Erinnerung, war dieser Kunde Titus Petronius Marcellus. Er war ein Jahr lang Magister Vici des Vicus Apollinensis, in dem auch meine Taberna Medica steht. So viel ich weiß, hat er gerade für das Amt des Aedils kandidiert als ich Mogontiacum verließ."

    Es war deutlich, dass Norwiga die Raeterin ebenfalls wiedererkannte. Sie platzte dann auch sofort mit der dazugehörigen Erinnerung heraus. Richtig, die Germanin war in der Taberna Medica gewesen. Sie hatte allerdings weit weniger martialisch ausgesehen. Alpina erinnerte sich auch, dass sich Norwiga seltsam verhalten hatte. Sie war vor ihrem Tresen gestanden und hatte dann aber auf Anfrage keinen Wunsch geäußert, sondern war verschwunden als der nächste Kunde erschienen war.


    Die Vokabel "süß" klang äußerst eigenartig aus dem Mund einer solchen Frau. Wer war der Mann gewesen, den sie als "kleinen, süßen Römer" bezeichnete? Alpina versuchte sich an den Kunden zu erinnern, der etwa gleichzeitig mit Norwiga die Taberna Medica betreten hatte. Corvinus war es sicher nicht gewesen. Die Adjektive "klein und süß" passten so gar nicht auf ihn, ebensowenig auf Petronius Crispus... beim Gentilnomen Petronius ging Alpina dann aber doch ein Licht auf: Marcellus! Es war Marcellus gewesen. Ihre erste Begegnung mit ihm, der Anfang all dessen, das sie gerade bei Osrun versucht hatte abzuschließen.


    Alpina atmete tief durch. Es war offensichtlich, dass sich Norwiga für Marcellus interessierte. Jetzt bloß keinen Fehler machen! schoss es Alpina durch den Kopf. Sie musste extrem vorsichtig sein, was sie sagte, weder die Eifersucht der Kriegerin noch ihren Unmut riskieren. Schließlich wollte sie keine nähere Bekanntschaft mit deren Schwert machen. Ausweichend antwortete Alpina:
    "Ich habe sehr viele Kunden gehabt, Norwiga. Ich bin mir nicht sicher, ob wir vom selben Mann sprechen...vielleicht kannst du ihn mir ein wenig näher beschreiben. Was war denn so süß an ihm?"

    "Norwiga" wiederholte Alpina den Namen. "Ein schöner Name für eine außergewöhnliche Frau."


    Ihr Blick fiel auf das Schwert, das Norwiga eben noch geschärft hatte und auf den blutgetränkten Lappen, mit dem sie die Klinge gereinigt hatte. Keinen Moment durfte sie diese Frau aus den Augen lassen und kein falsches Wort sagen. Ihr Leben hing nun von ihr ab.


    Alpina betrachtete die Anführerin der Chattenkieger von der Seite. Sie kam ihr bekannt vor. Hatte sie Norwiga auf ihrer Reise durch das freie Germanien schon zuvor gesehen oder kannte sie sie von früher? Aus Mogontiacum?
    Ihre Blicke trafen sich. War da nicht auch der Funke des Erkennens in Norwigas Blick?

    Alpina hatte sich soweit aus ihrem Körper zurückgezogen, dass sie nicht wahrnahm, was um sie herum geschah. Sie hörte weder Norwigas Befehl, noch nahm sie wahr, wie der geköpfte Harald über ihr zusammenbrach. Dass man sie forttrug und an einem anderen Ort wieder niederlegte, wurde ihr ebensowenig bewusst wie die darauffolgende fürsorgliche Reinigung durch die Anführerin der Chatten. Erst als Norwiga fertig war und ihr sanft durch die Haare fuhr, erlaubte Alpina ihrem Selbst wieder Sitz in ihrem Körper zu nehmen. Langsam, Schritt für Schritt kam sie zu sich.


    Ihre linke Gesichtshälfte und die Innenseiten ihrer Oberschenkel schmerzten. Sie konnte erahnen, dass sie in beiden Körperregionen Hämatome davontragen würde. Dennoch schien sie soweit lebendig und einigermaßen intakt zu sein. Alpina schlug die Augen auf. Vor ihr kniete eine beeindruckende Frau. Sie war groß und kräftig. Ihre muskulösen Arme waren von zahlreichen Kämpfen gestählt. Ihr Blick verriet, dass sie sich ihrer Macht durchaus bewusst war, wenn sie auch im Augenblick eher einen besorgten Eindruck machte.
    Alpinas Augen suchen den Raum ab. Waren dort im Hintergrund nicht noch irgendwelche von den Kerlen, die sie gedemütigt hatten? Angst kroch in ihr hoch. Sie war noch lange nicht in Sicherheit. Doch nachdem alles ruhig blieb, wandte sie ihren Blick wieder der Frau vor ihr zu.


    "Wer bist du?", fragte sie leise.

    Mit wachsendem Unbehagen und aufkeimendem Zorn auf ihre Peiniger hörte Alpina die Worte der Germanin Helga. Ihr Rat, sich so ruhig wie möglich zu verhalten und praktisch unsichtbar zu werden, hallte in ihrem Kopf nach. Doch selbst dieser wohlgemeinte Rat erwies sich als wenig hilfreich, denn es dauerte nicht lange, bis Haralds Stimme nach Alpina verlangte.


    Doch was jetzt geschah, war schon fast unglaublich. Die geschundene Helga opferte sich für Alpina. Sie schien über seherische Fähigkeiten zu verfügen, denn obwohl Alpina es mit keinem Wort erwähnt hatte, wusste sie, dass Alpina schwanger war. Als sie dann auch noch Osruns Namen nannte, konnte Alpina nur noch an ein Wunder glauben. Helgas mutiger Versuch endete jedoch schrecklich. Ihre Provokation Haralds schlug fehl, der narbige Wächter überließ die arme Frau seinen Schergen. Es war bereits zu dunkel, als dass man die abscheulichen Taten der Männer hätte sehen können. Dafür hörte man Helgas Schreie. Alpina erstarrte, sie hielt sich die Ohren zu und betete zu allen Göttern, sie mögen Helga retten.


    Die auf die Schreie folgende Stille ließ keinen Zweifel zu: Helga hatte ihr Leben ausgehaucht. Als diese Gewissheit zu Alpina vordrang, stand Harald bereits vor ihr. Mit einer unglaublichen Brutalität zog er sie an den Haaren aus dem Pferch. Alpina wollte sich wehren, ihm ins Gesicht schreien, dass sie das Kind eines römischen Centurios unter dem Herzen trug, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Wild zuckten die Gedanken durch ihren Kopf. Wie würde sie sich und das Ungeborene wohl am ehesten retten können? Sie hatte Osrun doch verspochen, alles dafür zu tun, damit dieses Kind am Leben blieb.
    So wie sie diesen Harald einschätze, würde ihn jede Gegenwehr vermutlich erst recht zu weiteren Grausamkeiten anspornen.


    Viel Zeit für Überlegungen blieb Alpina ohnehin nicht. Harald riss ihr die Kleider vom Leib und warf sie unbarmherzig auf den Tisch auf dem zuvor Helga gelitten hatte. Die Tischoberfläche war feucht und klebrig und als Alpina sie mit den Händen berührte, fasste sie in Blut. Über ihr erschien das entstellte Gesicht des Wächters, seine Schergen johlten und feuerten ihn an. Er schien sich an Alpinas Angst zu weiden.
    Sie bot alle Willenskräfte auf über die sie verfügte und trennte ihre Seele vom Körper. Ihren Leib überließ sie Harald, die Seele schickte sie an ihren Ruheort, den Teich der Hulda. So gelang es ihr die Schmerzen auszublenden.

    Alpina ahnte nichts von einer Ausgangssperre. Der Wirt hatte sie nicht vorgewarnt als sie das Gasthaus verlassen hatte. Es war bestimmt keine Absicht gewesen, vermutlich hatte er sich noch nicht an das neue Regime gewöhnt.
    Im weniger werdenden Tageslicht, bog Alpina um die Ecke. Es war nicht mehr weit bis zu jenem Laden, in dem sie die Haarnadeln gekauft hatte. Plötzlich kam ihr eine ganze Gruppe germanischer Männer entgegen, die sie nicht nur grimmig anstarrten, sondern die sie sofort aggressiv angingen. Auf die Frage nach ihrem Namen brauchte sie nicht antworten. Einer der Männer war zuvor am Eingangstor gewesen, als sie die Siedlung betreten hatte, er erinnerte Alpinas Namen. Doch auf die Frage, was sie zu dieser Zeit im Freien machte, hatte Alpina keine passende Antwort.


    "Warum? Ist es nicht erlaubt um diese Zeit draußen zu sein?", fragte sie verunsichert.


    Doch das schien nicht das einzige Problem zu sein. Schlimmer war die Tatsache, dass Alpina aus Mogontiacum kam. Das machte sie natürilich verdächtig, eine Spionin zu sein. Sie biss sich auf die Lippen. Wie hätte sie ahnen können, dass ihre Ehrlichkeit ihr zum Verhängnis werden würde.
    Die nächste Anschuldigung kam von einem Hühnen von Mann, dessen gnadenloser Blick Alpina erschaudern ließ. "So, so eine Römerschlampe und wie ich sehe auch eine Spionin, du kommst mir gerade recht. Du bist also eine römische Spionin, nicht wahr?",
    Im selben Augenblick, in dem er sie als Spionin bezeichnete, holte er auch schon aus und schlug sie so heftig ins Gesicht, dass sie hintenüber auf den Boden stürzte. Unfähig sich aus eigener Kraft aufzurappeln, zogen die Germanen sie hoch. Einer von ihren schulterte die Wehrlose und trug sie zu einem eingezäunten Bereich. Alpina nahm das gar nicht so richtig wahr. Sie war noch zu benommen von dem Schlag.


    "Harald hier hast du eine römische Spionin, die Schlampe dürfte dir und den anderen viel Spaß bereiten."
    Die Stimme des Schlägers drang zu Alpina durch. Sie konnte den Mann namens Harald weniger sehen als spüren. Er umfing sie sofort von hinten her mit mächtigen Armen. Grobe Hände machten sich an ihren Brüsten zu schaffen und ließen auch sonst keinen Zweifel, worin der Spaß bestehen würde, den man ihr ankündigte. Die Drohung, sie den anderen Kriegern zu überlassen, wenn sie ihm nicht das gewünschte Vergnügen bereiten würde, ließ Alpina ebenso verzweifeln wie sein fieses Lachen.


    Kaum hatte er sie in dem Pferch bei den anderen Gefangenen losgelassen, sackte Alpina in sich zusammen. Hatte die Angst den Schmerz und die Verzweiflung eben noch im Zaum gehalten, so wurde Alpina nun endgültig bewusst in welch schrecklicher Lage sie sich befand. Sie hatte nicht einmal Geld bei sich, das sie diesem Harald anbieten konnte, damit er sie freiließ oder zumindest verschonte. Warum war sie nicht bei Osrun geblieben? Hatte sie das nicht vorhersehen können, die weise Seherin? Oder hatte sie Alpina nur eine weitere Herausforderung geschickt, die sie bestehen musste? Blieb ihr denn gar nichts erspart?


    Während Alpina mit ihrem Schicksal haderte, kroch eine Gestalt an sie heran. In dem wenigen Licht, das der Mond hinter dem bewölkten Abendhimmel bot, erkannte sie eine Frau, die übel zugerichtet worden war. Zunächst zuckte Alpina zurück, unsicher was sie von dieser Frau zu halten hatte, doch nachdem sie ihren Namen gesagt und ihr eine Vorstellung von den Gräueltaten gegeben hatte, die auch Alpina erwarteten, fasste sie Vertrauen.


    "Heilsa, Helga. Mein Name ist Alpina. Haben sie dich auch als Spionin verhaftet? Werfen sie dir auch vor mit den Römern gemeinsame Sache zu machen?"


    Mit tiefem Mitleid sah sie der Frau in die verschwollenen Augen und betrachtete ihre Wundmale. Sie wollte gar nicht danach fragen, was genau die Chatten mit ihr angestellt hatten.