Wie jeden Morgen holte Alpina auch an diesem Tag mit der Kanne Wasser aus dem Teich vor Osruns Hütte. Doch bevor sie das eiskallte Nass aus dem Teich schöpfte, verharrte sie einige Zeit am Ufer. Ihr Blick fiel auf die allmorgentlichen Nebel, die das Grün des Waldes verschleierten, auf die Wasseroberfläche, die sich sanft im Wind kräuselte und auf das hinter dem Teich sichtbare Bergmassiv. Sie würde diesen morgentlichen Anblick vermissen. Auch wenn sie nur wenige Tage Gast von Osrun gewesen war, fühlte es sich an wie eine halbe Ewigkeit. Sie war eine Andere geworden, in diesen Tagen. Die Begegnung mit Osrun, der weißen Frau und Alwina hatten ihr weitreichende Erkenntnisse verschafft. Sie war froh, dass sie sich auf die weite, gefahrvolle Reise gemacht hatte. Ihre Inuition hatte sie nicht betrogen. Sie hatte gewusst, dass ihr hier geholfen werden konnte.
Schweren Herzens schöpfte sie das Wasser und kehrte zur Hütte zurück. Heute würde sie dieses Refugium, dieses Ruhezentrum in einer grausamen Welt, verlassen müssen.
Schweigend frühstückten die beiden Frauen. Nach dem Abwasch machte sich Alpina daran ihre Rückentrage zu packen. Als sie ihre Kleidung einräumen wollte, fiel ihr Blick auf die Haarnadel, die sie in Novaesium als Geschenk für Osrun gekauft hatte. Sie legte das Geschenk beseite und schichtete dann ihre Habseligkeiten hinein. Anschließend verschnürte sie Runas Fellumhang auf der Rückentrage. Tagsüber war es eindeutig zu warm für ihn.
Als sie die Rückentrage auf ihre Schultern wuchtete und sich umdehte, war Osrun nicht da. Die Tür der Hütte stand offen. Man konnte den Teich sehen. Dort, an der einfachen Bank stand die alte Frau und blickte auf die Wasserfläche hinaus.
Alpina trat zu ihr.
"Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Osrun. Zwar habe ich in einem Laden in Novaesium eine Haarnadel für dich gekauft, aber ich schäme mich fast, dir so einen einfachen, unbedeutenden Tand zu schenken. Was du mir gegeben hast, die Wahrheiten, die ich durch dich erfahren habe, sind unbezahlbar. Sie haben mich verändert, haben einen anderen Menschen aus mir gemacht."
Lächelnd nahm Osrun die Haarnadel aus Alpinas Hand entgegen.
"Du hast an mich gedacht, das allein zählt. Und glaube mir Alpina: auch ich habe durch deinen Besuch gelernt. Wir gehen jedes Mal weiser auf unserem Lebensweg voran, wenn zwei Herzen miteinander gesprochen haben. Es ist ein ständiger Austausch, ein Geben und Nehmen. Du stehst nicht in meiner Schuld."
In einer mütterlichen Geste zog Osrun Alpina an ihre Brust, drückte sie fest an sich. Eine Weile lang standen sie so am Ufer des Holle-Teiches, dann löste die alte Frau die Umarmung auf.
"Es ist Zeit für dich zu gehen. Ich wünsche dir alles erdenklich Gute auf deiner Reise und deinem weiteren Lebensweg."
Mit diesen Worten zog sie die Spindel aus der Tasche und begann sie geschwind zu drehen. Der Faden tanzte auf und ab. Dazu lächelte Osrun ein feines Lächeln. Sie wirkte wie entrückt, nicht wie von dieser Welt.
"Leb wohl, Osrun", hauchte Alpina.
***
Der Rückweg nach Novaesium kam Alpina kürzer vor als der Hinweg. Wenn sie sich umdrehte schien der Berg mit dem Teich und Osruns Hütte schell an Höhe abzunehmen und in weite Ferne zu rücken. Alpina schritt zügig voran. Sie erreichte die Brücke über den Visurgis am späten Nachmittag. Wie schon bei ihrer Ankunft mit den Pelzhändlern, standen drei grimmige Wachleute am Holztor der Siedlung. Sie musterten Alpina von oben bis unten.
Heilsa! Wer bist du und was willst du hier?
Alpina hielt den musternden Blicken stand.
"Mein Name ist Susina Alpina, ich bin auf der Heimreise nach Mogontiacum und suche eine Bleibe für die Nacht."
Das Wort Heimreise wollte ihr nur mühsam über die Lippen kommen. Noch vor einigen Wochen, als sie den Pelzhändlern in der Mansio begegnete, hatte sie Othmar versichert, dass sie kein Zuhause mehr hatte. Tatsächlich fühlte es sich auch noch so an. Das Wort vermittelte kein heimeliges Gefühl, keine Sehnsucht.
Einer der Männer löste sich aus der Gruppe und trat an Alpina heran. Sein misstrauischer Blick verriet, dass er noch nicht zufrieden war.
Ich möchte in deine Rückentrage sehen. Mach sie auf!
Ohne zu zögern folgte Alpina dem Befehl. Sie nahm den Fellumhang herunter und öffnete die Trage. Mit seinen groben Händen wühlte der Torwächter in ihren Sachen. Dann nickte er. Als sein geübter Blick jedoch den Dolch sah, den sie am Gürtel trug, verengten sich seine Augen zu Schlitzen.
Du trägst einen Dolch! Den musst du uns geben.
Alpinas Hand zuckte unwillkürlich zu ihrem Dolch. Gerade jetzt, wo sie alleine und ohne Begleiter unterwegs war, sollte sie ihn aushändigen?
"Und wie soll ich mich dann verteidigen, wenn mich jemand angreift?", fragte sie zurück.
Was glaubst du, wofür wir hier stehen und Waffen einsammeln? Damit dich keiner in dieser Siedlung angreifen kann. Her damit!
Der Tonfall duldete keine Widerrede. Alpina händigte dem Mann ihren Dolch aus. Zufrieden nickte er. Dann traten auch die beiden anderen Torwächter beiseite. Alpina konnte Novaesium betreten.
Sie schlug den Weg zu dem Gasthaus des Berengar ein. Dort wollte sie Quartier nehmen. Der Gastwirt erkannte Alpina und sie hatte Glück: er ließ sich erweichen, ihr eine Kammer für sich alleine zu geben. Sie entlohnte ihm dieses Entgegenkommen entsprechend.
Nachdem sie ihre Rückentrage in der Kammer abgelegt hatte, begab sich Alpina auf die Straßen der Siedlung. Sie wollte die Frau aufsuchen, die ihr den Weg zu Osrun gewiesen hatte und ihr nocheinmal danken. Es wurde schon dämmrig und Alpina musste sich beeilen, wenn sie nicht in die Dunkelheit kommen wollte.