Es war nur zu offensichtlich, dass sich alle recht gut verstanden. Die Gespräche plätscherten dahin und Alpina tat sich zunehmend schwer, die verschiedenen germanischen Dialekte zu verstehen. Aus dem angestrengten Lauschen wurde Teilnahmslosigkeit. Hildrun schien das zu bemerken. Als Alpina sich satt zurücklehnte, bot sie ihr an, mit in ihr Haus zu kommen, um den wieder genesenen Wolfhart zu besuchen. Alpina nickte und stand auf. Hildrun entschuldigte beide bei der Tischgesellschaft und nahm Alpina mit sich.
Sie überquerten den kleinen freien Platz vor dem größten Haus. Das Haus der Heilerin lag deutlich abseits der anderen, direkt am Waldrand. Eigenartige hölzerne Pfähle mit einfachen geschnitzten Gesichtern schmückten einen Weidenzaun, der ihr Grundstück umgab. Obwohl es schon dunkel war, erkannte Alpina neben dem Pfad, der zu dem einfachen Flechtwerkhaus führte, einige ihr bekannte Heilpflanzen. Über der Tür des Hauses baumelte ein Bund aus Heilkräutern und Blumen.
Das Innere des kleinen Hauses erinnerte Alpina an das Langhaus ihrer Großeltern. Von den Dachbalken des schilfgedeckten Daches hingen zum Trocknen aufgehängte Kräuterbuschen, ähnlich dem vor der Tür, doch einzeln nach den verschiedenen Kräutern sortiert. Die Regale an den Wänden enthielten diverse Gefäße mit heilenden Substanzen. Fast wie in Alpinas Taberna medica.
Erst beim genauen Hinsehen, erkannte Alpina, dass vor der Feuerstelle ein Mann saß. Er drehte sich neugierig um, als die beiden Frauen das Haus betraten. Geschwind sprang er auf. Vor dem roten Schein des Feuers hatte seine bärengleiche Statur etwas Dämonisches. Alpina erschrak, doch Hildrun schob sie lächelnd vorwärts.
"Du brauchst keine Angst haben. Das ist Wolfhart. Er ist sanft wie ein Lamm, wenn man nichts im Schilde führt."
Alpina schritt nun beherzt auf den Mann zu. Sie streckte ihm die Hand entgegen.
"Heilsa, Wolfhart. Ich bin Alpina, Hebamme und Kräuterfrau aus Raetia. Hildrund möchte mir von deiner Heilung erzählen und ich hoffe, einiges von ihr lernen zu können. Ich hoffe, es macht dir nichts aus?"
Wolfhart brummte etwas, das nach Zustimmung klang. Alpina und die Heilerin setzten sich. Dann erzählte Hildrun, dass Othmar und Hrothgar ihren Begleiter bei ihr abgeliefert hätten, weil er seit Wochen unter Verdauungsbeschwerden und Durchfall gelitten hatte. Er war zunehmend abgemagert und hatte an Kraft eingebüßt. Die beiden Pelzhändler hatten sich Sorgen um den Freund gehmacht. Hildrun hatte ihn untersucht und die Götter befragt. Dann hatte sie die Antwort erhalten, dass Wolfhart von Würmern befallen war. Sie hatte einen speziellen Sud aus Eibe hergestellt und dem Germanen zum Trinken gegeben. Tatsächlich war er schon bald von den Plagegeistern befreit gewesen. Doch um seine Widerstandkräfte aufzubauen hatte sie noch einge andere Tränke hergestellt.
Interessiert lauschte Alpina. Auch sie kannte die Eibe, doch hatte sie ihre Mutter immer wieder davor gewarnt, dass dieser Baum giftig sei. Alpina fragte Hildrun danach.
Die Germanin lächelte weise.
"Nun, wenn man ihn falsch einsetzt und die Götter nicht um Mithilfe bittet, dann mag der Sud durchaus Schaden anrichten. Die Eibenrune Ihwaz ist ein Schicksalsrune, sie stellt den Kontakt zum Reich der Hel her... doch wie du siehtst, richtig eingesetzt, wirkt die Eibe Wunder. Nun erzähle du mir, wie du Wolfhart geholfen hättest."
Alpina versuchte die Informationen zu speichern. Sie dachte kurz nach.
"Nun, ich hätte vermutlich Ulmenrinde benutzt oder aber einige Löffel Walnussöl."
Hildrun lächelte. "Oh ja, Ulme ist gut. Die kenne ich auch. Hast du gute Erfahrung bei Würmern damit?"
Alpina nickte. "Ja, schon. Und dann gibt es noch die Möglichkeit auf den Granatapfel zurückzugreifen. Aber das kommt hier im freien Germanien wohl kaum infrage. Selbst bei uns ist er nicht leicht aufzutreiben und dazu sehr teuer. Aber die griechischen Ärzte schwören auf seine Wirkung."
Hildrun kannte den Granatapfel nicht. Sie konnte sich nicht vorstelllen, wie diese Frucht aussah, auch wenn Alpina geduldig versuchte, es ihr zu beschreiben.
Die beiden Frauen fachsimpelten lange Zeit über die Verwendung von Baumrinden und Baumsäften in der Medizin. Alpina merkte gar nicht, wie die Zeit verging. Erst als plötzlich Othmar und Hrothgar anklopften und das Haus betraten, um nach ihrem Freund zu sehen, wurde ihr bewusst, dass es sicher längst an der Zeit war, sich zu verabschieden. Sie bedankte sich bei Hildrun mit einer herzlichen Umarmung dafür, dass sie ihr Wissen mit Alpina geteilt hatte und versprach, vor ihrem Aufbruch noch einmal vorbei zu kommen. Dann folgte sie den beiden Männern in das Haus des Dorfältesten. Es galt noch eine Frage zu klären... wer würde wo schlafen?