Beiträge von Susina Alpina

    Gegen Mittag machten sie eine Pause, tränkten die Esel an einem Bach und ließen sie grasen. In kurzer Zeit hatte Alpina aus dem Bach einige Blätter Brunnenkresse und aus dem Lohwald daneben Bärlauch, Knoblauchrauke, Scharbockskraut und Girsch gepflückt. Mit wenigen Handgriffen zerkleinerte sie die Blätter und mengte sie unter den Frischkäse. Dann nahm sie auch das Brot aus ihrer Rückentrage und brach es auf. Sie verteilte schweigend die Stücke an ihre Begleiter und stellte den Napf mit dem Kräuterkäse für alle erreichbar in die Mitte.


    Während sie die ersten Kräuter des Jahes genoss, fragte sie die beiden Männer:
    "Habt ihr Familie, Othmar und Hrothgar?"

    Alpina stellte schnell fest, dass die beiden germanischen Händler morgens nicht allzu gesprächig waren. Nun, ihr war es recht. Umso weniger unangenehme Fragen würden sie stellen. Sie wartete also bis Othmar das Kommando zum Aufbruch gab. Alpina warf sich Runas Fellumhang über und trat hinter den beiden Männern aus der Mansio.


    Ihr Blick fiel auf den Eselskarren. Alpina liebte Tiere. Ihre Großeltern in Raetia hatten einen kleinen Hof besessen. Esel hatten sie zwar nicht gehabt, aber zwei robuste Pferde, jede Menge Hühner und einen Hofhund.
    Sie begrüßte deshalb auch gleich die beiden Grautiere, streichelte ihre weiche Nase und zauste ihre wuscheligen Ohren.


    "Wie heißen die beiden, Othmar?", fragte sie.


    Hrothgar schien für Alpinas Tierliebe nicht allzuviel übrig zu haben. Er nahm das linke Tier am Halfter und trieb es an. Erstaunlich brav setzten sich die beiden Esel in Gang.
    Alpina musterte das schweigsame Duo und ergab sich. Nach kurzer Zeit hatte sie sich an das gleichmäßige Tempo gewöhnt. Sie genoss die meditative Stille und den Rhythmus der klappernden Hufe. Ihr Blick schweifte in die Ferne oder suchte den Boden rechts und links der Straße nach den ersten Frühlingskräutern ab. Da sie die beiden aber nicht aufhalten wollte, nahm sie sich vor mit dem Sammeln erst zu beginnen, wenn sie eine Pause machten.

    Alpina hatte schlecht geschlafen, war von Alpträumen und Sorgen geplagt ständig wach geworden und hatte somit keine Schwierigkeiten, zur ersten Stunde fertig zu sein. Eigentlich hatte dieser Othmar einen guten Eindruck auf sie gemacht. Er hatte sich bei ihrem Gespräch auf die notwendigsten Dinge beschränkt. Seine ruhige Art flößte ihr Vertrauen ein. Sie erinnerte ein wenig an Curio...


    In der Schankstube ließ sie sich einen Becher warme Milch geben und bat darum, ein Brot und ein wenig von dem frischen, cremigen Käse, den sie am Vorabend zum Abendessen gehabt hatte, mitnehen zu dürfen. Natürlich bezahlte sie dafür. Sie hoffte auf dem Weg einiges an frischen Kräutern zu finden, um eine kleine Mittagsbrotzeit für sich und die Begleiter zaubern zu können.


    Als die Männer die Stube betraten, sprang sie sogleich auf. "Ich bin fertig", sagte sie und hob ihre Rückentrage hoch.

    Alpina nahm die dargebotene Hand und drückte sie. Sie nickte auch dem wortkargen Hrothgar zu. Othmar fragte nach Kräuterkenntnissen.


    "Ich kenne mich soweit ganz gut mit Kräutern aus. Sowohl mit den essbaren, die jetzt so langsam aus dem Schoß von Tellus Mater sprießen, als auch mit denen zur medizinischen Verwendung. In Mogontiacum..." sie hielt inne. Eigentlich wollte sie nicht so viel von sich preis geben. "...habe ich mein Wissen bereits genutzt, um meinen Lebensunterhalt damit zu verdienen..."
    Und dabei sich selbst und den armen Corvinus ins Unglück gestürzt...
    "Wie auch immer... wenn ich helfen kann, tu ich das gerne."


    Dann kam Othmar auf den Beginn der gemeinsamen Reise zu sprechen. Sie nickte auf seine Ankündigung, früh aufzubrechen.
    "Ich habe mir hier eine Kammer genommen. Dann warte ich am besten zur ersten Stunde hier auf euch, oder?"

    Alpina trank nun auch einen Schluck. Sie schien den Germanen überzeugt zu haben, dass sie nicht gleich wieder umkehren würde. Er nannte eine germanische Siedlung, die Alpina nicht kannte. Doch war das ein Wunder? Sie war nie dort gewesen...
    Othmar erklärte ihr die Modalitäten. Alpina nickte. Dann kam die Frage nach seiner Bezahlung. Sie überschlug im Kopf ihre Ersparnisse und die Kosten für die Unterkünfte. Sollte sie damit rechnen, dass sie wieder zurückreisen würde? Wollte sie je wieder zurück nach Mogontiacum? Im Augenblick war es unvorstellbar für sie. Auch wenn es schmerzte, weil sie gute Freunde zurückgelassen hatte...


    "Sind 50 Sesterzen ausreichend?", fragte sie unsicher. Dann schob sie noch ihren Namen hinterher. "Ich heiße übrigens Alpina und bin Hebamme..."

    Alpina atmete tief durch. Wieder versuchte jemand, sie von ihrem Weg abzuhalten. Doch ihre Entscheidung war gefallen. Schon lange zuvor. Sie sah dem Germanen fest in die Augen.


    "Ich habe kein warmes Heim mehr und angenehmer und sicherer war es dort, wo ich mich zuhause fühlen wollte, auch nicht mehr für mich. Glaube mir, meine Entscheidung ist unumstößlich. Es gibt nur noch einen Weg für mich und wenn es mein letzter Weg ist - ich muss dorthin. Sollte ich keinen Begleiter finden, werde ich alleine gehen. Wenn du dir aber etwas dazuverdienen möchtest und mir glaubhaft versichern kannst, dass du mich zumindestens einen Teil der Wegstrecke mitnehmen kannst, dann sag es. Ist dir die Sache aber zu heikel - nun gut... dann eben nicht..."


    Sie zog den Runenanhänger unter der Tunika hervor und hielt ihn fest.


    "Die Götter entscheiden, ob ich dort ankommen soll oder den Weg ins Schattenreich antrete oder wie sagt ihr Germanen? Dann wird die Göttin Hel sich meiner annehmen... es spielt keine Rolle..."

    Alpina hatte zugesehen, wie der Wirt mit einem der zwei Männer gesprochen hatte, die vor kurzem die Mansio betreten hatten. Der Blick zu ihr und das Getuschel hatten sie ahnen lassen, was dann auch tatsächlich geschah. Der Mann kam auf sie zu und sprach sie mit der germanischen Anrede an. Er war groß und trug die Haare extrem kurzgeschoren. Das verstärkte die kantige ein wenig brutal wirkende Physiognomie. Sein durchdringender Blick machte ihr ein wenig Angst.
    Auf die Antwort, ob er sich setzen durfte, wartete er nicht. Er nahm sich einen Stuhl und wartete auf zwei Becher, die der Wirt dann auch sogleich vor sie hinstellte.


    Tatsächlich schien er sich in Germania Libra auszukennen. Sie schöpfte Hoffnung.


    "Salve... äh... heilsa...", stotterte Alpina. "Du hast richtig gehört. Ich möchte bis in die Gabelung der Visurgis reisen. Ist das zufällig auch dein Weg?"

    Brangus hörte geduldig zu, als der Pelzhändler Othmar wütend schilderte, wie er um einen fairen Preis für seine Ware gebracht worden war. Er nickte bedächtig. Die abschließende Frage des Händlers, wie er sich auf diese Weise durchschlagen könne, brachte ihn auf eine Idee. Er warf einen Blick auf die junge Frau, die sich auf die gefährliche Reise ins Barbaricum machen wollte. Womöglich konnte auf diese Weise beiden Seiten geholfen werden. Die Kleine würde Othmar wohl für die Begleitung bezahlen können und der Händler mit seinem Gehilfen wären ein gewisser Schutz für eine allein reisende Frau.


    "Du, Othmar. Ich hätte da vielleicht eine Möglichkeit, wie du dir was dazuverdienen könntest..." sagte er laut. Dann beugte er sich weit über den Tresen, um näher an Othmars Ohr zu gelangen.
    "Siehst du die Kleine mit den rotbrauen Haaren?"
    Er wartete bis der Händler sich umgeblickt und die angesprochene Frau erkannt hatte.
    "Sie will ins Barbaricum reisen - alleine! Du könntest ihr anbieten, sie mitzunehmen. Den Begleitschutz wird sie sich sicher etwas kosten lassen. Sie hat bereits das Zimmer für die Nacht bezahlt, also scheint sie über Geld zu verfügen."


    Brangus zog sich wieder zurück und zwinkerte dem Pelzhändler verschwörerisch zu. "Na, wenn sie nicht genug zahlen kann, mag ja vielleicht ein anderes Arrangement möglich sein, was meinst du?"

    Angesichts ihrer lädierten Füße entschied sich Alpina an diesem Tag nur bis in die Civitas Taunensium weiterzulaufen. Sie verabschiedete sich also mit einer herzlichen Umarmung von dem älteren Ehepaar und machte sich erneut auf den Weg. Es waren nur wenige Meilen und die Größe der Siedlung, die ein wichtiger Handelsplatz mit dem freien Germanien war, brachte es mit sich, dass viele Händler auf der Straße unterwegs waren. Die besinnliche Ruhe der vergangenen zwei Tage wollte sich also nicht einstellen.


    Die Civitas Taunensium hatte für ihre Randlage im Imperium eine erstaunliche Größe erreicht. Es gab sogar ein Theater, wie Alpina überrascht feststellte. Gemächlich schlenderte sie durch die Straßen, betrachtete die Auslagen der Geschäfte und unterhielt sich mit den Händlern. Sie versuchte herauszufinden, ob jemand aus dem freien Germanien zum Handeln in die Siedlung gekommen war. Doch diejenigen, mit denen Alpina sprach, waren alle aus der Umgebung.


    Alpina orientierte sich schell in der Siedlung. Bald fand sie auch eine Mansio an der Straße nach Norden. Der Wirt nickte auf ihre Frage nach einer Kammer für die Nacht. Er nahm Alpina mit und zeigte ihr eine kleine Kammer über dem Schankraum. Sie akzeptierte seine Bedingungen. Zurück in der Schänke, setzte sich Alpina an einen freien Tisch und bestellte einen Becher Posca. Als der Wirt das Getränk brachte, sprach sie ihn an.


    "Ich möchte weitereisen ins freie Germanien. Dort ist ein Teil meiner Familie, die ich gerne besuchen würde. Welchen Weg würdest du mir empfehlen, wenn ich bis in die Gabelung der Visurgis reisen möchte?"


    Der Mann musterte sie nachdenklich.
    "Mädchen, das ist keine gute Ecke, um alleine dahin zu reisen. Und erzähl mir keine Märchen! Du bist keine Germanin. Das hört man. Was treibt dich ins Barbaricum?"


    Alpina schluckte. So schnell war sie noch nicht durchschaut worden.
    "Was soll ich sagen. Ich bin auf der Suche nach einer weisen Frau, einer Seherin. Ihr Name ist Osrun. Sagen wir einfach, es ist im Augenblick mein einziges Ziel im Leben und ich muss dorthin."


    Der Wirt zog sich einen Stuhl her und setzte sich. Sein investigativer Blick ließ Alpinas Kehle eng werden. Sie konnte und wollte nicht hier in dieser Schänke ihr Innerstes nach außen kehren. Also wartete sie auf seine Fragen.


    "Du kannst unmöglich alleine ins Barbaricum reisen. Seit Tagen hören wir hier immer mehr Nachrichten von überfallenen Dörfern. Es scheint sich da was zusammenzubrauen. Erst heute früh war ein Händler hier, der von einer Horde Germanen berichtete, die ein Dorf überfallen und dem Erdboden gleichgemacht haben. Die bekämpfen sich dort ständig gegenseitig. Das ist kein Ort für ein Mädchen wie dich!"


    Alpina hielt dem Blick stand. Es ärgerte sie ein wenig, dass er sie als Mädchen bezeichnete. Sie war eine Frau, zumindest das war ihr in den vergangenen Monaten deutlich bewußt geworden. Mit allen Risiken, die damit verbunden waren.


    "Gut", sagte sie. "Kennst du dann jemanden, mit dem ich reisen kann?"


    Der Wirt kratzte sich am Kinn. "Hm, es gibt hier schon einige Händler, die regelmäßig ins Barbaricum reisen, um Waren einzutauschen. Wenn ich einen von ihnen sehe, sage ich dir Bescheid. Vielleicht kann ich was für dich tun."


    Er stand wieder auf und ging hinter seinen Tresen zurück. Dabei schüttelte er immer wieder den Kopf.

    Am Morgen erhielt Alpina nicht nur einen nahrfaften Puls und einen Becher warme Milch dazu, Sunna packte ihr sogar noch Brot für die Tagesetappe ein. Mit einer herzlichen Umarmung verabschiedeten sich die Frauen voneinander.


    Die nächste Etappe sollte Alpina in die Civitas Taunensium führen. Das Wetter war zum Glück wieder besser. Noch hing der Nebel feucht über den Wiesen und Wäldern, doch bald würde die Sonne ihn auflösen. Man konnte sie bereits hinter dem Schleier aus Wassertropfen erahnen. Alpina schulterte die Rückentrage und ging los. Bereits gegen Mittag spürte sie, dass ihr die lange Etappe des Vortages noch in den Knochen steckte. Sie war diese langen Gehstrecken einfach nicht gewöhnt. Die Schuhe rieben und an den Stellen, die am Vortag schon rot geworden waren, bildeten sich nun Wasserblasen. Als sie gegen Mittag einen Bachlauf erreichte, machte Alpina Pause. Sie zog die Sandalen aus und kühlte die Füße in dem fließenden Gewässer. Nachdenklich beobachtete sie das munter dahinfließende Nass. So leicht und behende, wie das Wasser über die Kieselsteine sprang, würde sie den Rest der Strecke nicht zurücklegen können. Sie würde wohl nicht die ganze Strecke an diesem Tag schaffen. Doch was nun? Wo würde sie eine Bleibe für die Nacht finden? Sollte sie einfach in einer der Villae rusticae fragen, ob man ihr für die Nacht eine Schlafstelle gab?


    Während sie so ihren trüben Gedanken nachhing, rumpelte auf der Straße ein Ochsenkarren heran. Alpina sah hoch. Ein älterer Mann mit einem Kapuzenmantel saß auf einem Transportwagen. Er hatte Feuerholz und Reisig geladen. Güßend nickte er.
    Alpina sprang auf.
    "Salve, guter Mann. Fährst du zufällig in Richtung Civitas Taunensium?"


    Der Mann hielt seine Ochsen an und nickte. "Nicht ganz bis zur Civitas aber doch bis zwei Meilen vor der Siedlung. Soll ich dich mitnehmen?"


    Sie nickte freudig. "Das wäre wunderbar! Warte einen Augenblick. Gleich bin ich da!"
    Alpina erhob sich, nahm die Rückentrage und die Sandalen und eilte zum Fuhrwerk. Sie streichelte den Ochsen, der ihr am nächsten Stand.
    "Prachtvolle Tiere! Darf ich neben dir Platz nehmen?"


    Der Alte lächelte sie mit einem lückenhaften Gebiss an. "Klar, Kleine. Setz dich. Wie heißt du denn?"
    Alpina kletterte auf den Kutschbock und verstaute ihre Rückentrage im Wagen. Sie nannte ihren Namen und während sich die Ochsen wieder an die Arbeit machten, unterhielten sich Alpina und der Bauer. Sie erfuhr, dass er mit seiner Frau eine kleine Villa rustica in der Nähe der Civitas bewirtschaftete, seit er aus dem Dienst als Miles entlassen worden war. Sein Sohn diente inzwischen auch bei der Ala I Flavia Gemina. Alpina hielt sich auf Nachfragen bedeckt. Sie blieb bei der Geschichte vom Familienbesuch.


    Sie erreichten die Villa rustica am frühen Nachmittag. Im Garten des kleinen Anwesens, stand eine ältere Frau. Sie säte in einem Beet Gemüse an. Stirnrunzelnd betrachtete sie das Ochsengespann, das auf den Hof der Villa holperte.
    "Wen bringst du uns denn da mit, Titus?", fragte sie ihren Mann.


    Er kletterte vom Kutschbock und gab ihr einen Kuss.
    "Darf ich vorstellen, das hier ist Susina Alpina. Sie ist auf der Reise zu ihren Verwandten im Barbaricum. Wir können ihr doch sicher ein Bett für die Nacht anbieten, nicht wahr?"


    Die Frau nickte und begrüßte Alpina, die es ihr gleichtat. Sie gingen ins Haus, damit Alpina ihre Sachen ablegen konnte. Später half die Raeterin der Frau noch ein wenig bei der Gartenarbeit und ließ es sich auch nicht nehmen, das Gemüse für das Abendessen zu schneiden.


    Sie verbrachten einen netten Abend bei einem guten, deftigen Abendessen und die Kammer, in der Alpina nächtigen durfte, war bei weitem die komfortabelste seit sie die Casa Atia verlassen hatte. Alpina griff nach dem Runenstein. Er schien ihr Glück zu bringen.
    Einzig die Alpträume kehrten wieder. Mitten in der Nacht schreckte Alpina hoch. Diesmal sah sie nicht die Furien vor ihren Augen, sondern das tränenüberströmte und gequälte Gesicht von Corvinus. Der Anblick stach ihr ins Herz, der Puls raste.

    Am späten Vormittag setzte Regen ein. Alpina holte den Kapuzenmantel aus der Rückentrage hervor. Das gleichmäßige Voranschreiten sorgte für eine sehr meditative Stimmung. Alpina konnte die kreisenden Gedanken durchbrechen, sie dachte an gar nichts mehr, spürte nur noch die Regentropfen im Gesicht und auf den Füßen, die nackt in den Sandalen steckten.
    Gegen Mittag machte sie unter einer Tanne mit tiefhängenden Ästen Pause. Sie aß ihr trockenes Brot und beobachtete die wenigen Menschen, die auf dieser Straße zu Fuß oder mit dem Ochsengespann unterwegs waren. Ab und an sah sie berittene Milites die offenbar Botendienste machten oder patroullierten.


    Der letzte Rest der Tagesetappe kam Alpina ewig vor. Sie wartete förmlich auf das Auftauchen des nächsten Meilensteines, der ihr verriet wie lange sie die reibenden Sandalen und den enervierenden Dauerregen noch ertragen musste. Die letzten zwei Meilen schleppte sie sich dahin mit schmerzenden Füßen und Muskeln. Nun wurde ihr bewußt, welche Leistung die Soldaten der Legion vollbrachten, wenn sie in Gewaltmärschen zu ihrem Einsatz unterwegs waren.


    Die Mansio des kleinen Castellums, welches ihr Tagesziel war, war deutlich kleiner als diejenige vom Vortag. Als sie eintrat, schlug ihr ein feucht-muffiger Geruch entgegen. Eine ungute Mischung aus warmgehaltenem Essen, rußendem offenen Feuer und Bierdunst. Die Blicke, die sie musterten, spiegelten das trübe Wetter wieder. Alpina wartete bis ein junges Mädchen, das als Bedienung Krüge und Teller schleppte, sie ansprach.


    "Salve. Was kann ich für dich tun?", fragte sie und strich sich eine Strähne ihres dunklen Haares aus dem Gesicht.
    "Salve. Ich suche ein Zimmer für die Nacht und eine warme Mahlzeit wäre toll."


    Die Bedienung verzog bedauernd das Gesicht.
    "Heute sind schon alle Zimmer belegt."


    Alpina atmete tief durch. "Gibt es ein weiteres Gasthaus hier?"
    Die Dunkelhaarige schüttelte den Kopf. "Es gibt noch eine kleine Garküche, aber die hat keine Gästezimmer."


    Nun wurde es eng. Die Bedienung erkannte Alpinas Notlage.
    "Wärst du ein Mann, hätte ich gesagt, wir fragen einen von denen dort, ob sie dir einen Platz in ihrem Zimmer einräumen, aber so..."
    Ein Blick auf das Grüppchen, auf das die Dunkelhaarige gezeigt hatte, offenbarte Alpina, dass sie lieber im Wald schlafen würde. Doch plötzlich hatte die Bedienung einen Vorschlag.
    "Wenn du willst, kannst du heute Nacht bei mir schlafen. Du mußt aber auch dafür zahlen und mir beim Aufräumen und Abspülen helfen."
    Alpina bedankte sich. Sie bat darum, ihren nassen Mantel in der Nähe des Feuers aufhängen zu dürfen und setzte sich an den letzten leeren Tisch im Raum. Die Bedienung brachte gewärmten Wein und einen Teller mit einer undefinierbaren Masse, die eigenartig roch. Alpina überwand den anfänglichen Ekel und aß. Sie war so hungrig, dass sie den Löffel erst wieder aus der Hand legte, als der Teller leer war.
    Wann immer die Bedienung nicht viel zu tun hatte, kam sie an Alpinas Tisch und unterhielt sich mit ihr. Alpina beantwortete die Frage nach dem Grund ihrer Reise mit einem Familienbesuch. Damit gab sich die Bedienung zufrieden, die sich mit dem Namen "Sunna" vorstellte.


    Als sich spät am Abend die Stube endlich leerte, half Alpina Sunna wie versprochen. Der Pächter der Mansio ließ sich nur ab und an blicken. Er musterte Alpina neugierig, sagte aber kein Wort. Als die beiden jungen Frauen schlafen gingen, war von ihm nichts zu sehen.
    Sunna schob den Riegel vor. Sie bot Alpina an, mit in ihrem Bett zu schlafen. Nach anfänglicher Scheu stimmte Alpina zu. Sie war hundemüde, alle Glieder taten ihr weh. Und so schlief sie in dieser Nacht zumindest bis die ersten Vögel zu singen begannen.

    Ein wenig gerädert und zittrig stand Alpina am kommenden Morgen auf. Sie wusch sich und packte dann das Brot ein, das sie am vergangenen Abend nicht runtergebracht hatte. Sicher würde es ihr auf ihrer ersten Etappe nützlich sein können.


    Zunächst kaufte sie im Vicus noch eine Feldflasche, dann machte sie sich auf den Weg. Es war noch kühl am Morgen. Raureif überzog die Äste und das Gras rechts und links der gut ausgebauten Straße. Alpina zog den Fellumhang enger um ihren Leib. Mit einer Hand hielt sie Runas Runenanhänger fest.
    "Naudhiz", sagte sie leise. Als Rune der Nornen passte es hervorragend zu Alpinas kommendem Weg, und dass Naudhiz die Widerstandskräfte stärken sollte, konnte jetzt nur richtig sein. Offensichtlich hatte die Freundin in ihrer Intuition genau den richtigen Stein gewählt. Alpina vermisste Runa und ärgerte sich, dass sie nicht mehr von der germanischen Sprache von ihr gelernt hatte. Würde sie die Seherin Osrun überhaupt verstehen können? Zuversichtlich drückte Alpina den Stein an ihre Brust und schritt voran.


    Die ersten Meilen lagen rechts und links der Straße noch einige Villae rusticae. Doch je länger sie ging, desto einsamer wurde es. Erstaunlicherweise störte das Alpina überhaupt nicht - im Gegenteil. Mit jedem Schritt den sie ging, schien ein Stück der Last auf ihrem Herzen leichter zu werden. Der Kopf wurde frei, sie begann mit allen Sinnen die Landschaft und ihre Bewohner zu genießen. Sie sah Füchse, Rehe, Hasen und viele verschiedene Vögel. Am Wegesrand zeigten sich die ersten Frühlingsboten: Huflattich, Märzenbecher, Krokusse und Schlüsselblumen. An einer besonders sonnigen Stelle fand sie sogar schon ein Gänseblümchen. Lächelnd plückte sie es. "Tausendschönchen" nannte man es auch. Ja, das war es - ein Tausendschönchen. Wie oft hatte sie als junges Ding das Gänseblümchenorakel gemacht: "er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, er liebt mich nicht..." Heute verzichtete sie darauf. Sie kannte die Antwort darauf und die tat weh. Deutlich hatte er ihr zu verstehen gegeben, dass es so war.
    Alpina verscheuchte den Gedanken, steckte sich das Gänseblümchen übers Ohr und marschierte weiter.

    Der Brückenkopf und das Castellum Mattiacorum kamen in Sicht. Alpina erkannte den Germanicusbogen. Im Nordosten davon breitete sich der Vicus aus. Alpina orientierte sich. Sie durchquerte den Vicus bis sie zum Beginn der Straße kam, die das Castellum Mattiacorum mit den Kastellen an den Limites verband. Hier würde ihre Reise beginnen.
    Linker Hand lag ein Rasthaus mit einer Wechselstation für den Cursus Publicus. Alpina betrat das Gebäude. Laut und fröhlich ging es in der Schankstube zu. Sie ließ den Blick schweifen. Die Gäste waren Handwerker und Händler, hauptsächlich Männer aber auch ein paar einheimische Frauen. Alpina nahm ihre Rückentrage von den Schultern und stellte sich an den Tresen. Es dauerte nicht lang, dann kam der Wirt und musterte sie neugierig.


    "Was willst du haben?", fragte er.
    "Hast du eine Kammer für mich für heute Nacht?", fragte sie.


    Er grinste anzüglich. "Für dich allein? Denn falls du nachher noch jemanden mitnehmen willst, wird es teurer!"


    Alpinas Augen verengten sich zu Schlitzen. Wofür hielt er sie?
    "Nein, die Kammer ist für mich alleine und ich lege Wert darauf einen Riegel vorlegen zu können. Kannst du mir so eine Kammer geben?"


    Der Wirt nickte und nannte seinen Preis. Alpina holte einige Münzen aus einer Tasche in ihrem Gewand hervor und legte sie auf den Tresen.
    "Bekomme ich dafür auch noch einen Becher mit gewärmtem Würzwein und ein wenig Brot?", fragte sie.


    Der Mann nahm das Geld an sich. "Kannst du haben."


    Er holte Wein und Brot, dann zeigte er ihr die Kammer. Sie war winzig, muffig und düster. Doch das Bettzeug sah halbwegs sauber aus. Alpina nickte. Als der Wirt gegangen war stellte sie ihre Rückentrage ab und schob den Riegel vor die Tür. Sie ließ sich auf der Bettkannte nieder. Schon jetzt vermisste sie die Casa Atia.


    Als es dunkel wurde starrte Alpina noch immer in die Enge des Raumes. Die Bilder der vergangenen Tage kamen hoch und marterten sie. Der Wein wärmte nur kurz, selbst der warme Fellumhang spendete nur unzureichend Wärme. Gegen Mitternacht vermischten sich die Bilder der letzten Ereignisse mit den Fratzen der Larvae und dem wimmernden Weinen eines Kindes.

    Alpina hatte die Stadt beim nächtgelegenen Stadttor verlassen und dann den Weg entlang der Stadtmauer zum Ufer des Rhenus eingeschlagen. Sie wollte nicht durch die Stadt gehen, um zu vermeiden, dass sie irgendjemanden traf, der sie kannte.


    Nachdem sie keine Zeit gehabt hatte, eine Reiseroute vorzubereiten, wollte sie so schnell wie möglich den Fluss überqueren. Zwangsläufig führte ihr Weg über den Rhenus. Sie betrat also die Brücke. Der Holzboden unter ihren Füßen knarrte und das Klappern der zahllosen Hufe der Reit- und Lasttiere begleitete sie. Sie trug Runas Fellüberwurf über dem Arm, er hatte nicht mehr in die Rückentrage gepasst. Das Wetter war stahlend schön, warm und frühlingshaft.


    In der Mitte der Brücke blieb sie stehen. Sie stützte sich auf das Geländer und blickte zurück auf die Stadt, die so friedlich in der Frühlingssonne lag. Über ihr auf dem Hochufer das Castellum, das das gesamte Flusstal überblickte. Dann sah sie in die andere Richtung, auf den Brückenkopf und das Castellum Mattiacorum auf der gegenüberliegenden Seite des Rhenus. Sie stand also mit einem Fuß in ihrem alten Leben und mit dem anderen in der ungewissen Zukunft. Alpina beugte sich über das Geländer und betrachtete das zäh dahinfließende Wasser. Eine erste Träne bahnte sich den Weg aus dem Augenwinkel. Lange war sie tapfer gewesen. Sie hatte versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie die vergangenen Stunden mitgenommen hatten. Jetzt, weit weg von allen Rollenzwängen, konnte sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen. Zunächst einzeln, doch dann in ganzen Sturzbächen ließ Alpina die Tränen kommen. Sie tropften hinunter und verbanden sich mit den Fluten des Rhenus.


    Der Fluss schien ihr zuzuflüstern, er lockte sie. Alpina stellte sich den Flußgott als stattlichen bärtigen Mann vor, so wie er auf zahlreichen Weihaltären zu sehen war. Er schien sie anzulächeln, versprach ihr, sie zu umarmen und zu trösten. Konnte er ihr vom Wasser des Vergessens geben? Wie die Lethe?
    Alpina beugte sich weiter vor. Zu gerne hätte sie dem Drängen des Flussgottes nachgegeben.


    Doch mit einem Mal schüttelte sie heftig den Kopf. Nein, es war noch nicht an der Zeit dafür. Sie war noch nicht entsühnt. Die Seele ihres Kindes wanderte noch zwischen den Welten, fand noch keine Ruhe. Vielleicht wären die zeternden Erinys zufrieden, hätten erreicht, was sie Nacht für Nacht forderten, aber Alpina wusste, dass sie so im Schattenreich ihr Kind nicht würde in die Arme schließen können. Sie musste zunächst eine Entsühnung erreichen. Dem Kind einen Weg zu den Schatten ermöglichen. Und irgendwas sagte ihr, dass dafür diese Reise notwendig war. Was auch immer ihr dabei begegnen mochte.


    Sie riss sich vom Anblick Mogontiacums los und machte beherzt den ersten Schritt in die ungewisse Zukunft.


    Es war schon Nachmittag. Weit würde sie nicht kommen. Vermutlich würde sie die erstbeste Herberge im Umkreis des Castellums Mattiacorum ansteuern und sich dort ein Zimmer nehmen. Noch befand sie sich in der zivilisierten Welt. Doch für wie lange noch?

    Auf ihrem Weg aus der Stadt musste Alpina ohnehin am Castellum vorbei. Sie versuchte sich vorzustellen was Corvinus gerade machte. Vermutlich saß er im Valetudinarium und zeigte dem Legionsmedicus die äußerlichen Verletzungen der vergangen Stunden. Schweren Herzens betat sie das Lagertor und gab den Brief ab, den sie ihm geschrieben hatte. Sie versuchte die amüsierten Blicke der Milites zu ignorieren, die aufhorchten, als sie sagte, an wen der Brief gerichtet war.


    Ad Centurio Lucius Helvetius Corvinus
    Castellum Legio II Germanica, Mogontiacum


    Lieber Corvinus,


    wie du dir sicher denken kannst, fällt es mir nicht leicht, heute die richtigen Worte zu finden. Es ist mir unmöglich weiterhin unter deinen und den Augen deines Bruders in der Casa Atia zu leben. Das wirst du schicherlich vestehen nach den Ereignissen und meinen vielen Geständnissen in letzter Zeit. Ich habe dir viel zugemutet in den vergangen Tagen. Du hast es nicht verdient mit so viel Balast beschwert zu werden, trägst du doch schon schwer genug an deiner Last.


    Du hast mir vorgeworfen, die Reise ins Barbaricum sei Selbstmord. Womöglich ist es so. Womöglich suche ich nur eine gnädige barbarische Hand die vollendet, wozu ich den Mut nicht habe. Mein Leben ist im Chaos versunken. Ich habe es nicht mehr im Griff und in diesem Strudel ziehe ich alle mit, die zu nah an mir dranstehen, so wie Curio und dich. Das kann ich nicht länger verantworten.


    Versprich mir bitte, dass du dich gut um Curio kümmerst. Vielleicht kannst du verhindern, dass auch sein Leben, so wie das unsere, vom Thema Verlust regiert wird. Pass gut auf ihn auf und auch auf meinen guten alten Leonides.


    Ein letzter Dank an dich. Danke dafür, dass ich durch dich verstehen lernen durfte, was Liebe ist und was sie bedeutet. Ich werde mich nun auf die Suche nach Antworten für mein Leben machen. Fragen habe ich inzwischen viele...


    Vale bene und vergiss mich nicht,
    deine Alpina

    Leonides saß auf einem Hocker hinter dem Tresen und flocht eine Kordel. Er sah auf als Alpina die Taberna Medica betrat. Sein Blick war forschend. Sie wusste nicht, wieviel er von der vergangenen Nacht und den turbulenten Ereignissen des darauffolgenden Morgens mitbekommen hatte. Sie räusperte sich.


    "Leonides, ich breche jetzt zu meiner Reise auf. Bitte versorge du die Taberna Medica und den Kräutergarten so gut es eben geht. Vertröste die Schwangeren und entschuldige mich bei ihnen. Die beiden helvetischen Brüder werden dir Familia sein. Zögere nicht, dich mit Bitten an sie zu wenden."


    Ihre Kehle wurde trocken. Er erhob sich langsam und ächzend.
    "Ich weiß, dass ich viel von dir verlange. Es tut mir leid." Sie umarmte den alten Mann.


    Er erwiderte die Umarmung. "Mensch, Mädel, was tust du denn?", krächzte er weinerlich.
    Alpina musste sich losreißen, sie hatte Tränen in den Augen.


    "Leb wohl, vale bene, Leonides."


    Mit eiligen Schritten ging sie in die Casa zurück.

    Eine gute Woche nach ihrem ersten Erscheinen in dem Buchladen, betrat Alpina ihn erneut, um ihr Buch abzuholen. Die Kopisten guckten neugierig von ihrer Arbeit auf, als sie die Tür hinter sich schloss.


    Mit einem strahlenden Lächeln trat der Alte mit dem Philosophenbart zu ihr hin und überreichte ihr die Schriftrolle.


    "Salve, Susina Alpina. Hier sind "Die Eumeniden" des Aischylos. Ich wünsche dir viel Freude damit. Und hast du es dir überlegt? Kann ich dir nicht doch den Celsus näherbringen?"


    Er griff hinter sich und holte eine Buchrolle, die besonders hochwertig gearbeitet war. Dann entrollte er sie eine Stück weit. Gebannt starrte Alpina auf den sorgsam geschriebenen Text, überflog die medizinischen Erklärungen und Rezepte. Ein echter Schatz, ein wahres Kleinod!
    Sie seufzte.


    "Leider kann ich mir das momentan nicht leisten. Aber wenn ich mir eines Tages ein wenig mehr erarbeitet habe, will ich gerne darauf zurückkommen."


    Sie zählte das Geld für ihre Buchrolle, der Antiquarius verschürte sie und wickelte sie in ein Tuch. Dann wechselten Geld und Buch den Eigentümer. Alpina bedankte sich.


    "Vielen Dank, vale bene!"

    Das war es also! Alpina war richtig gelegen. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Sorge um ihn in Ärger umschlug. Sie musste auch damit leben, dass der Mann, der ihr die große Liebe vorgebetet hatte, sie einfach verlassen hatte und sie das Kind aus dieser verhängnisvollen Affäre umgebracht hatte. Nacht für Nacht verfolgten sie die Furien, die Rachegöttinnen. Was wollte er ihr von Schmerz erzählen...


    SIe baute sich vor ihm auf, stemmte die Hände in die Taille und fauchte:


    "Vielleicht wirst du in eine paar Tagen nüchtern sein. Dann unterhalten wir uns wieder. Bis dahin zerfließe nicht völlig in Selbstmitleid! Und denke vielleicht zur Abwechslung mal nicht nur an dich, sondern auch an diejenigen, denen noch etwas an diesem Haufen Selbstmitleid liegt. Es wird wohll am Besten sein, wenn du jetzt gehst."