Beiträge von Titus Germanicus Antias

    Antias war gelinde ausgedrückt perplex. Die verzögerte aber dafür um so heftigere Reaktion des Senators hatte ihn völlig unvorbereitet erwischt. Während er selbst mit der Person des Claudius Menecrates bislang nicht das geringste hatte anfangen können, schien die Erwähnung dieses Namens auszureichen, um bei Germanicus Sedulus das Blut in Wallung zu bringen. Einem Senator war er also in’s Gehege gekommen, zudem nicht nur irgendeinem, sondern einem der einflussreichsten Senatoren Roms. Das wollte erst einmal verdaut sein.


    Mehr als eine vage Geste des Bedauerns brachte Antias für den Moment nicht zustande. Seufzend ließ er sich in seinem Stuhl zurücksinken. Nun gut, zumindest wusste er jetzt, mit wem er es zu tun hatte. Die hohe Stellung dieses Claudiers machte die Sache gewiss nicht einfacher, an Antias’ Gefühlen Apolonia gegenüber änderte das allerdings rein gar nichts, im Gegenteil. Insgeheim war er sogar ziemlich stolz auf sein kleines Luder. Apolonia war ihm in mancherlei Hinsicht sehr ähnlich. Wenn es sich schon nicht vermeiden ließ, in die Gülle zu treten, dann wenigstens da wo es am tiefsten ist. Nur mühsam gelang es ihm, ein anerkennendes Lächeln zu unterdrücken. Im Grunde aber lieferte die Sachlage keinerlei Anlass zum Frohsinn.


    Während Antias sich noch das Hirn zermarterte, wie er nun weiter vorgehen sollte, stand Senator Sedulus unvermittelt auf und strebte mit ein paar entschuldigen Worten der Tür zu. Das Geklapper aus dem Atrium. Richtig. „Äh .. ja, Senator .. selbstverständlich ..“ entgegnete Antias verwirrt. Sollte er den Senator begleiten oder hier auf ihn warten? Immerhin, Germanicus Sedulus war hier der Herr im Haus, Antias nur ein unangekündigter Gast, den die internen Vorgänge in der Casa nicht all zu viel angingen. Andererseits, was wenn irgendwelches Pack sich Zugang zum Haus verschafft hatte? Alarmiert sprang Antias von seinem Stuhl auf und stürzte dem Senator hinterher.

    [Blockierte Grafik: http://oi62.tinypic.com/29uzqsg.jpg]
    Caius Raecius Fimbria
    TIRO · COHORTES URBANAE




    „Posca?“
    „Nein.“
    „Willst du zur Latrine?“
    „Nein, verdammt!“
    Fimbria gab sich alle Mühe, seinen Kameraden aufzumuntern, aber Hispo hatte wohl schon zu Beginn der Wache beschlossen, sich von nichts und niemandem die schlechte Laune verderben zu lassen. Götter! Der Kerl konnte so muffelig sein, wenn ihm der Saft in die Rinde stieg. Schon wahr, sie waren bereits geraume Zeit nicht mehr unter Zivilisten – insbesondere Zivilistinnen – gewesen, aber das war ja nun nicht Fimbrias’ Schuld. Sollte Hispo eben weiter schmollen. Wenn er glaubte, die Wache würde dadurch schneller vorübergehen, Bitteschön. Kopfschüttelnd ließ Fimbria seinen Kameraden stehen und wandte sich stattdessen zwei Zivilsten zu, die Einlass zu begehren schienen. Aha, ein Magistrat stand da also vor ihm, ein angekündigter noch dazu. Dumm nur, dass die Tirones am Westtor niemand unterrichtet hatte, aber so war das ja immer.


    „Salve, Magistrat Tiberius Lepidus.“ grüßte Fimbria gewohnt freundlich. „Eine Carcerinspektion? Das wird sich sicher machen lassen. Hast du einen bestimmten Dienstgrad für die Führung im Auge? Wenn ein Principalis dich begleiten soll, werd' ich nach meinem Optio schicken lassen.“

    Die unaufgeregt sachliche Art, mit der Sedulus auf die heiklen Fakten reagiert hatte, ließen Antias’ Ohren allmählich wieder auf Raumtemperatur abkühlen. Seine Intuition hatte ihn also nicht getrogen. Der Senator war ganz offensichtlich kein impulsiver Choleriker, der seine Energie mit unbeherrschten Wutanfällen zu vergeuden pflegt, sondern ein analytisch denkender Mensch mit Interesse am Detail. Entsprechend nachvollziehbar gestalteten sich seine weiteren Fragen. Wie lange Antias Apolonia schon kannte? Nicht sehr lange und doch schon ewig wie es schien.


    „Also .. das erste mal begegnet sind wir uns im letzten Sommer, an den Kalenden des Sextilis. Einige Tirones – darunter auch ich – hatten damals die Ehre, Tribunus Iulius Dives auf eine Patrouille in die Subura zu begleiten.“ Mit einem sanften Lächeln erinnerte sich Antias an ihr erstes Aufeinandertreffen in jenem Hinterzimmer. „Nun, Senator ... wenn du mich fragst, wie sehr sie mir am Herzen liegt, kann ich nur sagen: Sehr. Ein Ovidius Naso oder ein Horatius Flaccus hätte dafür gewiss klingende Verse gefunden, mir ist deren Wortgewandtheit leider nicht gegeben.“


    Nachdenklich fuhr er sich mit den Fingern durch’s kurze Haar. Wie sollte er dieses Gefühl der Verbundenheit erklären? Senator Sedulus war noch kein alter Mann, wenn es die Götter gut mit ihm gemein hatten, war ihm im Laufe seines Lebens vielleicht schon ähnliches widerfahren. Etwas verlegen schielte Antias nach dem Weinglas, ließ es aber wohlweislich unberührt und hörte dem Senator weiter aufmerksam zu.


    „So ist es ... die Gesetzte geben da – soweit mir bekannt ist – nicht viele Möglichkeiten her. Die Patria Potestas ist wohl nicht ohne weiteres übertragbar, schon gar nicht ohne entsprechende Willenserklärung des Eigentümers, es sei denn von staatlicher Seite. Zumindest entspricht das meinem bescheidenen Wissensstand. Die Tatsache, dass ich den Besitzer der Serva nicht einschätzen kann, macht das ganze noch zusätzlich kompliziert. Ich weiß nur, dass es ein Claudier ist, genauer gesagt ein gewisser Claudius Menecrates.“


    Plötzlich war da wieder dieses Klappern. Antias versuchte es zu ignorieren, ohne großen Erfolg. Nur leidlich konzentriert redete er weiter. „Warum sie dem Claudius letztendlich davongelaufen ist, weiß ich nicht ... vermutlich hat sich einfach eine Gelegenheit ...“ Da! Schon wieder! Es kam doch ganz klar aus dem Geschoss unter ihnen. Oder doch nicht? Gerade als Antias begann, sich ernsthaft um seinen Geisteszustand zu sorgen, gab Senator Sedulus zu erkennen, dass er das Geräusch nun ebenfalls vernommen hatte. Gepriesen seien die Götter. Maßlos erleichtert blickte er den Senator lauschend an, dann zur Tür, dann wieder zu Sedulus.


    „In der Tat, Senator Sedulus .. ich höre es auch. Also ... wenn der Gedanke nicht so absurd wäre, könnte man fast meinen, im Atrium treibe irgendein behufter Vierbeiner sein Unwesen.“ Für den Senator musste das ein recht seltsamer Tag sein, erst Antias’ lärmende Caligae und jetzt das.

    Versonnen vor sich hin nickend folgte Antias Sedulus’ Ausführungen. Der Senator hatte natürlich recht. Nicht umsonst gab es einen Dienstweg. Als gemeinem Miles stand es ihm nicht zu, mit solcherlei Konstrukten vorzupreschen. Abgesehen davon musste eine derartige Vorgehensweise von höchster Stelle abgesegnet werden, um auch nur die geringsten Erfolgsaussichten zu gewärtigen. Ohne offizielles Einverständnis konnte er Apolonia ebensogut selbst frei sprechen. Gut gemeint, aber vollkommen sinnlos.


    „Das sehe ich ein, Senator Germanicus Sedulus.“ gab Antias nach einem erquickenden Schluck Massiker schließlich zu. „Es wird sicher das Beste sein, erst einmal mit meinem Optio darüber zu reden. Ich fürchte, die Beförderung hat mich etwas übermotiviert.“


    Vielleicht war das Thema damit vom Tisch. Hoffnungsvoll lächelnd lehnte sich Antias zurück, um abermals eingelullt von der inspirierende Ruhe der Casa seine Gedanken neu zu ordnen. Nur die verhaltenen Stimmen der Bediensteten klangen leise vom Untergeschoss herauf in seine rotglühenden Ohren, gedämpfte Schritte, Hufgetrappel – sonst nichts. Moment, Hufgetrappel? Erschrocken starrte er auf sein Glas und stellte es fahrig weg. Bei den Pforten des Orcus! Welch heimtückischer Rebensaft! Genug des süffigen Massikers! Ausgesprochen dankbar stellte er fest, dass Senator Sedulus sein Interesse wieder der anmutigen Vase zugewandt hatte. Die Erleichterung währte jedoch nicht lange, denn Sedulus hakte noch einmal nach.


    Nun blieben Antias nur noch zwei Möglichkeiten. Er musste das Thema entweder abrupt beenden oder Sedulus schlicht die Wahrheit sagen. Die dritte Möglichkeit, sich mit einer zusammengesponnenen Mär aus der Affäre zu ziehen, kam für ihn nicht infrage. Anlügen würde er den Senator nicht, schließlich hatte Antias dem Familienoberhaupt nicht viel mehr zu bieten als seine Loyalität und Aufrichtigkeit. Vertrauen gegen Vertrauen. Also was? Flüchten oder sich der Situation stellen? Mit ein paar tiefen Atemzügen versuchte sich Antias die kreisenden Weinnebel aus dem Hirn zu blasen.


    „Ja, Senator. Wie du ganz richtig vermutest, steckt noch etwas mehr dahinter.“ begann er endlich mit fester Stimme. „Diese Serva ist ihrem Besitzer davongelaufen, schon vor einer ganzen Weile. Ich wusste lange nichts davon. Weder von ihrer Flucht noch von ihrem Stand. Als ich ihr bei einem Einsatz begegnet bin, ging ich davon aus .... ach, ich weiß auch nicht, wovon ich damals ausgegangen bin ... jedenfalls ist es nun mal wie es ist. Sie liegt mir sehr am Herzen, und seit ich die Wahrheit kenne, suche ich nach Wegen, um ihr auf rechtskonforme Weise die Freisprechung zu ermöglichen. Der naheliegendste Schritt, mich mit ihrem Besitzer in’s Einvernehmen zu setzten, erscheint mir angesichts ihrer Flucht als nicht sehr weise.“ Nun gut, es war also ausgesprochen. Der Senator hatte die Wahrheit verdient. Was Antias in Sedulus’ Augen verdient hatte, würde sich wohl alsbald herausstellen.

    Nichts. Keine Reaktion. Zu mehr als einem trotzigen Schnaufen wollte sich der Knabe offenbar nicht herablassen. Auch recht. Antias hatte ohnehin mehr als genug von dem ganzen Gequatsche. Das hatte schon damals bei dem sturen Christianer nicht gefruchtet, warum sollte ausgerechnet dieser tollwütige Fleischblock verbal vorgetragenen Argumenten zugänglich sein? Kein Wunder eigentlich, dass langgediente Milites wie Sulca sich mit den Jahren angewöhnt hatten, erstmal drauf zu hauen und erst anschließend – vielleicht, wenn sie einen guten Tag hatten – Erklärungen abzugeben. Es war nicht abzuleugnen: er hatte noch eine ganze Menge zu lernen.


    Mit einem resignierten Seufzer nickte Antias seinem Optio zu, machte einen Schritt zurück, um dem massigen Kneipenschläger Zeit zu geben, sich auf einen heftigen Fußtritt vorzubereiten und knallte ihm dann kommentarlos die Hasta in den Nacken. Gleichzeitig trat der Cluvius dem Riesen in eine Körperpartie, die Antias aus seiner Position zwar nicht erkennen- wohl aber mit Schaudern erahnen konnte. Brüllend stürzten sich nun auch Carbo und Pennus von den Flanken her auf den schwankenden Gegner, der von allen Seiten malträtiert endlich krachend zu Boden ging. Sulca warf sich sofort auf die Schultern des Gefällten, Antias schmiss sich auf dessen Beine, Pennus und Carbo hebelten an den langen Armen herum, bis sie die pfannenbreiten Hände schließlich mit Pennus’ Schulterriemen verzurrt hatten.


    „Und jetzt?“ fragte Antias keuchend in die Runde. Sulca spuckte geräuschvoll aus. „Wir brauchen nen Handkarren oder sowas .. ich nehm’ nicht an, dass der Tribunus seinen prächtigen Gaul zum Gefangenentransport missbrauchen lässt.“

    Die Kolonne kam jäh zum Stillstand, verharrte aber noch eine Weile in lockerer Formation. Pause? Hatte Mento da gerade etwas von Pause gesagt? In welchem verstaubten Winkel seines Vokabulars war der Optio plötzlich über dieses exotische Fremdwort gestolpert? Antias konnte nur staunen. Die Sonne stand hoch am Himmel, die Abenddämmerung lag in weiter Ferne, den Tirones hingen die Zungen noch längst nicht bis auf Schnürsenkel und trotzdem gewährte Optio Paullus Ovidius Mento ihnen eine Pause? Unfassbar. Wenn da mal nicht ein besonders perfider Plan dahinter steckte.


    Kopfschüttelnd wischte sich Antias den Schweiß von der Stirn und sah Hispo misstrauisch an. „Der weiß aber schon, dass Pausen einen anfällig machen für so zersetzende Untugenden wie Erholung, Entspannung und sowas?“ Hispo nahm grinsend den Helm vom Kopf. „Tja, der Durst macht’s möglich.“ Langsam und zaghaft zerstreuten sich die Rekruten. Natürlich würde Mento die verbummelte Zeit am Abend dranhängen, das war jedem klar. Beschwingt folgte Antias Hispo zu den Wasserfässern. Pause. Man kam sich ja fast vor wie ein Mensch.

    Antias’ Ohren begannen langsam zu glühen, der Massiker hatte offenbar weit mehr Schub als man ihm auf den ersten Schluck zutraute. Zudem war er beseelte Getränke nicht mehr gewohnt, hatte er doch seit jenem nebulösen Abend in Rufo’s Elysium seinen Durst ausschließlich mit Wasser oder bis an die Grenze zur Ungenießbarkeit verdünntem Posca gelöscht. Gemach mit dem edlen Nass! flüsterte seine innere Stimme, während er aufmerksam Sedulus’ Worten lauschte.


    „Du hast recht, Senator ..“ nickte er schließlich und sah dabei seine Hand wie von fremden Mächten gesteuert schon wieder nach dem Weinglas fischen. „ .. natürlich sollten sich meine Vorgesetzten über derlei Maßnahmen den Kopf zerbrechen, nicht ich. Vielleicht tun sie das auch ..“ Einen kleinen Schluck noch, dann musste aber erstmal gut sein. „ .. vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls ..“


    Nun hatte er doch tatsächlich den Faden verloren. Was zog da eigentlich immer wieder des Senators Aufmerksamkeit auf sich? Antias ließ seinen Blick schweifen und entdeckte eine mit äußerst wohlgeformten und selbstverständlich splitternackten Kriegerinnen verzierte Vase. Hach ja, die schönen Künste und die atemberaubende Perfektion der menschlichen Anatomie, dachte er träumerisch. Aber genug der triebhaften Gedanken, wo war er stehen geblieben?


    „ .. jedenfalls spukt mir dieses konspirative Instrument bereits seit meinem ersten Einsatz im Kopf herum. Nun gut, dass ich die Möglichkeiten zur Freisprechung jener ... Kandidatin ... sondieren möchte, hatte ursprünglich nichts mit der Idee der verdeckten Ermittlung zu tun.“ Da wollte er dem Senator gar nichts vormachen. Irgendjemandem musste er ja schließlich vertrauen. Abgesehen davon hatte Sedulus den Braten sicher schon gerochen. Einen Augenblick starrte Antias nachdenklich in sein Glas, nahm dann einen entschlossenen Schluck und erklärte sich:


    „Diese Kandidatin ist eine Serva, der ich die Freisprechung ermöglichen möchte. Aus – wie du dir bereits denken wirst – persönlichen Gründen. Aber in jedem Fall unter Wahrung der legitimen Mittel. Ein erfolgreicher Einsatz zur inoffissi .. äh .. inoffiziellen Informationsbeschaffung wäre wohl solch ein Mittel.“ Verdammt. Seine Ohren schienen in Flammen zu stehen. Er konnte nur hoffen, dass seine überschaubare Eloquenz ausgereicht hatte, den Sachverhalt einigermaßen nachvollziehbar darzustellen. „Nichts ehrenrühriges, versteht sich.“ schickte er sicherheitshalber noch hinterher. „Schließlich bin ich Urbaner und ein Germanicus obendrein.“

    Zwar hatte Antias versucht, seine Frage in eher beiläufigem Tonfall zu formulieren, aber das hätte er sich ebensogut sparen können. Er saß hier einem klugen weltgewandten Menschen gegenüber, keinem tumben Provinzhammel. Natürlich musste der Senator nun annehmen, der Besuch sei aus purer Berechnung erfolgt. Dem war aber nicht so. Antias empfand große Sympathie und tiefste Hochachtung für das Familienoberhaupt, und das konnte er wohl nur beweisen, in dem er so ehrlich wie möglich zum Senator war. Ohnehin hatte Sedulus es nicht verdient, mit irgendwelchen haarsträubenden Lügengespinsten abgespeist zu werden.


    Dass er nicht die ganze Wahrheit preisgeben konnte, lag allerdings auf der Hand. Senator Sedulus hatte die Patria Potestas über einen umfangreichen Haushalt inne und musste die Frage der Sklavenfreisprechung schon naturgemäß aus einem anderen Blickwinkel betrachten als Antias dies tat. Immerhin waren neben Handel und Expansion vor allem Sklaven der Wind in den Segeln der römischen Prosperität. Entlaufenen Sklaven konnte ein Mann in Sedulus' Position selbstredend keinerlei Verständnis entgegen bringen. Obgleich ihm nicht ganz wohl dabei war, beschloss Antias, den Senator mit diesem delikaten Detail nicht zu belasten.


    „Es ist so, Senator Sedulus ..“ begann er vorsichtig. „.. allen Einsätzen, an denen ich bislang teilgenommen habe, war eines gemein: Früher oder später wurden all unsere Nachforschungen von Sturheit, verstocktem Schweigen und schlichten Vorbehalten gegen die Ordnungsmacht gehemmt. Was hinter den Kulissen von Trans Tiberim oder der Subura wirklich vorgeht, bleibt unseren Augen weitgehend verborgen. Egal, welche Schwierigkeiten die Einwohner jener Viertel ansonsten miteinander haben, wenn die Urbaniciani auftauchen, sind sie plötzlich in Schweigen und Begriffsstutzigkeit vereint. Servi und Libertini dagegen sind in diesen Kreisen unverdächtig und bewegen sich darin wie Fische im Wasser. Informationen, die wir mühsam und oft vergeblich zutage zu fördern versuchen, werden ihnen in Hinterhöfen, Nebengassen, Märkten und Lupanaria einfach so zugetragen.“


    Antias Mund war so trocken wie ein Feuerschwamm. Hatte er die Sache richtig angefangen? Leidlich beherrscht griff er zum Glas, trank einen Schluck Massiker und fuhr fort.


    „Ein geschickt positionierter Servus, der für uns arbeitet, könnte der Urbs unermessliche Dienste leisten. Dienste, die – wenn ich recht informiert bin – bei entsprechender Leistung mit einer verfügten Freisprechung von staatlicher Seite vergolten werden können. Über ebenjene Form der Freisprechung beziehungsweise deren genaue Anforderungen und Voraussetzungen möchte ich mich eingehender informieren.“


    Beim den drei Rachen des Cerberus! Seine Zunge klebte ihm am Gaumen wie altbackenes Honiggebäck! Noch ein kurzes Nippen, dann stellte er das Glas entschlossen auf das Pult zurück und sah den Senator offen an.
    „So viel zum uneigennützigen Teil des Vorhabens. Wie du sicher bereits vermutest, habe ich bei alldem tatsächlich eine Kandidatin im Sinn, die für diese Aufgabe geradezu prädestiniert wäre und an der mir einiges liegt. Eben darum soll sich das alles auch auf einer trittfesten rechtlichen Grundlage bewegen.“ So. Am liebsten hätte er jetzt die ganze Amphore leergesoffen, riss sich aber zusammen und hielt Sedulus’ Blick stand. „Was hältst du von der Sache, Senator Sedulus?“

    Nur mäßig beruhigt lauschte Antias Dracons’ Worten. Sicher, Apolonia war kein naives Dummchen, das sich nicht zu helfen wusste, sie würde sich gewiss nicht aus Leichtsinn in Gefahr bringen. Andererseits kannte er sie inzwischen zu gut, um nicht zu wissen, dass ihr das Versteck auf Dauer die Luft zum Atmen raubte. Schließlich war sie nicht geflohen, nur um den einen Käfig gegen einen anderen einzutauschen. Was aber, wenn sie auf der Straße zufällig einem Mitglied ihres ehemaligen Haushaltes über den Weg lief? Seufzend schüttelte Antias seine dunklen Befürchtungen ab. Es hatte keinen Sinn, sich irgendwelche Schreckensszenarien auszumalen, morgen würde er selbst nach ihr sehn. Bis dahin musste er sich zusammenreißen. Hier gab es noch ein Problem zu lösen, ein gewaltiges Problem, das sogar ihn um einen Kopf überragte und noch immer benommen schnaufend auf den Optio starrte.


    Antias nickte Dracon verstohlen zu. „Das muss trotzdem sein .. reine Vorsichtsmaßnahme!“ bellte er in dienstlichem Ton, beugte sich zu dem gutmütigen Glatzkopf hinunter und tastete ihn ab. „Hör zu, Dracon ..“ raunte er ihm leise zu. „.. am besten, du trinkst hier in aller Ruhe, bis wir verschwunden sind. Die Urbaniciani sind für entlaufene Sklaven zwar nicht zuständig, aber wir haben da ein oder zwei Kameraden dabei, die sich liebend gerne profilieren würden, wenn du verstehst, was ich meine. Also sei vorsichtig und pass auf dich auf.“ Unauffällig klatschte er Dracon die Hand auf die muskulöse Schulter. „In Ordnung.“


    Dann wandte er sich um, sammelte die beiden Hastae vom Boden auf, stellte sie außer Reichweite an die Wand und trat wieder hinter den schwankenden Riesen. Die Aufforderung des Optios, sich endlich dreinzufinden, war wie es schien vom Delinquenten völlig unbeachtet verhallt. Pennus schlenkerte unentschlossen seinen abgelegten Schulterriemen herum, den ersten Schritt zu machen, um dem Randalierer die Hände zu fesseln, wagte er aber offenbar nicht. Antias blickte von einem Miles zum anderen. Außer Avianus war hier wohl keiner mehr an einem unblutigen Zugriff interessiert. Was hielt diesen sturen Idioten überhaupt noch aufrecht? Bloßer Trotz? Wahnsinn? Oder war da noch etwas anderes? Allmählich beschlich Antias der Verdacht, das ganze Theater diene möglicherweise nur dem Zweck, die Patrouille hier zu blockieren. Was hatte Dracon gesagt, draußen warteten welche? War der Tribunus in Gefahr? Höchste Zeit, wieder etwas Dynamik in’s Spiel zu bringen. „Also gut, du Riesenrindvieh..“ fauchte er dem Hünen eindringlich zu, während er Pennus, Carbo und Sulca auffordernd anblickte. „.. ich tret’ dir jetzt die Beine weg und dann werden dir meine Kameraden Fesseln anlegen. Oder dich töten. Verstanden?“ Letztlich war es ihm scheißegal, ob der Kerl verstanden hatte.

    Antias nickte freudig. Hervorragende Idee, den Massiker sogleich zu verkosten. Offenbar war der Senator ebenfalls gespannt, wie die weiße Rebe munden würde. Blieb nur zu hoffen, dass der Weinhändler Antias’ durchaus ernst gemeinte Ankündigung, ihm die Ohren durch den Anus zu ziehen, sollte sich dieser Tropfen bestenfalls zum Abbeizen von Holztruhen eignen entsprechend rezipiert hatte. Auch Antias ergriff sein Glas.


    „So sei es denn, Senator Sedulus. Auf meine Beförderung und deine Gesundheit. Bene tibi sit vita!“


    Ein vorsichtiger Schluck. Den Göttern sei es gedankt, die Ohren des Händlers würden unversehrt bleiben, der Massiker schmeckte frisch und fruchtig. Überaus erleichtert nahm Antias einen weiteren Schluck, ließ ihn sich genussvoll durch die Kehle rinnen und gab sich ein paar Augenblicke der erhabenen Stille der Bibliothek hin. Welche Lust musste es sein, hier die verschiedensten Texte zu studieren ohne Ablenkung durch die gesamte Klangvielfalt an Körpergeräuschen mit der eine vollbesetzte Urbanerbaracke aufzuwarten hatte. Hier ließ sich sicher konzentriert arbeiten und das Wissen vertiefen. Wissen bedeutete immer einen Vorsprung, und was das betraf, lag Antias leider noch weit zurück.


    „Wenn ich dir eine Frage stellen darf, Senator ..“ riss er sich aus seinen Gedanken. „.. weißt du vielleicht jemanden, der sich mit den rechtlichen Aspekten der Sklavenfreisprechung auskennt oder womöglich sogar schon als Adsertor Libertatis vor dem Magistrat tätig war?“

    Drei Schläge sollten wohl für’s erste reichen, befand Antias und ließ Optio Avianus die Gelegenheit, dem selbstzerstörerischen Hünen noch einmal in’s Gewissen zu reden. Und ob der Kerl in den Carcer wandern würde! Wenn nötig in solch kleinen Stücken, dass er sich ohne Probleme durch die Türgitter stopfen ließ. Die lauernden Mienen von Carbo, Pennus und vor allem Sulca ließen diese Vorgehensweise durchaus realistisch erscheinen. Sagittas’ Blick dagegen flackerte unstet zwischen der Klinge seines Gladius und dem Stiernacken seines Bezwingers hin und her. Ob Avianus’ Anweisung zu ihm durchgedrungen war? Schwer zu sagen. So eng am Mann war der junge Miles jedenfalls ein Risiko, in erster Linie für sich selbst.


    „Vielleicht sicherst du besser die Tür ab, Sagitta.“ schlug Antias vor. Allerdings zu spät, denn just in diesem Moment stapfte ein glatzköpfiges Muskelpaket durch die Wirtshaustür. „Das darf doch wohl nicht wahr sein!“ fluchte Antias vor sich hin, während er den kahlen Burschen aus den Augenwinkeln durch das Halbdunkel schlendern sah. Schliefen die da draußen? Das letzte, was im verwüsteten Schankraum benötigt wurde, waren Gäste! Wobei sehr fraglich war, ob es sich hier überhaupt um einen Gast handelte. Der Pfiff des schwankenden Riesen war ihm nicht entgangen. Wenn sich die Popina nun mit weiteren Raufbolden füllte, würde der relativ unblutige Teil des Tages unwiderruflich sein Ende finden. Vor ihm stand der sichtlich mitgenommene Fleischberg, offenbar zu erschöpft, um umzufallen, hinter ihm schlurfte der breite Glatzkopf in aller Seelenruhe zu einem freien Tisch.


    Die neu entstandene Situation schmeckte Antias gar nicht. Auch wenn der vermeintliche Gast die Schänke unbewaffnet betreten hatte, am Boden lagen noch immer die abgelegten Hastae von Carbo und Pennus. Nach einem prüfenden Blick auf den benommenen Koloss, der mittlerweile von vier gezogenen Gladii eingerahmt war, glaubte Antias, es verantworten zu können, seine Aufmerksamkeit dem Neuankömmling zuzuwenden. Der Optio hatte die Angelegenheit im Griff. Dem Randalierer blieb ohnehin nur noch die Wahl zwischen Carcer und Tartarus. Langsam zog sich Antias vom Rücken des Krawallmachers zurück und ging zum Tisch des kahlen Gastes hinüber. „Du willst doch sicher keinen Ärger machen, mein Freund! Als der Angesprochene aufsah, erkannte ihn Antias plötzlich. War das nicht Dracon aus dem Lunapar? Der Leidensgenosse von Morrigan und Apolonia? „Dracon?“ Kein Zweifel, er war es. Etwas durcheinander rief Antias den Kameraden zu: „Keine Gefahr! Ich kenn’ den Mann.“ Dann zischte er bedeutend leiser auf Dracon ein. „Verflucht, was machst du hier? Ich dachte, du bist bei Apolonia."

    Antias entspannte sich zusehends. Es tat gut, sich jenseits der Castra einmal in aller Ruhe mit einem kultivierten Menschen unterhalten zu können, der einst selbst seine Erfahrungen bei den CU gemacht hatte und daher auch verstand, wovon Antias sprach.
    „Hm .. also erhalten habe ich die Phalera wohl, weil ich beim Außeneinsatz etwas Geschick beweisen konnte .. zumindest dachte ich das bislang. Offen gestanden, der Gedanke, das könnte aus Gefälligkeit dir gegenüber geschehen sein, bringt mich jetzt schon ein wenig in’s Grübeln.“ Nachdenklich kratze sich Antias am glattrasierten Kinn. War es wirklich wichtig, warum er letztlich ausgezeichnet worden war? Ja, war es.


    „Naja, andererseits .. auch wenn dem so wäre, muss ich mich dieser Ehre nun würdig erweisen, das kann mir niemand abnehmen. Jede Möglichkeit einer versteckten Protektion durch Iulius Dives hätte sich nach dessen jüngst erfolgtem Wechsel in die zivile Ämterlaufbahn ohnehin erledigt. Eine Entwicklung, die ich eigentlich bedaure, denn ich habe den Tribunus als recht anständigen Kerl in Erinnerung, der auch Tirones die Möglichkeit gegeben hat, sich zu bewähren.“


    Die freundlichen Worte des Senators waren Balsam auf seiner manchmal schon ziemlich verlorenen Seele, vor allem die Bemerkung, er gehöre doch zur Familie, löste ein seltsames Gefühl bei Antias aus. Was war das denn jetzt? Er war doch nicht etwa gerührt? Ein wenig schon, musste er sich eingestehen, verdrängte das verschüttete Gefühl aber sofort mit einem belegten Räuspern. In der Tat hatte er jetzt ein paar Schlucke nötig.


    „Danke, Senator, Wasser wäre mir sehr recht ...“ Moment! Getränke? Schlagartig fiel ihm sein Gepäck wieder ein. „Ach Götter, das hab ich ja völlig vergessen! Wenn du entschuldigst ...“ flink erhob er sich, huschte zu seinem Bündel, wühlte die Strohpolsterung zur Seite und hievte schließlich eine versiegelte und noch in im Holzsteg steckende Amphore heraus. „Natürlich habe ich dir auch etwas mitgebracht .. das ist ein Weißer, ein Massiker aus dem Süden.“


    Er stellte die fixierte Amphore ab und gleichzeitig fest, dass nun doch etwas Stroh auf den Boden gerieselt war. Verflucht, er benahm sich mal wieder wie ein Bauer! „Ähm .. zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich von gehobenen Weinen nicht all zu viel Ahnung habe, aber sowohl der Händler als auch Kunden und befragte Passanten haben mir entweder zu einem Caecuber oder eben einem Massiker geraten.“


    Etwas unentschlossen betrachtete Antias die abgestellte Amphore, machte sich dann wieder über sein Bündel her und förderte noch einen allerdings deutlich kleineren Krug zutage, den er lächelnd auf das Pult stellte. „Das hier habe ich allerdings selbst verkostet.“grinste er und nahm wieder Platz. „Met. Süß und würzig. Sozusagen ein Symbol für die Verbindung zu Germania, die wir zweifellos beide haben.“

    „Danke, Senator .. und entschuldige bitte den Lärm.“ entgegnete Antias schuldbewusst, legte den Mantel ab, drapierte ihn ordentlich auf die Stuhllehne und setzte sich schließlich.


    „Ähm .. nein, Senator .. selbstverständlich habe ich damals deinen Rat beherzigt und mich bei den CU gemeldet. Anfangs war es nicht gerade einfach, aber wem erzähl’ ich das. Nach eher stumpfsinnigem Drill in den ersten Wochen wurde unserer Einheit ein fähiger junger Optio als Ausbilder zugeteilt, und von diesem Augenblick an ging es langsam bergauf. Vor wenigen Tagen schließlich ist mir angeregt durch Tribunus Iulius Dives neben der Verleihung einer Phalera die Ehre einer vorzeitigen Beförderung zuteil geworden, und so sitze ich also als recht frischgebackener Miles vor dir, um mich noch einmal für deinen Rat und die mir erwiesene Gastfreundschaft zu bedanken. Da ich an jenem Morgen so früh aufgebrochen bin, war mir ein persönliches Dankeswort nicht möglich, das wollte ich nun nachholen.“


    Lächelnd nickte Antias dem Senator über den Pult hinweg zu. „Ich hoffe , es ist dir in den verstrichenen Monaten wohl ergangen und du erfreust dich bester Gesundheit.“

    Auf’s neue fasziniert von der würdevollen Ruhe, die das Gemäuer ausstrahlte folgte Antias dem großem Germanen, genauer gesagt schlich er ihm vorsichtig hinterher. Seine Caligae hallten bei jedem Schritt peinlich laut von den Wänden wider. Auf der steilen Treppe, die in’s Obergeschoss führte, wurde das Gepolter so ohrenbetäubend, dass Antias sich verfluchte, auf dem Markt nicht auch ein Paar weicher Calcei erstanden zu haben. Den Sklaven schien das Geklapper nicht weiter zu stören, gemessenen Schrittes führte er den Besucher über einen langen Gang an einer Reihe von Fenstern entlang, die den Blick auf den Innenhof freigaben, vorbei an der Tür zu jenem Cubiculum, in dem Antias einmal eine Nacht hatte verbingen dürfen, bis sie schließlich einen großen Raum erreichten, an dessen Wänden mit säuberlich geordneten Schriftrollen und Tabulae bestückte Borde und Regalspinde bis unter die Decke reichten. Wieder einmal blieb ihm der Mund offen stehen. Dieses Gebäude schien ausschließlich zu dem Zweck errichtet worden zu sein, ihn zu beeindrucken.


    Es kostete ihn einige Beherrschung, den Blick von dem hier angesammelten Wissensschatz zu lösen. Wo war der Senator? Ah, dort drüben hinter einem Lesepult verborgen. Hatte ihn der Germane bereits gemeldet? Wenn ja, war es Antias entgangen. Der Anblick all der Schriften hatte ihn für ein paar Augenblicke völlig aus der Fassung gebracht. Mit einem freudigen Lächeln setzte er behutsam sein schweres Bündel ab und ging etwas unsicher auf den Senator zu.
    „Salve Senator Germanicus Sedulus. Vielleicht erinnerst du dich noch an mich, Germanicus Antias. Es ist mir eine große Freude, dich wiederzusehen.“

    Antias zupfte sich hektisch die neue Tunica zurecht. Der Stoff kratzte zwar noch etwas, aber dafür passte sie ihm wie angegossen. Auf dem Markt hatte man ihm wieder einmal eine Toga andrehen wollen. Ihm, der sich schon in einer neuen Tunica verkleidet fühlte. Er habe ein ausgesprochenes Togagesicht hatte ihm der Händler versichert, was Antias zu einer barschen Bemerkung über die Visage des Händlers hingerissen hatte. Jetzt, da er an der Porta der Casa Germanica stand, nagten allerdings ein paar Zweifel an ihm. Vielleicht wäre eine schlichte Toga doch angemessener gewesen. Andererseits konnte er sich noch gut daran erinnern, als er sich das letzte mal dazu hatte breitschlagen lassen, eine solche Wickelfahne anzuprobieren. So ähnlich wie er damals mussten die alten ägyptischen Könige ausgesehen haben, nachdem man sie für die Grablegung bandagiert hatte. Nein, nein, eine Tunica war völlig ausreichend, und außerdem ....


    Hinter der schweren Holztür tat sich etwas. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, der Türflügel schwang auf und auf ihn herab blickte das breite Gesicht des großen Germanen, der ihm schon einmal geöffnet hatte. Damals. Im Sommer. Vor scheinbar ewigen Zeiten.


    „Ah ... Salve. Du wirst dich vermutlich nicht mehr an mich erinnern, Titus Germanicus Antias. Ich möchte gern Senator Sedulus einen Besuch abstatten, so er denn zu sprechen sein sollte.“

    Aha. Die Gegenwärtigkeit des Existierenden. Der vergängliche Augenblick im Unendlichen. Antias bedachte Castus mit einem langen forschenden Blick. Der Bursche schien von alldem wirklich zutiefst durchdrungen zu sein. Was gab es darauf noch zu sagen? Die tieferen Mysterien der Spiritualität waren ihm ebenso wie einst seinem Vater stets fremd geblieben. Er suchte lediglich einen Flüchtigen, nicht die Flüchtigkeit selbst, auch wenn sich in ihr, wie Castus behauptete, die Ewigkeit offenbarte.


    Nun gut, wenigstens wussten sie nun, dass der Initiand einmal Soldat gewesen war. Wunderbar. Da kamen in Roma ja nur noch ein paar Tausend infrage. So war hier wohl kaum voranzukommen. Vielleicht sollten sie es einfach dabei belassen und ein anderes mal wiederkommen, wenn der Abgängige von seiner kurzfristig angetretenen Reise wieder zurück war. Vielleicht wussten die Priester ja tatsächlich nicht viel mehr als sie preisgaben. An Castus’ Worten zumindest zweifelte Antias nicht, denn auch bei den Cohortes zählte kaum, wer man einmal gewesen war, sondern nur, wer man bereit war zu sein. Andererseits fiel es ihm schwer, zu glauben, dass einem Tempelneuling bei seiner Aufnahme nicht wenigstens ein paar Angaben über Person und Vita abverlangt wurden. Gleichviel, sie konnten die Priester schließlich nicht zu einer Auskunft zwingen.


    Nachdenklich trat Antias noch etwas näher zu Castus und zog ihn freundlich einen Schritt beiseite, um das Gespräch ihrer Vorgesetzten nicht zu stören. Leise und ohne jede Spur von Spott oder Feindseligkeit versuchte er nun, seinerseits zu erklären, warum die Urbaniciani so lästig sein mussten. „Ich kann nicht behaupten, viel von dem verstanden zu haben, was du gesagt hast, Castus. Eines allerdings habe ich mittlerweile durchaus verstanden: Unser Auftreten hier hat offensichtlich den Eindruck erweckt als bestünde der Verdacht, dein Freund habe etwas unrechtes getan. So ist es nicht. Wir wollten ihm ein paar Fragen stellen, das ist alles. Nur ist er eben überraschend verschwunden, unmittelbar nachdem er diesen Dieb empfangen hat. Kann Zufall sein, verdächtig ist es aber allemal, das musst du doch zugeben.“ Musste Castus natürlich keineswegs. Er selbst hätte sich ebenso geweigert, das Offensichtliche zu sehen, wäre es um Hispo oder Fimbria gegangen.


    Resigniert wagte Antias einen letzten Versuch, griff nach einem Zipfel seines blutbefleckten Mantels und hielt ihn hoch. „Siehst du das? Das ist das Blut eines einfachen Händlers, der an seinem Marktstand abgestochen wurde wie eine Sau. Am helllichten Tag. Ohne ersichtlichen Grund. Dein Freund hat damit gewiss nichts zu tun. Wahrscheinlich hat auch der Dieb mit dem Mord selbst nichts zu tun, aber er hat etwas mitgenommen, was diese Tat erklären könnte. So wie ihr nach dem Ewigen im Flüchtigen sucht, suchen wir die Wahrheit. Also denk bitte noch einmal nach, ob dir zu Serapio noch irgend etwas einfällt. Wir wollen ihm nichts Böses, wir brauchen schlicht seine Hilfe.“

    Trotz der recht frühen Stunde war Antias schon seit gefühlten Ewigkeiten unterwegs. Wochen, Monate hatte er ungeduldig darauf gewartet, Ausgang zu erhalten. So träge wie Brackwasser in einem Seitenarm des Tiberis war die Zeit dahin geströmt, und nun, da die Stunden endlich ihm gehörten, schossen sie davon wie ein reißender Bergbach. Sein Herz, sein Geist und nahezu all seine Sinne zogen ihn schier unwiderstehlich nach Trans Tiberim, wo Apolonia gefangen war in ihrem Versteck, das wohl eher einem Verließ glich. Doch so übermächtig die Sehnsucht nach ihr auch war, es gab ein paar Dinge, die es zu erledigen galt, bevor er sie in die Arme schließen durfte.


    Der Erwerb einer neuen blauen Ziviltunica gehörte zwar nicht unbedingt dazu, war aber angesichts seiner deutlich breiter gewordenen Schultern dringend notwendig gewesen. So hatte er also versucht, sich auf der Suche nach Mitbringseln für sie und den Senator möglichst zügig durch die hoffnungslos überfüllten Märkte zu schieben, was sich zu Zeiten der Saturnalien natürlich äußerst schwierig gestaltet hatte. Dementsprechend abgehetzt war Antias endlich an der Casa Germanica angelangt.


    Das Peristyl empfing ihn nicht wie erhofft mit den betörenden Düften aus seiner Erinnerung. Wie auch, es war Winter geworden. Was hatte er denn erwartet? Trotzdem suchte er mit bebenden Nasenflügeln nach letzten Spuren der sommerlichen Wohlgerüche, aber der gepflegte Vorgarten atmete nur noch die bittere Schwere der Vergänglichkeit aus. Enttäuscht wandte sich Antias von den braunen Sträuchern ab, nahm sein schweres Bündel wieder auf, trat an die Porta und betätigte dreimal den schweren Metallring.

    Antias konnte nicht umhin, die Priester insgeheim um ihre einfältige Rechtschaffenheit zu beneiden. Für sie stellten sich die Dinge angenehm simpel dar. Wer sich einmal für ein Leben in ihrem verwinkelten Sakralbau entschieden hatte – den sie obendrein als rechtsfreien Raum zu betrachten schienen – war damit automatisch über alle Anfechtungen erhaben. So einfach konnte die Welt sein, wenn man sich durch dicke Mauern vor ihren Widrigkeiten zu schützen wusste. Wie lange war jener Initiand nun schon im Tempel? Seit dem Frühjahr, ein paar Monate also. Keine all zu lange Zeit. Dennoch glaubten die Priester ihren Schützling gut genug zu kennen, um ihn von jedwedem Verdacht freisprechen zu können, gerade sie, die offenbar nicht einmal über das Kommen und Gehen der Tempelbewohner informiert wurden.


    Nicht bei den Priestern hatte sich der Verschwundene also abgemeldet, sondern bei seinem Glaubensbruder. Für Antias sagte dieser Umstand bereits alles über den tatsächlichen Wissensstand der naiven alten Faserbärte aus. Sollte der Optio ruhig versuchen, aus den Priestern oder den Umstehenden weitere Informationen heraus zu ktzeln, der war gut in sowas. Antias hätte diese Geduld kaum aufbringen können, zumal es ihm ohnehin nicht anstand, sich direkt in Avianus’ Befragung zu mischen. Aber vielleicht konnte er dem nicht unsympathisch wirkenden Kerl mit der seltsamen Frisur ein paar Angaben entlocken. Immerhin schien er den gesuchten Initianden als letzter gesprochen zu haben. Ruhig trat er ein paar Schritte näher an den sichtlich nervösen Burschen heran. “Castus, nicht wahr?“ fragte er fast beiläufig. „Wenn sich dieser Serapio dir anzuvertrauen pflegt, scheint ihr ja recht gut befreundet zu sein. Dass er sich bei dir abgemeldet hat, entlastet deinen Freund jedenfalls ungemein.“ Antias ließ seine beruhigenden Worte wirken, lächelte, nickte versonnen vor sich hin. „Sicher geht es da nur um irgendwelche Familienangelegenheiten. Welcher Familie entstammt er nochmal?“

    Antias hatte die Nase voll bis zu den Haarwurzeln. Es war ihm schon klar gewesen, dass der händelsüchtige Koloss so schnell nicht friedlich werden würde. Zu sehen, wie der Bursche sich in fast bewundernswerter Sturheit wieder auf die Beine zwang, verblüffte ihn dennoch. Wie konnte ein einzelner Kerl nur so dämlich sein? Auch wenn ihm im Eifer des Gefechtes entgangen sein mochte, dass Antias mit erhobener Hasta direkt hinter ihm stand, so waren die restlichen fünf Urbaner, die den Klotz umlauerten, nun wirklich nicht zu übersehen. Selbst der weichgeklopfte Sagitta hatte inzwischen seinen Gladius aus der Scheide gefummelt, eine ernsthafte Bedrohung stellte er allerdings noch immer nicht dar. Was wollte dieser Brocken eigentlich? Einen glorreichen Tod im Kampf? Antias konnte nicht viel Glorie darin entdecken, in einer schmierigen Popina zerteilt zu werden wie Schlachtvieh. Vielleicht gehörte der Granitklumpen ja zu der seltenen Sorte von Menschen, die erst durch Schmerzen so richtig in Stimmung kamen. Nun gut, das ließ sich herausfinden. Antias schlug zu. Einmal. Zweimal. Beim dritten mal durchlief ein bedenkliches Knacken den Schaft seiner Hasta. Am Ende würde man ihm die gesplitterte Stoßlanze womöglich noch vom Sold abziehen. Beim Sack des Iuppiter, der Tag hatte sich wirklich gelohnt!

    Aufmerksam kramten sich die Milites durch beide Bündel, konnten aber tatsächlich nur Wolldecken und Verpflegung darin finden. Auch die Leibesvisitation brachte keine Waffen zum Vorschein. So weit schien alles in Ordnung zu sein. Dennoch hatte Antias so seine Zweifel an der Geschichte des lahmen Peregrinus. Ein friedliches Volk ohne Waffen, ausgerechnet im Osten? Muskulöse Händler zu Pferde ohne nennenswertes Gepäck? Ein Wirt ohne ein Granum Fett auf den Rippen? Das konnte der Bursche seinem Gaul erzählen. Was auch immer die wahre Profession der beiden sein mochte, das Gastgewerbe war es mit Sicherheit nicht. Außer einem unguten Gefühl hatte Antias jedoch nichts zu beanstanden, und für Sulca war die Angelegenheit offensichtlich ebenfalls erledigt. Tief in seinen klammen Mantel gehüllt stapfte der Cluvier davon in die windgeschützte Dunkelheit des Tores. “Caupona Aluta, richtig?“ wandte sich Antias an den vorgeblichen Schankwirt. „Vielleicht sollten wir da wirklich mal vorbei schauen. Ist gut, ihr könnt passieren.“