Wie es ihm ergangen war? Wo sollte er da anfangen? Antias blickte unentschlossen von Ferox auf den Senator und schließlich wieder auf die Spitzen seiner Caligae. „Naja, ich weiß nicht .. bevor ich erzähle, wie es mir ergangen ist, sollte ich mir vielleicht erst mal darüber klar werden, wie es mir im Moment ergeht.“ Aber gut, warum nicht. Wenn das heute der Tag für Wahrheiten war, dann sollte es eben so sein.
„Ich denke, als Kind war ich recht glücklich. Meine Mutter und ich waren zwar in einem äußerst schäbigen Nebengebäude des Castellums der Secunda untergebracht, aber ich kannte es nicht anders und meiner Mutter hat das wohl auch nicht viel ausgemacht. Viele Soldaten der Garnison hatten Frauen und oft auch Kinder vor den Lagertoren, das war nichts außergewöhnliches. Natürlich war es ihnen nicht erlaubt, vor Ablauf der Dienstzeit zu heiraten, wilde Ehen wurden aber durchaus toleriert.
Germanicus Varus hat uns aus seinem Sold unterstützt und nach uns gesehen, wann immer er die Möglichkeit dazu hatte. Die Winter waren die schönste Zeit im Jahr. Keine Manöver, keine größeren Patrouillen, die Soldaten blieben im Lager und mein Vater hatte Zeit, sich um mich zu kümmern. Er hat mir eine Menge beigebracht, eigentlich das Meiste von dem, was ich heute weiß und kann. Im Sommer waren seine Besuche dagegen weit seltener, was regelmäßig zu der paradoxen Situation geführt hat, dass bei uns ausgerechnet im Sommer Geld und Nahrung knapp wurden. Aber wie gesagt, ich kannte es nicht anders. Irgendwann würden wir sowieso alle zusammen in ein schönes kleines Haus ziehen, hatte Varus mir versprochen, irgendwo in Panonien vielleicht oder Aquitanien. Tja ...“
Antias hatte genug von seinen Stiefeln gesehen. Nachdenklich hob er den Blick zu Ferox. „.. und dann wurde es wieder einmal Winter, und Varus kam. Einmal, dann nicht mehr. Nicht zu den Saturnalien, nicht zum Neujahrsfest, er tauchte nie wieder auf. Von einem seiner Kameraden wurde uns Wochen später mitgeteilt, dass er seit einer Kuriermission als vermisst gilt. Meine Mutter hat sich ausgezehrt in ihrer Trauer, monatelang. Ich nicht. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass er am Leben und einfach fortgegangen war. Geflohen vor seinem Weib, der einstigen Hure und vor seinem nicht standesgemäßen Sohn. Und ich habe ihn dafür gehasst.
Als es Frühling wurde und meine Mutter noch immer in Schmerz versunken war, habe ich begonnen, auch sie zu hassen. Für die endlosen Streitereien mit meinem Vater, für ihre Herkunft, für das Leben, das wir führten, für alles. Während ich ihrem Einfluss langsam entglitt, begann sie wieder ihrem alten Gewerbe nachzugehen, um uns beide irgendwie durchzubringen. Sie hat mir Essen, Kleidung, einen warmen Schlafplatz ermöglicht, und dafür nichts von mir geerntet als Verachtung.
Anstatt mich selber irgendwie nützlich zu machen, hab ich meine Tage mit Würfeln, Saufgelagen und Schlägereien vertan. Für mich war es immer Winter geblieben. Meine Mutter wurde schon in jungen Jahren alt. Dann wurde sie krank. Aber sie arbeitete so lange sie konnte. Schließlich beschloss ich doch noch, ihr zu helfen und schleppte ihr die bitter benötigten Freier in’s Haus. Ich war der Zuhälter meiner eigenen Mutter. Bis zu ihrem Tod. Hätte ich gewusst, dass ich noch irgendwo einen Bruder habe .. oder hätte ich mich wenigstens damit abgefunden, dass mein Vater umgekommen war .. alles wäre sicher ganz anders verlaufen. Aber so ...“ Sein Blick fiel wieder zu Boden.
„Vielleicht wäre es besser gewesen, in Germania zu bleiben und in irgendeiner schmierigen Kaschemme erschlagen zu werden. Aber ich wollte einfach noch ein oder zwei Dinge in meinem Leben richtig machen, schon um zu wissen, wie sich das anfühlt, etwas richtig zu machen. So bin ich also nach Roma aufgebrochen, um Angehörige meiner Familie zu finden und vielleicht einen Rat zu erhalten, was ich mit meinem versauten Leben nützliches anfangen kann. Senator Germanicus Sedulus hat mir diesen Rat gegeben, mir seine Gastfreundschaft gewährt ... ohne viel zu fragen. Einfach so. Mir, einem ungehobelten wertlosen Bastard. Es tut mir leid, Senator ...“ mehr kam nicht aus ihm heraus. Seine Zähne pressten sich aufeinander, der Hals wurde ihm eng. Der Tag für Wahrheiten. Was für ein Scheißtag.