Beiträge von Titus Germanicus Antias

    Sulca war zwar ein unerträgliches Stinktier, aber eines musste man ihm lassen, wenn sich irgendwo auch nur kleinste Anzeichen von Renitenz zeigten, war er sofort mit Eifer bei der Sache. So hatte die barsche Entgegnung des sprechenden Vollbartes den Cluvier denn auch umgehend dazu bewogen, Antias Aufforderung zum Absitzen mit angelegter Hasta Nachdruck zu verleihen. Auch der zweite Reiter ließ sich vom Pferd gleiten und humpelte sichtlich um Entspannung der Situation bemüht auf Antias zu. Ein Wirtshaus wollte er also übernehmen? Wie ein Wirt sah der Bursche beileibe nicht aus, aber wenigstens hatte er weit bessere Manieren als sein schlecht gelaunter Freund. Zudem musste Antias den beiden zugute halten, dass sie von Pisaurum bis nach Roma einen respekteinflößenden Ritt hinter sich gebracht hatten, zumal um diese Jahreszeit.


    „Aha, Cumidava.“ wiederholte Antias mit einem schwachen Nicken. Nicht, dass er auch nur den Schimmer einer Ahnung gehabt hätte, welcher Weltgegend er dieses Cumidava zuordnen sollte. Aussehen und Sprachfärbung der Männer zumindest wiesen eindeutig nach Osten. Letztlich spielte es allerdings keine Rolle, ob er es hier mit Illyrern, Dakern oder Pontiern zu tun hatte, berittenen Peregrini aus dem Osten hatten allemal erhöhte Aufmerksamkeit verdient. „Ziemlich wenig Gepäck für eine solche Reise, oder? Führt ihr Waffen mit?“

    Obwohl die Dämmerung noch längst nicht angebrochen war, verfinsterte sich der Himmel in bedrohlichem Tempo. Von der Küste herauf streckten schwere schwarzblaue Wolkentürme ihre eisigen Finger mach der Urbs aus. Antias erlaubte sich einen prüfenden Blick nach Westen und sah dort nichts als wabernde Schwärze. Der stetig auffrischende Wind brannte in den Augen, das würde alles andere als gemütlich werden. „Ach du Scheiße!“ hörte er Sulca neben sich fluchen. „Die fegen heute den Orcus aus.“ Sah ganz danach aus. Entsprechend unruhig wurde es unter den wartenden Passanten. Aber alle Ungeduld, so nachvollziehbar sie auch war, half nichts. Wetter hin oder her, die Milites hatten ihre Arbeit zu erledigen. Immerhin schien Sulca sich plötzlich daran zu erinnern, wozu er hier war und zu zweit gingen die Kontrollen wundersamerweise weit flüssiger vonstatten. Nachdem er Sulca geholfen hatte, einen havarierten Handkarren beiseite zu zerren, wurde Antias plötzlich von oben angebrummt. Vor ihm standen zwei dampfende Gäule mit jeweils einem Reiter gekrönt, von denen einer aussah als könne er dem nahenden Sturm allein mit seiner finsteren Miene Einhalt gebieten. Schön, dass der Riese sich und seinen Begleiter bereits ungefragt vorgestellt hatte. Das würde ihm den Rest der Formalitäten allerdings nicht ersparen. „Salve.“ entgegnete Antias etwas misstrauisch. „Ihr möchtet also passieren? Dann steigt erstmal von den Pferden. Woher kommt ihr und was führt euch in die Urbs?“

    Irgendwann während der Quarta Vigilia, in den bleischweren und hoffnungslos schwarzen Stunden, die dem Morgen vorangingen, kamen Antias und Marullus benommen in die Unterkunft gewankt. Alles schlief, nichts regte sich, sogar die Glut in der Kochstelle schien zu einem fahl leuchtenden rötliche Eisklumpen erstarrt. Mit einem seltsamen Gefühl der Taubheit in den Knochen griff Antias nach seinem Mantel, wickelte sich zitternd darin ein und ließ sich matt auf sein Lager fallen. Marullus schwebte kreidebleich an den Betten vorbei. Stumm blickte Antias der gespenstischen Gestalt hinterher, bis sie sich im Dunkel der hinteren Baracke aufgelöst hatte. Was hätte er sagen sollen? Nicht einmal annähernd konnte er sich vorstellen, wie es in Marullus aussehen mochte, dem in sich gekehrten Zwilling, der nun keiner mehr war. Tutor war gestorben, kaum eine Hora, nachdem sie ihn in’s Valetudinarium geschafft hatten. Noch auf dem Weg dorthin war er in einer fiebernden Ohnmacht versunken, die seinen verkrampften Zügen mit der Farbe von Schwefel überzogen hatte. Von blankem Entsetzen gepackt waren sie die letzten paar Perticae gerannt, hatten heran eilenden Sanitätssoldaten unzusammenhängende Sätze zugebrüllt und ihre leblose Last schließlich vorsichtig auf eine freie Pritsche gehievt. Da Marullus kein weiters Wort mehr zu entlocken gewesen war, hatten sowohl Sanitäter als auch ein rasch herbeigerufener Medicus Antias mit Fragen überschüttet, von denen er kaum mehr wusste, ob und wie er sie beantwortet hatte. Eine Vergiftung? Ein innere Verletzung bei den Waffenübungen? Kontakt mit kranken Menschen oder Tieren? Woher hätte er das alles wissen sollen? Er wusste nur eins: Wenn er am frühen Abend seine Zeit nicht mit dieser unseligen Streiterei verschwendet und seine Aufmerksamkeit gleich dem – in Nachhinein offensichtlich – kranken Kameraden zugewandt hätte, wäre Tutor vielleicht noch am Leben. Vielleicht. Ein spitzer Schnarcher von der Nebenpritsche riss ihn aus seinen Grübeleien. Wie würde es nun mit Marullus weitergehen? Wenn schon an Antias schwerste Gewissensbisse nagten, mit welcher brennenden Flut an Selbstvorwürfen mochten sich Marullus erst zerfleischen? Erschöpft stand Antias auf, tastete sich vorsichtig zum hinteren Teil der Baracke und fand Marullus’ Bett unberührt. Irritiert wandte er sich in Richtung der Barackentür. Hätte der Kamerad die Barracke unbemerkt wieder verlassen können? Gerade als Antias im Begriff war, auf die Tür zuzueilen, vernahm er ein leises Wimmern hnter sich in der Dunkelheit. Auf dem Lager Tutors hatte sich Marullus tief in die besudelte Strohculcitra gewühlt. Ein unkontrolliertes Zucken durchlief seinen Körper, begleitet von fast tonlosem Schluchzen. Antias schluckte ein paarmal trocken, bekam den faustgroßen Stein, der ihm in der Kehle saß aber nicht hinunter. Hier konnte er nicht helfen. Wieder nicht.

    „Nun denn ..“ lachte Antias trotz Hunger und Müdigkeit. „.. so ist dein Leumund unbefleckt ..“ Mit einer ausladenden Handbewegung winkte er er den jungen Iulier durch. „.. und damit mein Vertraun’ erweckt.“ Schräg hinter sich hörte er Sulca aufstöhnen. Gut, zugegeben, das war albern, aber nur katatonisch vor sich hinzudünsten zeugte auch nicht gerade von männlicher Reife. Gähnend sah Antias den Iulier durch’s Tor marschieren und drehte sich schließlich mit herausfordernd erhobenen Armen zu Sulca um. „Was?“ Der Cluvier machte ein Gesicht als hätte er einen Pferdeapfel verschluckt. „Du untergräbst unsere Autorität mit deinem saudämlichen Gesäusel!“ Ach, tat er das? Wohl kaum. Er machte seine Arbeit, sonst nichts. „Und du untergräbst meine Moral mit deiner verkniffenen Leidensfresse.“ Sulca hatte verdammtes Glück, in der Urbs geboren und aufgewachsen zu sein, den hätte garantiert keine Torwache reingelassen.

    Antias nickte müde. Ja, es war mitunter aufregend am Tor. Ja, jeder, der in die Stadt wollte, gab vor, in die Stadt zu wollen. Und ja, auf die Ablösung hoffte er ebenfalls. Andererseits hatten wohl fast alle Reisenden, die hier eintrafen, weit größere Strapazen hinter sich als ein paar Stunden Torwache. Eigentlich ein Wunder, dass sich die meisten davon weitgehend am Riemen rissen und die Kontrolle fatalistisch über sich ergehen ließen. Vor ihm stand nun also ein nicht unfreundlicher Iulier aus Ostia, der offenbar das erste mal die Urbs zu besuchen gedachte. Kaum Gepäck, keine sichtbar getragene Waffe, soweit alles in Ordnung. Nachfragen musste er trotzdem. „Salve, Iulius Stilo. Dein Mitgefühl ehrt dich. Ich nehme an, du trägst keine Waffen bei dir?“

    Immer noch grinsend blickte Antias dem fürwitzigen Burschen nach. Krummer Hund oder nicht, der würde sich in der Urbs sicher irgendwie durchbeißen. A propos durchbeißen, mittlerweile hätte Antias sich durch einen galoppierenden Eber beißen können, sein Magenknurren drohte sogar Sulcas’ permanentes Gerülpse zu übertönen. Zeit für die Wachablösung. „He Sulca.“ rief er seinem verkaterten Kameraden zu. „Falls dir langweilig ist, da stehen ’n paar Leute rum .. ich mein ja nur.“ Wie erwartet ließ sich Sulca zu keinem Kommentar herab. Auch recht. Wenn hier nicht unvermittelt irgendwelche Barbarenhorden aufkreuzten, würde er den Rest der Wache auch alleine bewältigen. Der nächste Passant in der Schlange sah glücklicherweise nicht wie eine Barbarenhorde aus. Ein Gähnen unterdrückend trat Antias auf den Reisenden zu. „Salve, Civis. Lass mich raten, du willst in die Stadt, richtig? In dem Fall wüsste ich gerne, wer du bist und woher du kommst.“

    Eigentlich schade, dass Sulca nur vermindert einsatzfähig war, der hätte sich an dem vorlauten Kerlchen sicher virtuos abgearbeitet. Immerhin, einen Sinn für Selbstironie hatte der Bursch ja. Unwillkürlich zerrte ein Grinsen an Antias’ Mundwinkeln. Der ehrenwerte Bürger war vermutlich ein mehr oder minder krummer Hund, aber von der Sorte gab es in Roma Exemplare jeglicher Rasse und Krümmung, da würde einer mehr kaum Schaden anrichten, und Waffen hatte er tatsächlich keine dabei. „Wäre schwierig, dir das Ding abzunehmen, Civis.“ schmunzelte Antias. „Aber vielleicht besorgst du dir gelegentlich ein Futteral dafür.“ Amüsiert trat er einen Schritt zur Seite. „Also dann, willkommen in der Urbs Aeterna. Mein tief empfundenes Mitgefühl an die werte Verwandtschaft.“

    Auch wenn Antias seinen Schlag nur als Teilerfolg verbuchen konnte, hatte er es zumindest geschafft, den geifernden Hünen auf durchschnittliche Augenhöhe herunter zu stutzen. Dass dieser davon nachhaltig zu beeindrucken war, durfte allerdings bezweifelt werden. Noch während der sichtlich benommene Bursche seinem Zorn mit Schmähungen Luft machte, krallte sich dessen Pranke bereits um die Streben eines Hockers. Flink trat Antias hinter den Knienden, hob die Hasta zu einem finalen Hieb, wartete dann aber noch ab, um den gefallenen Riesen in den Genuss von Avianus’ wütender Replik kommen zu lassen. Der Optio schien extrem angefressen zu sein. Kein Wunder. Nicht genug, dass diese streitsüchtige Riesenqualle sich den Anordnungen widersetzt und zwei sehr brauchbare Urbaner und einen heißblütigen Narren vermöbelt hatte, nein, jetzt wurde der Kerl auch noch unhöflich. „In Ordnung, Gigas .. du bist ein beeindruckender Kämpfer, wir haben’s kapiert.“ zischte Antias auf den massigen Hinterkopf ein. „Und jetzt lass den Hocker los und nimm die Hände auf den Rücken.“ Inzwischen hatten sich Pennus und Carbo mühsam wieder aufgerappelt, nur Sagitta saß noch immer verwirrt glotzend auf seinem Hinterteil. Antias taxierte den erledigten Heißsporn mit einem kurzen Blick. Der würde schon wieder auf die Beine kommen, nur die ehedem formschöne fast schon aristokratisch anmutende Nase war hin. Tja, selber schuld. Immerhin, auf manche Frauen machte eine derart verwegene Visage ja einen unwiderstehlichen Eindruck. Pennus fummelte sich derweil geistesgegenwärtig den Schulterriemen herunter während sich der schwankende Carbo mit gezogenem Gladius an der linken Flanke des Bullen postierte. Schräg hinter dem Optio hervor suchte Sulcas funkelnder Blick auf der Brust des Stänkerers bereits die ideale Stelle um sein Schwert zu versenken. Wenn der widerspenstige Arsch jetzt nicht langsam zur Vernunft kam, würde das hier in eine verfluchte Sauerei münden. „Was ist jetzt? Ich sag’s nicht nochmal!“

    „Verstehe.“ nickte Antias zufrieden. Ein Besuch bei Verwandten also, endlich mal einer, der die Frage nach dem genauen Ziel verstanden hatte. Die latente Blasiertheit, mit der seine Fragen beantwortet worden waren, amüsierte ihn kaum weniger als der Anblick seines brummschädeligen Kameraden. Für die meisten Passanten stellten die Torwachen nur eine unliebsame Reiseunterbrechung dar, ebenso lästig wie platzgreifende Urbanerpatrouillen in den ohnedies bereits überfüllten Straßen der Urbs, bis zu dem Moment, an dem die ehrenwerten Cives von Straßenräubern angefallen wurden oder sich einfach nur in die falschen Viertel verirrten. Nun gut. „Führst du irgendwelche Waffen mit?“

    Antias verfolgte das Gerangel mit einer Mischung aus Überdruss und Verwunderung. Der randalierende Klotz hatte unbestreitbar Feuer in den Armen, nur im Hirn schien ein vergleichbar mickriges Flämmlein zu flackern, anders ließ sich die Kopfnuss gegen einen eisernen Urbanerhelm nicht erklären. Zwar taumelte Pennus benommen zurück, aber einen Gefallen hatte sich der Raufbold mit dieser Aktion sicher nicht getan. Dumm nur, dass sich der Bursche auf diese Weise Pennus’ Hasta hatte bemächtigen können. Fluchend warf Antias das Scutum von sich, packte seine Stoßlanze mit beiden Händen und sprang über die umgestürzte Sitzbank. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, wie sich der Optio mit verbissenem Gesicht dem Wüterich näherte, während Sulca die Hasta ablegte und den Gladius zog. Im Hintergrund begrub der fallende Pennus splitternd einen Stuhl unter sich, linker Hand sah Antias den auf Rache sinnenden Carbo an sich vorbei stürmen und direkt in einen gewaltigen Schwinger rennen. Das war hier keine Taberna mehr, das war ein wimmelnder Affenkäfig. Wie auch immer, irgendwann würde auch dem tobenden Fleischkloß die Puste ausgehen, die harten Schläge, die der Optio mittlerweile austeilte, waren da schonmal ein vielversprechender Ansatz. Antias wartete kurz ab, bis sich der Koloss zu Avianus umgedreht hatte, schnellte dann nach nach vorn und drosch dem blöden Sack die Hasta schwungvoll in die Kniekehlen. Einen Baum fällte man schließlich nicht, indem man ihn nur anpinkelte.

    In verkatertem Zustand war Sulca unglaublicherweise noch griesgrämiger als sonst. Da waren beim gestrigen Ausgang wohl ein paar Amphoren zu viel geschlachtet worden. Für jeden anderen hätte Antias durchaus Mitgefühl aufbringen können, aber wie er den zerknitterten Blödmann da so stehen sah, mit verschwiemeltem Blick kraftlos auf seine Hasta gestützt, konnte er sich ein paar Frotzeleien nicht verkneifen. „Dreckswetter, oder?“ knurrte Antias in der kehligen Stimmlage des Cluviers. „Und dann noch das ganze Zivilistenpack, was? Überhaupt, früher hätt’s das nicht gegeben, stimmt’s“ Sulca spuckte ihm wortlos einen Klumpen Schleim vor die Caligae. „Und LAUT ist hier am Tor, nicht wahr?“ bohrte Antias weiter, doch es war sinnlos. Der Verhöhnte mahlte nur finster mit den Backenzähnen, von dem war heute wohl kein ernsthafter Widerstand zu erwarten. Sei’s drum, für Keilereien hatten die Milites ohnehin keine Zeit, das reisende Volk harrte der zügigen Abfertigung. Seufzend wandte sich Antias vom leidenden Cluvier ab dem nächsten Passanten zu. „Salve Civis. Wer bist du, woher kommst du und wo genau soll die Reise hinführen?“

    Antias spuckte genervt aus. Das lief ja alles ganz hervorragend. Natürlich bekam Sagitta umgehend die Quittung für seinen gedankenlosen Vorstoß. Mit weichen Knien schwankte der getroffene Miles ein paar Schritte zurück und ging direkt vor Antias zu Boden. Na wunderbar. Trotz aller kameradschaftlichen Verbundenheit war er sich ein paar Atemzüge lang absolut nicht sicher, wem er lieber den Hals umdrehen würde, Sagitta oder dem renitenten Suffkopf. Aber es half nichts, sowas konnte vorkommen, wenn man meinte, Optio und Tribunus um’s Verrecken beeindrucken zu müssen. Da nun bereits drei reglose Körper plus einer gekippten Sitzbank den Weg versperrten, begab sich Antias noch weiter nach rechts in die Flanke des bulligen Stänkerers.


    Während Pennus an einer Tischkante hängen blieb, warf sich Carbo mit erhobenem Scutum gegen die Front des Schlägers. Der taumelte zunächst einen Schritt zurück, fing sich aber schnell wieder und bekam Carbos’ Schild zu fassen, an dem er den Miles auf Antias zu schleuderte. Der wiederum riss stocksauer die Hasta beiseite um Carbo nicht damit abzufangen. Die Stoßlanze mochte gegen Reiterei ja ganz tauglich sein, mit ihr zwischen Möbeln und herumwirbelnden Kameraden hindurch zu stochern, erschien Antias nicht unbedingt zielführend. So langsam hatte er die Faxen wirklich dicke. Höchste Zeit, dass Pennus den Sack zumachte. Als hätte er Antias’ wortlosen Aufruf vernommen sprang Pennus denn auch nach vorn und holte mit der Hasta aus. Antias trat ebenfalls ein paar Schritte vor und drehte seine Hasta mit dem Lanzenschuh in Richtung des Gegners. Eine Chance wollte er dem Prügel noch geben, aber nur eine.

    Verständnislos beobachtete Antias den Raufbold dabei, wie er den kaum zu Besinnung gekommenen Zecher wieder in die Ohnmacht stiefelte. Was hatte der Bursche für ein Problem? War er einfach nur strunzbesoffen? Saublöd? Hielt er sich gar für eine Art unbesiegbaren Halbgott in der Tradition eines Hercules? Vermutlich traf hier alles zusammen, sonst hätte ihm klar sein müssen, dass er nach dieser Aktion die Taberna nicht mehr auf zwei Beinen verlassen würde, Größe und Kraft hin oder her. Solche Gestalten nervten einfach nur. Der Optio schien den Kanal nun ebenfalls voll zu haben und befahl die Festnahme. Gut. Antias hatte für den nächsten Tag endlich Ausgang erhalten und je schneller das hier über die Bühne ging, desto früher würden sie wieder in den Castra sein, wo die Lagerthermen seiner harrten. Den Blick starr auf den Delinquenten geheftet schob Antias mit dem Fuß einen umgestürzten Stuhl zur Seite, um Carbo und Pennus bei ihrer Attacke zur Not beispringen zu können. Aber noch bevor die beiden Milites den Fleischberg erreicht hatten, stürmte bereits Sagitta los, die Hasta leichtsinnigerweise in der Schildhand. Idiot! durchfuhr es Antias. Mit der freien rechten Hand packte Sagitta den derben Klotz am Arm. „Du kommst jetzt mit, klar?“

    Die Reaktion des Optios barg keinerlei Überraschungen. Davon, dass ein einziger Versuch ausreichen würde, die hohe Kunst der Kurve zu erlernen, konnte selbst der unverbesserlichste Optimist nicht ausgehen. Also stampften die Tirones wieder los, der Nordwestecke des Exerzierplatzes zu. Auf der Geraden, fand Antias, bot die Marschkolonne bereits einen recht homogenen Eindruck. Einen Anlass zu gesteigerter Euphorie sah er darin allerdings nicht. Schließlich hatten sie alle schon in zartestem Kindesalter zu laufen begonnen, auch wenn ein paar Rekruten den Anschein erweckten, als hätten sie einige Stadien der frühkindlichen Entwicklung schlichtweg verschlafen. Links, links, links und beherzt in die nächste Kurve. Wieder drohte die Reihe an der Außenseite nach vorn zu kippen, aber diesmal war es Fimbria, der den Nebenmann zu seiner Rechten am Gürtel packte und auf Linie zwang. Etwas zu langsam zwar, aber dafür geschlossen ließen die Tirones die Kurve hinter sich. Geradeaus. Links. Links. Die Südwestkurve nahm die Kolonne schon ohne korrigierende Eingriffe. Antias fand allmählich Gefallen an dem gleichmäßigen Gestampfe, und wie es schien ging es den anderen Rekruten ähnlich. Je weniger sie über korrekte Schrittlänge und akkuraten Marschrhythmus nachdachten, desto besser funktionierte es. Allein Hispo schien mit seiner Position nicht allzu glücklich, was nachzuvollziehen war. Ausgerechnet der mit Abstand größte Tiro hatte die Innenseite erwischt und musste in jeder Kurve seine endlosen Keulen neu sortieren. Antias empfand durchaus Mitgefühl mit der langen Latte, amüsierte sich aber insgeheim köstlich darüber, dass Hispo um die Kurven trippelte wie eine persische Edelnutte. Weiter. Links. Links. Am zerfurchten Knautschgesicht des Optios vorbei wieder nach Norden. Gleichschritt. Ordnung. Harmonie. Fehlte nur noch, dass Fimbria ein launiges Liedchen anstimmte.

    Mit zunehmendem Unbehagen versuchte Antias, die Situation einzuschätzen. Sagitta reagierte unverzüglich auf die Anweisung des Optios und zog sich ein paar Schritte zurück, der klobige Brecher schien dagegen nicht sonderlich beeindruckt von der Präsenz der Urbaner. Zwar hatten sich Carbo und Pennus bereits grinsend im Rücken des Fleischberges postiert, aber die sichtliche Vorfreude der beiden, einem besoffenen Querulanten das Fell gerben zu können, erschien Antias als etwas zu optimistisch. Hier war verdammt wenig Platz für irgendwelche Manöver. Die erdrückende Übermacht der Milites konnte sich in diesem engen Verschlag mit etwas Pech leicht gegen sie wenden. Dass einer der beiden Niedergeschlagenen langsam wieder zu sich kam und desorientiert herumkroch, machte das Terrain erst recht heimtückisch. Sollte es zum Zugriff kommen, war Antias der direkte Weg zu diesem massigen Burschen zusätzlich durch einen Tisch und zwei Stühle versperrt. Erneut setzte er ein paar vorsichtige Schritte nach rechts, dort aber lag das zweite Opfer neben einer umgestürzten Sitzbank. Ein wahrlich beschissener Ort für den Nahkampf. Wenn der Kerl mit Worten nicht besänftigt werden konnte, wäre es wohl das beste, wenn er irgendeine Waffe in’s Spiel brächte und damit den Einsatz der Hastae rechtfertigte. Antias hoffte das beste und machte sich auf das übelste gefasst.

    Die Nächte waren empfindlich kühl geworden, zumal für wütende Milites, die unbemäntelt durch die Dunkelheit stiefelten. Stunde um Stunde hatte Antias die Castra durchstreift, war von den Unterkünften an den Thermen vorbei zum Nordtor geschlappt, dann der Mauer entlang nach Westen durch die Gasse wo Apolonia und er sich geliebt hatten, schließlich nach Süden auf die Principalis und wieder ostwärts, bis ihm der Grund für seinen Zorn fast entfallen war. Hispos’ Reaktion war nicht viel anders ausgefallen als erwartet. Antias kannte seinen Freund zu gut, um nicht zu wissen, dass die gehässigen Anfeindungen nicht ihm gegolten hatten, sondern einem passiven Ehrgeiz entsprungen waren, der in keinem Verhältnis zu den tatsächlich erbrachten Leistungen stand. Hispo konnte ohne Frage sehr motiviert und pflichtbewusst sein, aber eben nur wenn er Lust dazu hatte. Im Grunde war er ein Hedonist. Und was war Antias selbst? So genau wollte er das gar nicht wissen.


    Erst nach dem Wechsel zur zweiten Nachtwache kehrte Antias völlig durchgefroren in die Baracke zurück, eigentlich nur, um seinen Mantel zu holen. Die anheimelnde Stille, die sich der Unterkunft inzwischen bemächtigt hatte, verleitete ihn allerdings dazu, die Reste seiner Wut vollends hinunter zu schlucken. Das hier war schließlich auch seine Baracke, da stand seine Pritsche und was da unregelmäßig vor sich hin schnarchte, waren seine Kameraden. Leise schlich er zur Kochstelle, setzte sich mit dem Rücken zur verblieben Glut auf die halbhohe Umfassung und wärmte dankbar seine steifen Knochen. Von ganz hinten, dort wo die Zwillinge ihre Lager hatten, drang ein langgezogenes Stöhnen durch das Geschnarche. Antias spähte in die Dunkelheit, sah das leere Bett von Marullus und wandte sich grinsend wieder ab. Die zwei waren zu beneiden, die hatten wenigstens einander und mussten sich nicht zwischen Dienst und Liebe entscheiden. Gähnend starrte er in die pulsierende Glut. Wahrscheinlich wäre er dort auf der Mauer eingenickt, hätte ihn nicht plötzlich eine kalte Hand auf seiner Schulter hochschrecken lassen. Vor ihm stand der völlig bekleidete Marullus und zog ihn mit sorgenverzerrtem Gesicht in Richtung von Tutors Pritsche, wo das Stöhnen allmählich lauter wurde. In den hinteren Teil der Barracke vermochte der Lichtschimmer aus der Kochstelle kaum mehr vorzudringen, dennoch sah Antias auf den ersten Blick, dass es Tutor beschissen ging. Schweißgebadet hatte er sich auf seinem Lager zusammengekrümmt, hielt sich den Bauch und stöhnte rau zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. Neben seinem Kopf schimmerte eine breite Lache Erbrochenes. „Tutor?“ fragte Antias versuchsweise, erhielt aber nur ein schwaches Keuchen zur Antwort. „Was hat er gegessen?“ wandte er sich an Marullus. „Das gleiche wie ich.“ fistelte es ihm entgegen. „Was?“ „Das gleiche wie ich.“ Das war genau das Problem mit den Zwillingen, man verstand sie nur, wenn sie den Mund nicht aufmachten. „Wie lange geht das schon so?“ „Die ganze Zeit, aber jetzt is schlimmer.“ Antias verstand kein Wort, erinnerte sich aber daran, dass Tutor bereits am frühen Abend wie tot auf der Pritsche gelegen hatte. „Wie auch immer, er braucht einen Medicus, so schnell wie möglich.“ Marullus nickte zwar energisch, blickte dann aber nur hilflos auf seinen leidenden Gefährten. Antias seufzte. Noch ein Hedonist, der meint, alles würde sich schon von selbst erledigen. „Na los! Nimm die unteren Enden seiner Decke, wir bringen ihn in’s Valetudinarium.“ Endlich schien Marullus zu begreifen. Hektisch schnappte er sich die Wolldecke an Tutors Füßen., Antias packte das andere Ende. Vorsichtig schlugen sie die Decke ein und hoben Tutor hoch, was einen spitzen Schmerzensschrei zur Folge hatte, der das restliche Contubernium jäh aus dem Schlaf riss. „Was zum Iuppiter ..“ krächzte Hispo verschlafen aus der Dunkelheit. „Wir bringen Tutor in’s Lazarett.“ „Was .. um die Zeit?“ Antias hatte nicht den Nerv zu einer Entgegnung, trieb stattdessen lieber Marullus voran. „Los, die Tür .. aber sachte, wenn’s geht.“ Marullus hebelte mit dem Ellbogen die Barackentür auf, Tutor stöhnte noch einmal laut und begann sich wieder zu übergeben. Die Tirones sprangen geräuschvoll aus den Betten, Gemurmel wurde laut, Marullus und Antias eilten mit dem keuchenden und kotzenden Tutor in die Nacht hinaus, wieder ohne Mantel.

    Brummend schob sich Sulca hinter Optio Avianus durch den schmalen Eingang. Antias drängte hinterher. Der Schankraum war ein recht enges finsteres Loch und ein verdächtig stilles dazu. Wirtshausschlägereien hatte er etwas lauter und dynamischer in Erinnerung. Zwar waren wohl ein paar Möbel zu Bruch und zwei Gäste zu Boden gegangen, aber den Höhepunkt der Veranstaltung hatten die Milites offenbar verpasst. Trotzdem blieb er auf der Hut. Hier würde jetzt zu klären sein, wer für die entstandenen Kosten aufzukommen hatte. Eine Frage, die erfahrungsgemäß wenig dazu angetan war, die Lage zu entspannen, auch oder gerade wenn die Situation bereits auf den ersten Blick so eindeutig schien wie es hier der Fall war. Von den drei verblieben Gästen saßen zwei betreten schweigend an ihrem Tisch während der dritte – ein massiger Kerl, der die Lust am Krawall geradezu ausdünstete – mit blitzenden Augen in seinen Becher starrte. Der Hergang durfte also geklärt sein, fragte sich nur noch, wer verantwortlich war, und da hatte Antias einen klaren Favoriten. Den wuchtigen Klotz aufmerksam musternd trat er ein paar Schritte nach rechts, um Carbo und Pennus Platz zu machen, die sofort der Wand entlang ausschwärmten. Den beiden hinterher stürmte Sagitta merklich übermotiviert in die Taberna, sah sich um, stampfte auf den Tisch des Radaubruders zu und blieb schließlich mit angelegter Hasta vor ihm stehen, in einem Abstand, der Antias nichts Gutes ahnen ließ.

    Bis zu dem Moment, als den Urabniciani ein kopfloses Knäuel von flüchtenden Tabernabesuchern geradezu vor die Füße stolperte, hatte sich der Tag für Antias’ Geschmack ausgesprochen angenehm etnwickelt. Der Tribunus hatte nach längerer Zeit wieder einmal persönlich das Kommando über ihre Patrouille übernommen und die Männer in weitem Bogen durch die Subura geführt. Bis auf ein paar verjagte Taschendiebe und einen abgestraften Peregrinus, der seinen Hausrat am helllichten Tag auf einem Maultierkarren durch die Gegend kutschiert hatte, war der Marsch relativ ereignislos verlaufen. Antias genoss es, als Miles unter Milites unterwegs zu sein. Auch wenn ihm sein Contubernium beim Dienst noch immer ein wenig abging, hatte er sich doch überraschend schnell an seine neuen Kameraden gewöhnt. Sulca, Carbo, Maso und Pennus kannte er ohnehin bereits von früheren Einsätzen, zumindest mit den letzteren dreien ließ sich problemlos zurecht kommen. Sagitta und Corbulo waren wie er selbst erst vor kurzem zum Miles befördert worden und unübersehbar entzückt darüber, endlich aus den Castra hinaus zu kommen. Die Sonne hatte sich durch den Dunst gekämpft, ein kühler Wind wehte von Westen, keine blutverschmierten Leichen diesmal, keine renitenten Christianer, nicht einmal der neben ihm marschierende Cluvier vermochte Antias mit seiner mürrischen Miene den Tag zu verderben. Alles war in bester Ordnung. Bis zu ebenjenem Moment.


    Vor der stockenden Kolonne hetzten die Flüchtenden scheinbar ziellos über den Gehsteig davon. Der Tribunus gab knappe klare Anweisungen und Antias dämmerte langsam, dass es mit dem entspannenden Teil der Patrouille vorbei war. „Scheiße, was ist da los?“ fragte er sich halblaut. „Bist du taub? `Ne Schlägerei!“ antwortete Sulca wiedermal ungefragt. „Es gibt doch nix besseres, um den Tag ausklingen zu lassen als ein paar plattgehämmerte Nasenbeine, oder?“ Antias seufzte. Das kam ja wohl ganz auf die Perspektive an. Von ihm aus konnte sich der Cluvius gerne den Zinken eindreschen lassen, dann brauchte er selbst es schon nicht zu tun. Die Scuta hoben sich, die Hastae wurden eingelegt. Also ging es nun wohl mitsamt der Tür in die Taberna.

    Aus den Augenwinkeln sah Antias Sulcas’ Kopf wieder aus der Sänfte auftauchen. Ein kurzes Nicken. Der hochangesehene Gerichtsredner schien also sauber zu sein. Seine beiden Begleiter waren das vermutlich ebenfalls. Trotzdem kam Antias seinen Verpflichtungen nach, betastete die Trinkschläuche, löste hier und da ein paar Riemen und überflog den Inhalt der Bündel. „Allerdings. Für die Tageszeit ist das der übliche Betrieb.“ antwortete er dem sichtlich beeindruckten jungen Burschen. „Am Tag stauen sich hier die Reisenden, in der Nacht die Fuhrwerke.“ Proviant, Kleidung, persönliche Gegenstände, keine Waffen, nicht mal ein Pugio. „Es liegt wohl schon Schnee auf den Pässen. Gibt es irgendwelche Neuigkeiten aus Mogontiacum?“ fragte er gedankenverloren, ohne wirklich zu wissen, welche Art von Neuigkeiten er eigentlich meinte. Mogontiacum lag weit hinter ihm. Mit einem kurzen Räuspern riss er sich aus seinen Gedanken und lächelte die Germanen an. „Alles in Ordnung. Ihr könnt passieren.“