Beiträge von Titus Germanicus Antias

    Zunächst sagte keiner ein Wort. Hispo hatte den wenigstens Anteil an den Geschehnissen, Antias fühlte sich als Tiro nicht dazu berufen, das Wort als erster zu ergreifen und Sulca war es wohl lieber, die anderen Versionen bereits zu kennen, um sich auf die seine besser einstellen zu können. Pech für ihn, dass er im Trio der einzige Miles war und es ihm daher anstand, als erster Meldung zu machen. “Nun, Optio ..“ erklärte Sulca mit geschwellter Brust. „.. zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass ich nicht einfach verschwunden bin, sondern meine Arbeit erledigt habe. Aber der Reihe nach. Um die Rückseite der Taberna abzusichern, habe ich mich im Hinterhof postiert. Nach einiger Zeit konnte ich die bereits bekannten Subjekte bei der Flucht aus dem Hintereingang beobachten. Zwar gelang es mir, die Männer aufzuhalten, da ich aber vom plötzlichen Erscheinen des Tiros abgelenkt wurde, ist den Frauen zunächst die Flucht über die Mauer geglückt...“ „Was?“ entfuhr es Antias. Seine hinter dem Rücken verschränkten Hände ballten sich zu Fäusten. Er hatte durchaus mit einer verzerrten Darstellung der Vorgänge gerechnet, aber was diese Ratte da präsentierte durfte er nicht einfach so hinnehmen, dann eben in den Carcer! Ein so unauffälliger wie heftiger Tritt von Hispos rechter Caliga brachte ihn gerade noch rechtzeitig zur Besinnung. Wenn er dem Miles jetzt und hier an die Wäsche ging, brauchte er seine Version gar nicht mehr vorzutragen. Mit verkrampften Muskeln zwang Antias sich, Haltung zu bewahren.
    „Ja nun, die Wahrheit tut eben weh.“ fuhr der Cluvius großspurig fort. „Wie auch immer, nachdem ich die Bewachung der Männer dem besagtem Tiro übertragen hatte, war es mir durch meine Ortskenntnis möglich, den Fluchtweg der Frauen abzuschneiden und sie auf der Via Aurelia schließlich dingfest zu machen. Warum der Rekrut seinen Gladius nicht in der Scheide halten konnte, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.“ Lähmendes Schweigen bemächtigte sich der Unterkunft des Optios. Äußerlich ruhig drehte Antias langsam den Kopf. In einer Mischung aus Unglauben und bitterer Belustigung starrte er den Miles an. Der Cuvier hatte sich soeben sämtliche Rippen gebrochen und schien sich darüber noch nicht einmal im Klaren zu sein. Antias hatte Mühe, nicht in zynisches Gelächter auszubrechen. Ach, so war das alles abgelaufen? Na dann. Wenn Miles Cluvius Sulca das sagte, konnte es ja nur stimmen, nicht wahr? Was sollte er da noch hinzufügen? Andererseits widerstrebte es ihm zutiefst, Sulca mit fatalistischem Schweigen ungewollt und vor allem völlig unverdient ins Recht zu setzen.


    „Die Ausführungen des Miles beinhalten leider einige ... wesentliche .. Ungenauigkeiten.“ begann er so beherrscht es ihm möglich war. „Wahr ist, dass der Miles sich in den Hinterhof begeben hat um die Rückseite der Taberna zu observieren während Tiro Peducaeus und ich die Vorderseite beobachteten. Nachdem der vom Geschrei des Schmiedes aufmerksam gewordene Passant die Taberna betreten hatte, wurde Tiro Peducaeus wie du weißt von mir losgeschickt, um dich darüber in Kenntnis zu setzen. Ich selbst habe danach meinen Posten in den Durchgang verlagert, von wo ich mich durch laute Schreie alarmiert in den Hinterhof begeben habe. Wahr ist also auch, dass ich für Miles Cluvius unerwartet dort aufgetaucht bin. Von da an stimmt seine Geschichte allerdings hinten und vorne nicht mehr! Ja, er war dabei, die Christianer aufzuhalten, richtig. Aber alle, nicht nur die Männer. Auch die Frauen waren zu diesem Zeitpunkt noch bei den anderen. Ob es Cluvius Sulca schlicht entgangen ist, dass der braunhaarige Bursche augenscheinlich eine Waffe unter der Tunica trug, weiß ich nicht, jedenfalls hat der Miles ihm keine weitere Beachtung geschenkt und sich stattdessen mit gezogenem Schwert auf den Südländer konzentriert. Ich habe den Gladius erst gezogen, um Sulcas Flanke gegen einen Angriff des Bewaffneten zu decken. Der ist zunächst auch meiner Anweisung gefolgt, die Waffe langsam herauszuholen, hat sich dann aber trotz wiederholter Aufforderungen geweigert, diese fallen zu lassen. Erst in diesem Moment sind die Frauen entkommen, ohne dass der Miles irgendwelche Anstalten gemacht hätte, sie aufzuhalten. Irgendwann ist ihm dann wohl eingefallen, dass es womöglich doch besser wäre, sie wieder einzufangen, und er hat sich schließlich an ihre Verfolgung gemacht. Ich hingegen blieb mit den beiden Männern im Hof zurück, wobei der Südländer sich offenbar nicht entschließen konnte, ob er fliehen oder seinem Glaubensbruder beispringen sollte. Den Göttern sei’s gedankt, mir hat dieser eine sture Hund völlig gereicht.“ Sulca lachte leise vor sich hin. „Welche Waffe denn? Ich hab keine gesehen.“ In sonorem Brustton wandte er sich an den aufmerksam zuhörenden Avianus. „Optio. Einem bewaffneten Rekruten sollte es doch wohl zuzutrauen sein, ohne Hilfestellung mit zwei lächerlichen Bengeln fertig zu werden, sogar wenn tatsächlich einer davon bewaffnet gewesen sein sollte. Gladius und Pugio gegen ein Küchenmesser, das muss zu beherrschen sein.“ „Woher weißt du denn, dass es ein Küchenmesser war, wenn du’s nicht gesehen hast, hä?“ ätzte Antias angriffslustig. Sulca fuhr zornig herum. „Das .. das hast du mir vorhin selbst gesagt, Tiro!“ „Ach ja?“ zischte Antias kalt. „Du wärst der allerletzte, dem ich so was erzählen würde ... Miles!“ Die beiden funkelten sich an, der Raum heizte sich schneller auf als ein einzelnes Kohlebecken es vermocht hätte.


    „Tatsächlich ..“ hob nun Hispo geistesgegenwärtig an. „.. habe ich von den Vorgängen im Hinterhof nichts mitbekommen, Optio.“ Antias und Sulca zogen es wieder vor, geradeaus zu starren. „Ich muss zugeben, dass ich im Durchgang von einem menschlichen Bedürfnis in Anspruch genommen war. Alles was ich mitbekommen habe, war Miles Cluvius, der sehr zielstrebig an mir vorbei auf die Gasse hinaus marschiert und weiter unten wieder in einer Schuhmacherwerkstatt verschwunden ist. Warum Tiro Germanicus und ich uns getrennt haben, wurde ja bereits erwähnt. Viel mehr kann ich zu alldem nicht sagen.“ Sulca schien das zu gefallen. „Da hörst du es, Optio. Ich habe nur meine Arbeit gemacht.“ strahlte er Avianus an. Jedoch, Hispo war mit seinen Ausführungen noch nicht gänzlich durch. „Ich möchte nur noch hinzufügen, dass mir der Miles auf meine Frage über den Verbleib von Tiro Germanicus geantwortet hat, er wisse es nicht.“ "Das ist gelogen!" brauste Sulca auf. "Irgendwo wird er schon stecken, hab ich gesagt!" Hispo lächelte zufrieden. "Ach, stimmt ja. So war's." Die Pfützen auf den Bodenbrettern begannen langsam zu trocknen, in der Unterkunft wurde es schwül.

    Während der Rest der Rückkehrer bereits dankbar in den warmen trockenen Stuben verschwunden war, hatten Antias, Hispo und Sulca lediglich Waffen und Mäntel abgelegt und sich dann schweigend zur Unterkunft des Optios begeben. Dort standen sie nun mit unbewegten Gesichtern vor dem Schreibpult ihres Vorgesetzten und tropften die fein gehobelten Bodenbretter voll. Trocken war es hier auch, warm allerdings nur dem ersten Anschein nach. Zwar schimmerte eine anheimelnde Glut aus dem bronzenen Kohlebecken, deren wärmende Wirkung allerdings in der vorherrschenden eisigen Atmosphäre völlig verpuffte. Antias ließ die Ereignisse des Tages noch einmal sein inneres Auge passieren und erblickte wenig Erbauliches. Angefangen beim Wetter hatte sich nichts so entwickelt wie erhofft. Wenn sich überhaupt irgendetwas positives über den Einsatz sagen ließ, dann vielleicht, dass er niemanden das Leben gekostet hatte. Eine verdammt dünne Ausbeute. Sicher, an einige Informationen war der Optio schließlich doch noch gekommen und Antias hatte immerhin eine ganze Menge gelernt, aber der ursprüngliche Zweck der Aktion war zweifellos ein anderer gewesen. Alles in allem war der Einsatz in die Hecke gegangen, wie tief würde ihnen Optio Iunius Avianus vermutlich gleich mitteilen.

    Entschlossen gingen die Tirones ans Werk. Brachten sich in Stellung, stürmten aufeinander los. Augenblicklich hallte dumpfes Kampfgetöse über den Exerzierplatz. Unter den wachsamen Augen des umher gehenden Optios knallten Scuta gegeneinander, zuckten Holzgladii und flogen die ersten Schweißtropfen durch die kühle Morgenluft. Antias teilte sich seine Energie ein so gut es ging. Beim Abfangen verzichtete er mittlerweile auf kraftraubende Abwehrbewegungen mit dem Scutum. Die waren ohnehin nutzlos, solange er keine Konterstöße führen durfte und eine derartige Order war noch nicht ergangen. Also begnügte er sich damit, die wuchtigen Angriffe zu blocken, was schon anstrengend genug war, und sparte sich seinen Atem für die eigenen Attacken. Hispo war mit Feuereifer bei der Sache, das war nicht zu leugnen. Wenn er angriff, dann mit aller Macht. Wie lange er das noch durchhalten würde, war allerdings eine andere Frage. Die Schwerthiebe schnellten immer noch schwungvoll heran, klatschten dann aber mit merkbar nachlassender Kraft immer unpräziser auf Antias’ federndes Scutum. Weniger Schwung! Mehr Kraft! Mehr Kontrolle! hämmerte sich Antias immer wieder ein, bevor er selbst zum Angriff überging. Auch seine Atemstöße wurden schneller und tiefer, aber wenn Hispo sich nicht langsam besser sortierte, würde er lange vor seinem Gegner aus den Caligae kippen.


    Trotz der durchaus vorhandenen Kraftreserven war Antias alles andere als unglücklich, als Optio Avianus an die beiden Tirones herantrat und Hispo mit einer nicht unamüsanten Frage konfrontierte. Schnell den Arm ausschütteln, Luft holen und sich vor allem das Grinsen verkneifen. Hispo starrte den Optio zunächst nur verdattert an. Dann schien ihm dessen Frage tröpfchenweise ins Hirn zu sickern. Keuchend senkte er die Deckung. „Äh ..“ Schnaufen. „.. ich hab nicht mitgezählt Optio.“ Schnaufen. „Zu oft?“

    Das ruhige Interesse des Optios ließ Antias für einen Moment vergessen, dass er sich bei seinem Rapport letztlich vorkam wie ein geschwätziges altes Fischweib. Gerüchte hatten so etwas widerlich traniges an sich. Man munkelt, man erzählt sich, es geht die Rede ... hätte das Geschwätz nicht Tribunus Dives tangiert, er wäre nie auf den Gedanken gekommen, sich mit derlei ungereimtem Mist näher zu beschäftigen. Allem Anschein nach war Avianus da ähnlicher Auffassung. Mit respektvoller Genugtuung registrierte Antias, dass der Optio die vorgebrachten Mutmaßungen zwar anhörte, es aber vorzog, sich mit den handfesteren Aussagen zu befassen, auch wenn diese nur von einem Kind stammten. Fast hätte sich enthusiastischer Eifer in ihm Bahn gebrochen. Die plötzliche Erkenntnis allerdings, dass sie sich erneut nach Trans Tiberim begeben würden, fuhr ihm wie eine geballte Faust in den Magen. Wieder in ihrer Nähe sein, ohne sie sehen zu dürfen! Die Frage des Optios, wann er den Jungen denn befragt habe, drang wie durch dichtes Moos in sein Bewusstsein. Was? Welcher Junge? Wieso gerade eben? Nach einem Moment völliger Hirntaubheit wurde ihm klar, worauf der Iunier hinaus wollte. Sein Fehler bestand also nicht darin, den Optio mit seinem Bericht zu behelligen, sondern dies nicht schon früher getan zu haben. Leise seufzend ging er Avianus nach. Wieder etwas gelernt. Wieder ein Steinchen im verschlungenen Mosaik, das sich langsam in ihm zusammenfügte. „Nein, Optio. Das war, nachdem ich die Leichen aufgeladen hatte. Allerdings bin ich zunächst davon ausgegangen, dass diese Aussagen zur Aufklärung des Mordes kaum würden beitragen können.“

    Zunächst machte ihn die Aufforderung des Optios stutzig. Wollte Avianus sie vorführen? Wohl eher nicht, sagte er sich nach kurzem Nachdenken. Der Optio war im Grunde ein anständiger Kerl, dem Schikanen wohl weit weniger am Herzen lagen, als das Überleben seiner Rekruten. „Jawohl, Optio Iunius Avianus!“ Mit einem kanppen Nicken winkte er Hispo auffordernd zu, spuckte sich in die Handfläche und trat vor. Konzentriert nahmen die beiden Tirones Grundstellung ein. Schild hoch, Gewicht auf das linke Bein, Oberkörper leicht nach vorn, Gladius in Rippenhöhe nach vorn. Wenn eines feststand, dann dass Hispo zuerst angreifen würde. Unvermittelt, wie er sicher hoffte, das Überraschungsmoment nutzend. Langweiligerweise machte er das immer so, was der Überraschung auf Dauer etwas von ihrer Wirkung nahm. Abschätzend blickte Antias auf seinen Kameraden, presste sich das Scutum fest an die linke Schulter, zog den Kopf ein und wartete ab.


    Wie auf Stichwort preschte Hispo denn auch den Schild voraus auf ihn zu. Die Wucht der aneinander krachenden Scuta durchflammte Antias’ Schulter. Keuchend wippte er nach hinten, fing sein Gewicht mit dem rechten Bein ab, schnellte wieder nach vorn und riss das Scutum etwas nach rechts um den Schwertstoß abzuwehren. Die Schildkante schlug dumpf gegen Hispos’ heranzuckenden Holzgladius und ließ ihn federnd abprallen. Antias nahm wieder Grundstellung ein, wartete, bis Hispo zurückgewichen war, und griff dann seinerseits an. Holz donnerte auf Holz. Hispo tappte einen Schritt nach rechts. Antias stieß an den schwankenden Scuta vorbei und stoppte den Gladius kurz bevor er sich zwischen die Spangen von Hispos’ Schulterpanzer bohren konnte. „Mist!“ schnaufte Hispo und stieß sich von Antias’ Scutum ab. Erneut gingen sie in Stellung. Schild hoch, Kopf runter, Konzentration. Wie zu erwarten war, trug Hispo seine nächste Attacke weit entschlossener vor als die erste. Das Scutum schlug dröhnend ein. Der Schwertstoß folgte unmittelbar über den Schildrand und verfehlte nur knapp Antias Helm. Mit ganzer Kraft stemmte sich Antias gegen den Angriff. Jetzt kontern! schrie es in ihm auf. Das Scutum nach links! Den Gladius zwischen seine Rippen! Dann war die Gelegenheit verstrichen. Hispo trat nach hinten, Antias warf sich nach vorn. Rammen! Pressen! Stoß zum Hals! Zurück! Grundstellung! Blocken! Halten! Lösen! Grundstellung! Keuchen. Splittern. Knirschende Stiefelsohlen auf lehmigem Boden. Verdammt, das würde ihn heute wieder eine Handvoll Stollennägel kosten!

    Schön, dass der Optio vorgab, seinem Urteil zu vertrauen. Den ironischen Unterton, mit dem er dies tat, ignorierte Antias geflissentlich, nahm kurz Haltung an und beeilte sich dann, den aufgeregten Hispo zu beruhigen, der nun schon geraume Zeit nervös hinter den Männern herumtänzelte.. „Was ist passiert? Warum warst du nicht am Treffpunkt? Wer ist der ramponierte Kerl da drin? Was ist mit deiner Hand? Wieso ist Sulca..“ „Langsam Hispo!“ schnitt Antias in den Redeschwall. „Erklär ich dir alles später.“ Mit sanfter Gewalt schob er Hispo ein Stück von den Milites weg zwischen zwei Bretterstapel. „Hast du den Cluvier irgendwo gesehen?“ Nickend strich sich Hispo die tropfenden Haare aus der Stirn. „Ja, ist aber schon `ne Weile her. Er hat mich im Durchgang fast umgerannt, der dämliche Sack.“ „Wo er hin gegangen ist, weißt du aber nicht, oder?“ In einer Geste der Resignation hob Hispo die Arme und ließ sie wieder fallen. „Naja, ich bin ihm noch nach bis zu der Schuhmacherwerkstatt, da ist er dann rein.“ Was wollte der Mistkerl in einer Schuhmacherwerkstatt? Hatte sich Antias doch getäuscht? War der Cluvius den Frauen gar nicht auf den Fersen? Doch, war er. Die Gelegenheit, Ortskenntnis und Spürnase zu demonstrieren, würde sich der selbstgefällige Bock garantiert nicht entgehen lassen. „Na gut.“ seufzte Antias müde. „Dann machst du jetzt am besten Meldung.“ Nass wie die Fischotter machten sich die Tirones daran, zum Optio zurück zu schlurfen, als Hispo plötzlich ein überraschter Ausruf entfuhr: „Das kommt ja der Arsch!“ Antias blickte verwirrt um sich. Tatsächlich. An jeder Hand eine der geflüchteten Frauen grob hinter sich her zerrend marschierte Sulca mit unerträglichem Triumph im Gesicht aus der Hintertür schnurstracks auf den Optio zu. „Salve, Optio Iunius Avianus! Miles Cluvius meldet die Ergreifung der geflohenen Christianerinnen!“

    Als sie am nächsten Morgen aus den Unterkünften traten, hatte es merklich abgekühlt. Ein frischer Wind wehte von der Küste herauf, die allmorgendlichen Dunstschwaden waren einer beißenden Herbstluft gewichen, die rein und prickelnd in ihre Lungen strömte. Mit geblähten Nasenflügeln schnuppernd verharrte Antias einen Moment vor der Baracke. Draußen in der Welt vergingen die Tage wie seit Anbeginn der Zeit. Bald würden im Norden die Pässe unter Neuschnee versinken und sich das Meer im Westen brodelnd unter den Schiffen aufbäumen. Die brütende Hitze, die ihn zu Beginn der Ausbildung so zermürbt hatte, war zur bloßen Erinnerung geworden. Wie lange war das nun her? Wirklich erst ein paar Monate? Unmöglich, schienen doch bereits Jahre vergangen zu sein, seit er Apolonia das letzte mal in den Armen gehalten hatte. Apolonia. War da nicht ein unendlich zarter Hauch von Ozean in der klaren Brise? Sanft lächelnd riss er sich aus seinen Gedanken und folgte den Kameraden zum Exerzierplatz.


    Ein wenig war er noch benommen von der verloren geglaubten Energie, die ihn durchströmte. Er hatte geschlafen. Nicht nur die übliche matte Stunde vor dem Wecksignal, sondern fast die ganze Nacht. Weder der Erschöpfung noch der quälenden Melancholie des vergangenen Tages war es gelungen, ihn einzuschläfern, der Schlaf war erst über ihn gekommen, nachdem er den Brief an sie endlich zu Papier gebracht hatte. Auch wenn ihm kein tiefgründiges Epigramm gelungen war, sondern nur ein eher unbeholfener Ausdruck seiner Gefühle, so hatte sich die Niederschrift doch für ein paar Augenblicke fast so angefühlt, als spräche er von Angesicht zu Angesicht mit ihr. Zwar wusste er noch immer nicht, wie und wohin er das Schreiben übermitteln sollte, aber das würde sich finden. Wenn sie noch mit etwas Zuneigung an ihn dachte, würde sich ein Weg auftun.


    Auf dem Platz erwartete sie Optio Avianus mit undefinierbarer Miene. Schwer einzuschätzen, welche Spuren die deprimierende Leistung des Vortages bei ihm hinterlassen hatten, anzusehen war ihm nichts. Schweigend beeilten sich die Tirones, ihre zwei Runden zu laufen und schweigend absolvierten sie auch die Liegestütze. Erst beim Aufnehmen der Übungswaffen wich die Anspannung etwas und machte einer zaghaften Neugier Platz. Grinsend kam Hispo auf ihn zu. „Na, Partner? Bereit?“ „Kommt drauf an, wozu.“ entgegnete Antias mit einem schrägen Lächeln. Auf welche Weise durften sie sich heute blamieren?

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    Spurius Cluvius Sulca



    „Weiser Entschluss.“ Sulca bedachte die ältere der beiden Frauen mit einem schiefen Grinsen. „Du gehst voraus. Aber diesmal bleiben wir auf der Straße, klar? Na los, vorwärts.“ Ohne seine Umarmung zu lockern zog er die Jüngere mit sich fort. Schweigend gingen sie durch den strömenden Regen an grauen Hausmauern entlang die Via Aurelia hinunter. Es geht doch nichts über einen kleinen Spaziergang in anregender Gesellschaft, dachte er sich zufrieden, während sein Blick immer wieder über die Kehrseite der voraus gehenden Christianerin schweifte. Unter der völlig durchnässten langen Tunica zeichnete sich ein breites aber festes Hinterteil ab, dass ihn bei jedem ihrer müden Schritte neckisch an zu zwinkern schien. Das Weib hatte sich gut gehalten, keine Frage. Dennoch war ihr wohlgeformter Körper nur ein zarter Abglanz des wilden Juwels, das er in seinem Arm hielt. Selbst durch den nassen Mantel konnte er ihre Hitze spüren. Mit einem wohligen Stöhnen ließ er seine Hand tiefer sinken bis ihre prallen runden Backen unter seinen Fingern erbebten. Mit dieser jugendlichen Kraft konnte seine welke Geliebte nicht mithalten. Nicht mehr. Ein Jammer, dass die Zeit verrann. Ein Jammer, dass sie erwartet wurden. Sein Arm legte sich wieder um die Schultern der jungen Frau. „Da vorne links! In die Quergasse!“ rief er ihrer drallen Vorhut zu. Eine enge dunkle Gasse erwartete sie, deren Vorzüge er heute leider nicht würde nutzen können. Ein Jammer!





    Als sie die Taberna endlich erreicht hatten, war von der Hitze seiner jungen Begleiterin nicht mehr viel übrig geblieben. Sie fror offenbar. Vielleicht hätte er sie zu sich unter den Mantel nehmen sollen, aber dann – das war ihm klar – hätte er nicht mehr an sich halten können. Die Weiber waren selbst schuld, schließlich hatte sie niemand dazu gezwungen, aus der warmen trockenen Schänke zu flüchten. Vor der Taberna waren weit und breit waren keine Urbaner zu sehen, weder Milites noch einer von diesen neunmalklugen Tirones. Kein Wunder bei dem Wetter. Sicher hatte sich das ganze verzärtelte Rudel zechend in’s Wirshaus zurückgezogen, während er seine Arbeit tat. Die Tür stand offen. Unsanft stieß Sulca die beiden Frauen vor sich her in den Schankraum. Dort war entgegen seinen Erwartungen kein Gelage im gange, nur Maso und Cocles standen überrascht glotzend an der Tür zur Küche, zwischen sich auf einem Stuhl die benommene verschwollene Gestalt des braunhaarigen Christianers. Von der Hintertür klangen gedämpfte Stimmen durch die Küche. Der unfähige Germanicus hatte also tatsächlich den Kürzeren gezogen. „Was ist hier los, verdammt?“ brüllte Sulca die beiden Milites an. „Wo ist euer Optio? Ich hab’ die Weiber!“

    Immerhin machte wenigstens der Optio einen aufgeschlossenen Eindruck. Anscheinend hatte er Antias nicht im Verdacht, die Finger des Syrers abgeschnitten zu haben, und wenn doch, ließ er sich zumindest nichts davon anmerken. In strammer Haltung marschierten die Tirones auf den Iunius zu und salutierten. Antias entging nicht, dass Hispo dabei demonstrativ zwei Schritte zurück blieb. Sollte er doch, solange er seine zynischen Kommentare für sich behielt. „Optio, offenbar ist der Gesuchte zum alten Serapistempel geflohen. Mindestens ein Zeuge hat beobachtet, wie er den Tempel betreten hat.“
    „Ein Kind.“ ergänzte Hispo gedehnt. Antias ignorierte den zweifelnden Tonfall. „Richtig, ein Kind. Ein Gassenbengel mit wachem Geist und scharfen Augen. Die Beschreibung, die er vom Flüchtigen abgegeben hat, deckt sich vollkommen mit der von dir ausgegebenen, Optio. Ein junger Mann, schlank, bärtig, gepflegt, mittlere Größe, hellbraune Hautfarbe, östliche Kopfbedeckung, rot.“ Verstohlen forschte Antias im Gesicht des Optios nach Anzeichen von Hohn oder Gereiztheit, fand keine und fuhr fort. „Zudem hat mir der Junge bestätigt, dass es sich bei dem entwendeten Gegenstand um eine Tabula handelt.“ Hispo wollte wohl irgend etwas sagen, beließ es dann aber bei einem auffälligen Räuspern. „Darüber hinaus hat mir der Kleine von seltsamen Gerüchten berichtet, die hier anscheinend schon länger die Runde machen. Normalerweise hätte ich nichts darauf gegeben, aber in diesem Fall betreffen die Gerüchte unseren Tribunus beziehungsweise seine Familie. Außerdem sind diese Gerüchte auch Tiro Peducaeus zu Ohren gekommen.“
    Mit zusammengekniffenen Augen fixierte Antias seinen Kameraden. „Stimmt doch, oder nicht?“ Hispo gab endlich nach. „Ja, das stimmt, Optio. Die geschwätzigen Weiber haben’s ja laut genug rum posaunt. Richtig schlau bin ich daraus aber nicht geworden.“ „Ich auch nicht.“ musste Antias zugeben. „Jedenfalls scheint es nicht nur mit Tribun Iulius Dives selbst zu tun zu haben, sondern vor allem mit seiner Adoptivtochter.“

    Eine ganze Weile waren sie nun schon wachen Auges hinter Optio Avianus her getrottet und hatten dabei eingehend die Menge gemustert. An östlichen Kopfbedeckungen herrschte in den Gassen wahrlich kein Mangel, an bärtigen jüngeren Männern erst recht nicht. Der eine oder andere Passant schien sogar mehrere der beschriebenen Attribute auf sich zu vereinigen, einem zweiten prüfenden Blick allerdings hielt keiner davon stand. Entweder waren sie zu klein, zu groß, zu breit oder schlicht zu einfältig, um nach Mustela’s Beschreibung in Frage zu kommen. Etwas anderes hatte Antias auch nicht erwartet. Es erschien ihm äußerst unwahrscheinlich, dass der Flüchtige nach Erreichen seines Zieles noch einmal den Rückweg zum Markt eingeschlagen hatte. Immer wieder hielt er den eifrigen Hispo kopfschüttelnd von eingehenderen Untersuchungen ab. Der widerum reagierte zusehends gereizter auf die wortlosen abwinkenden Gesten seines Kameraden und schnauzte schließlich beleidigt: „Na schön! Also sag schon, was genau hat der Junge dir erzählt?“ Antias konnte sich ein süffisantes Lächeln nicht verkneifen. „Ach? Interessiert’s dich jetzt doch?“ Hispo schnaubte verächtlich. „Da du dir ja so sicher bist. Ich höre.“ Also erzählte er es ihm in allen Einzelheiten.


    „In den Tempel?“ Hispo wirkte zwar ausgesprochen befriedigt darüber, endlich eingeweiht zu sein, seine Skepsis jedoch schien noch nicht verflogen. „Woher will er das wissen?“ „Weil er und ein paar seiner Freunde den Burschen bis dahin verfolgt haben.“ „Soso.“ Zweifelnd nahm Hispo den Helm ab und kratzte sich ausgiebig am Kopf. „Und wieso sollten die sowas machen?“ Antias zuckte die Achseln. „Neugier? Abenteuerlust? Vermutlich haben die gewitzten Bengel einfach ein Näschen für Informationen, aus denen sich Kapital schlagen lässt.“ „Oh ja! Vermutlich!“ lachte Hispo spöttisch auf. „Was hast du ihm gegeben?“ „Bis jetzt gar nichts. Auch ein Grund, ihm erstmal zu glauben, oder?“ Statt zu antworten stülpte sich Hispo nur brummend den Helm wieder über den Kopf. „Und was ist mit diesen Gerüchten?“ fuhr Antias fort. „Die hast du doch auch gehört.“ „Gerüchte..“ Hispo spuckte das Wort heraus wie einen dampfenden Pferdeapfel. „.. die vermehren sich hier schneller als Sackläuse.“ Das war natürlich korrekt. Wenn es irgendeine Brutstätte für Gerüchte aller Art gab, dann die Foren und Märkte Roms. Tief in Gedanken versunken stapften sie weiter. „Meinst du, der Optio nimmt dir diesen Mist ab?“ brach Hispo nach einiger Zeit das Schweigen. Antias hatte keine Ahnung. Aber das ließ sich ja herausfinden. „Das werden wir gleich wissen.“ Mit einem aufmunternden Blick zu Hispo beschleunigte er seine Schritte bis er den Optio fast eingeholt hatte. „Optio? Optio Iunius Avianus!“

    Die abschließenden zehn Runden verliefen in gespenstischer Stille. Keiner setzte sich ab, keiner fiel zurück. Geschlossen und schweigend umrundete das Feld den Platz. Jeder lief gegen sich selbst, auch Antias. Ob er jedoch hinter sich her oder vor sich davon rannte, war ihm dabei nicht ganz klar. Erschreckend klar war ihm allerdings, dass dieser Lauf im Grunde das Leben versinnbildlichte, das sie hier erwartete. Die Welt schrumpfte auf die Größe eines Exerzierplatzes zusammen. Sie schnauften, keuchten, mühten sich ab, und doch würde sie ihr Weg nirgendwohin führen außer in die nächste Runde. Der gestampfte Boden glitt unerträglich langsam unter seinen Caligae dahin. Die Mauern und Giebel der umstehenden Gebäude wechselten sich ab und blieben doch stets dieselben. Warum nur zehn Runden? Warum nicht zwanzig? Eine Runde für jedes Dienstjahr, das noch vor ihm lag. Die Müdigkeit war fort, seine Beine hatte er längst wiedergefunden, verloren hatte er stattdessen etwas anderes. Irgendetwas hatte er nach der schmählichen Vorstellung zwischen den Übungspfählen zurückgelassen. Zweifellos würde ihm noch mehr abhanden kommen, mit jeder Runde, mit jedem Jahr. Gut möglich, dass er dafür auch so manches hinzu gewinnen konnte, aber jetzt, nach diesem Rückschlag, inmitten der niedergeschlagenen Kameraden konnte er nichts davon sehen. Er sah nur Apolonia. Auf der entgegengesetzten Seite des Platzes. Egal, auf welcher Höhe er sich gerade befand, sie drehte sich ebenso wie er im Kreis. Stur seine Bahnen ziehend würde er sie vielleicht nie erreichen, nicht in diesem Tempo. Also würde er schneller werden müssen, schneller als alle anderen, und wenn ihm dies nicht gelang, blieb nur der Weg weg vom Pulk quer über den Platz zu ihr.

    Zerknirscht rappelte sich Antias hoch und nahm Haltung an. Das war ja mal gründlich in’s Subligaculum gegangen. Wie schon vermutet war Optio Avianus von der gezeigten Darbietung wenig angetan, und das bedauerlicherweise auch noch völlig zu recht. Was hatten sie sich nur dabei gedacht? Während er betreten der lautstarken Zurechtweisung des Optios lauschte, versuchte Antias dahinter zu kommen, was genau gerade passiert war. Waren sie in manchen Belangen wirklich noch solch armselige Zivilisten? Waren ihre Reflexe tatsächlich noch so sehr von ihrem dereinst gewohnten Leben geprägt? Was auch immer ihn dazu veranlasst hatte, sich wie ein panisches Weib auf den Boden zu werfen, blanker Schrecken war es nicht, der kam erst jetzt in ihm hoch. Wäre das eben keine Übung sondern ein Angriff feindlicher Bogengeschützen gewesen, er läge jetzt gespickt wie ein Igel auf seinem Scutum. Der üble Geschmack rostigen Metalls legte sich auf seine trockene Zunge. Verdammt! Mit Pfeilen hatte er in Wirklichkeit gar nicht gerechnet, sondern mit Steinen! Glatte runde Flusskiesel, abgeschossen von den selbstgebastelten Schleudern seiner Spielkameraden aus Kindertagen. Ähnliche Erfahrungen mochten Marullus – oder war das Tutor – hinter den Pfahl getrieben haben. Fimbrias Deckung hatte demzufolge vermutlich weniger einem Kavallerieangriff sondern eher einer Herde heranstürmender Rindviecher gegolten, während Hispo sich in den Gassen von Ostia wohl in erster Linie vor fliegendem Unrat zu wappnen gelernt hatte. Welche Strategie Tutors – oder Marullus – Haltung zugrunde lag, mochten die Götter wissen, vielleicht war er Gefahren und Problemen bislang entgegen getreten, in dem er sich einfach noch mal hingelegt und darüber geschlafen hatte? Schwachsinn! Wütend riss er sich aus seinen verselbstständigten Gedanken. Völliger Schwachsinn! Sowas konnte sich nur jemand zusammen spinnen, der durch permanenten Schlafmangel langsam blöde zu werden drohte. Wahrscheinlich waren sie einfach nur eine Horde überspannter Hohlköpfe. So oder so durfte etwas derartiges nicht mehr passieren, und den betroffenen Mienen der Kameraden nach zu urteilen würde es auch nicht mehr passieren. Die Tirade des Optios verhallte langsam über dem Exerzierplatz. Zornig und beschämt zugleich machte sich Antias daran, den grinsenden Holzpfahl für sein eigenes Versagen büßen zu lassen

    Der Schrei des Optio erreichte Antias mitten im Stoß. Sein erster Gedanke war: Warum? Der zweite blieb irgendwo in seinen Hinwindungen stecken. Instinktiv warf er sich nach vorn und krachte der Länge nach auf das Scutum. Mit schmerzenden Rippen und angehaltenem Atem erwartete er einen tödlichen Pfeilhagel oder den dröhnenden Einschlag brennender Wurfgeschosse. Nichts dergleichen geschah. Nur sein hängen gebliebener Gedanke tröpfelte ihm verspätet in’s Bewusstsein: Nicht auf den Schild! Als er sich irritiert umsah, bot sich ihm ein absonderliches Bild. Zu seiner Rechten tänzelte Hispo nervös herum, das Scutum beidhändig über dem Kopf erhoben. Zu seiner Linken war Fimbria auf die Knie gesunken und mit eingezogenem Kopf hinter dem schräg gestellten Schild verschwunden. Einer der Zwillinge hatte sich hinter dem Holzpfahl versteckt, während der andere auf der Seite gelandet war, das Scutum wie eine Bettdecke über die Ohren gezogen. Wie der Rest der Tirones das Kommando umgesetzt hatten, wollte Antias gar nicht mehr wissen. Um wenigstens noch ein letztes Fünkchen an Würde zu retten, rollte er stöhnend vom Schild, kam auf die Knie und rammte das Scutum vor sich in den Staub. Hispo blinzelte noch immer unter dem erhobenen Schild gen Himmel, Fimbria verharrte bewegungslos und was war mit dem Optio? Antias hatte da so seine Vermutungen.

    Mist! Zu früh gefreut. Da hatte er die ganze Zeit ungeduldig zu den Pfählen hinüber geschielt, voll stiller Vorfreude darauf, seine Klinge endlich richtig arbeiten zu lassen, und jetzt das! Waffen aus Holz! Grob gearbeitet, unhandlich und vor allem schwer! Und das nachdem er eben angefangen hatte, eine einigermaßen ausgewogene Haltung zwischen Schwert und Schild zu finden. Kritisch wog er den hölzernen Gladius in der Hand, dann den Übungsschild. Trotz anfänglicher Enttäuschung erschloss sich ihm der Zweck des schweren Übungsgerätes durchaus. Irgendwann, wenn sich ihre Muskeln und Gelenke an das zusätzliche Gewicht gewöhnt hatten, würde sie der Umgang mit den Holzwaffen dazu befähigen, ihre „richtige“ Ausrüstung weit sicherer und kraftvoller zu handhaben. Dummerweise machte alle Einsicht in diese Notwendigkeit den klobigen Krempel auch nicht leichter. Schicksalsergeben trat Antias auf einen der Pfähle zu, nahm den Schild hoch, fixierte einen Punkt in Augenhöhe und griff an. Der erste Versuch ging mit überstrecktem Ellbogen in’s Leere. Fluchend schüttelte er den Arm aus und trat einen halben Schritt nach vorn. Also nochmal. Hoch mit dem Schild, Stellung einnehmen und Stoß. In lockerem Schwung rammte er die Übungswaffe auf den Pfahl. Ein Fehler, wie er schmerzhaft feststellen musste. Das Schwert schnellte vom federnden Holz zurück und jagte ihm einen brennenden Stich über Handgelenk und Oberarm bis in die Schulter hinauf. Der von unzähligen Hieben und Stößen gezeichnete Holzpfahl schien ihn hämisch anzugrinsen. Na gut, kapiert. Er musste also versuchen, den Stoß zu kontrollieren. Weniger Schwung, mehr Kraft. Verbissen starrte Antias das grinsende Stück Holz an. In Ordnung. Schild hoch. Deckung. Aus der Schulter nach vorn. Einmal. Zweimal. Kopf. Hals. Kopf. Sollte der Pfahl doch grinsen, mit Pfählen würde er es später nicht mehr all zu oft zu tun bekommen.

    Alles nur eine Sache des Willens und der Körperspannung, sagte er sich als er das Scutum wieder hob. Daran, den Schild einfach zu halten würde er sich zweifellos schnell gewöhnen. Wie er mit erhobenem Scutum schnell vorrücken oder gar angreifen sollte, überstieg allerdings noch sein Vorstellungsvermögen. Aber auch das würden sie lernen, so wie es Tausende und Abertausende vor ihnen gelernt hatten. Am nötigen Eifer fehlte es jedenfalls nicht. Verbissen bemüht um eine ruhige korrekte Ausrichtung der Scuta lauschten die Tirones der nächsten Frage des Optio. Fimbria, mittlerweile offenbar hochmotiviert, versuchte sich als erster an einer Antwort: „Ein kraftvoll geworfenes Pilum wird den Schild sicher durchschlagen!“ Allerdings, schmunzelte Antias in sich hinein, und ein von Fimbria geworfenes Pilum wird Scutum samt Lorica und Miles durchschlagen. „Zumindest bleibt es im Scutum stecken.“ ließ sich Hispo vernehmen. „Und wegen der Widerhaken kriegt man es nicht mehr raus, dann wird’s schwer“ Schwer war es jetzt schon. Antias’ linke Schulter signalisierte bereits Auslastung. Besser gar nicht dran denken. „Das Pilum bleibt stecken und verbiegt sich aufgrund des weichen Metalls. Das Scutum wird damit unbrauchbar.“

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    Caius Raecius Fimbria


    So, jetzt aber! „Die Testudo-Formation!“ brüllte Fimbria, bevor es ein anderer tun konnte. Von der Tatsache beflügelt, dass er wenigstens das Scutum richtig herum hielt, witterte er hier eine willkommene Gelegenheit, seinen schmählichen Schnitzer mit dem Gladius wieder wettzumachen. „Dient der Verteidigung!“ Vielleicht konnte dies doch noch sein Tag werden. Das Scutum jedenfalls, dessen war er sich sicher, würde er noch halten können, wenn allen anderen Tirones längst die Arme abgefallen waren. Dass seine völlig korrekte Aussage keine Reaktion hervorrief, brachte ihn allerdings etwas in’s Grübeln. Was war denn jetzt schon wieder? Unsicher blinzelte er den Optio an. Nun ja, möglicherweise bedurfte die Angabe noch einiger Ergänzungen. „Speziell der Verteidigung gegen Fernkampfeinheiten wie Steinschleuderern, Speerwerfern und Bogenschützen! Oder auch gegen Zeugs, dass man von Hausdächern schmeißt! Wie der Name schon sagt, ist die Formation sehr stabil aber auch sehr träge! Zum Angriff ungeeignet, lässt sie nur ein sehr langsames Vorrücken unter Beschuss zu!“ War’s das jetzt? Reichte das? Wenn nicht, konnte ja ein anderer weitermachen.

    Beim Aufnehmen des Scutums verging ihm das Grinsen gleich wieder. Im Gegensatz zum Gladius, dessen Handhabung er wenigstens ansatzweise beherrschte, hatte er im Umgang mit dem Schild keinerlei Erfahrung. Natürlich war ihm bewusst, dass Scutum und Gladius eine Einheit zu bilden hatten wie Bogen und Sehne. Jedes Kind wusste, dass es zu einem großen Teil ebendiese Einheit war, mit der das Exerticus Romanus die feindlichen Horden an alle vier Weltenden zurück gedrängt hatte. Zumindest theoretisch war ihm das alles glasklar. Aber zunächst einmal bedeute das Scutum nur eine ungewohnte Last, die ihn in seiner Bewegungsfreiheit einschränkte und seinen Gleichgewichtssinn herausforderte. Immerhin ging es allen anderen Tirones ebenso. Die Scuta hoben sich, die Oberkörper neigten sich leicht nach vorn, aber wie eine perfekt geschlossene Schildwand wirkte das ganze noch nicht so recht.

    Ach so läuft das hier, dachte Antias ernüchtert, für eine richtige Antwort gab es zehn Runden um den Exerzierplatz. Er wagte gar nicht, sich auszumalen, was ihn bei einer falschen Antwort erwartet hätte. Zum sicher zehnten Mal nahm er sich vor, in Zukunft erst seine Klappe aufzumachen, wenn der Dienst zu ende war. Diese zwei seltsamen volskischen Bergvögel zum Beispiel bekamen die Zähne auch nie auseinander, und niemand störte sich daran. Ohnehin war es eine ziemlich schräge Blütenlese, die sich da schnaubend in Bewegung setzte. Nassforsche Patrizier, tumbe Bergbauern, breitschultrige Zugochsen, verwachsene Fischhändler – wie er sich da in’s Bild fügte, war ihm noch nicht so ganz klar. Aber zunächst galt es erst einmal, die zehn Runden mit Anstand hinter sich zu bringen. Die ersten zwei davon schaffte er im Halbschlaf, die dritte und vierte erforderten etwas mehr Aufmerksamkeit, ab der fünften musste er sich zusammenreißen, jenseits der siebten aber wurde es richtig ekelhaft. Sämtliche Becher, Krüge und Amphoren, die er sich in Mogontiacum jemals in den Schlund geschüttet hatte, schienen noch einmal durch seine Poren zu sickern. Die Morgenluft war nicht mehr kühl und erfrischend, sondern dämpfig und schwer. Bei jedem Schritt stauchte ihn das Gewicht der Lorica mehr zusammen und der Nackenschutz seines Helmes ramponierte allmählich das, was er eigentlich schützen sollte. Mit brennender Lunge und schmerzenden Kniegelenken überstand er schließlich die letzte Runde, und als er sich japsend wieder in’s Glied einreihte, war ihm jegliche Lust zu weiteren Wortmeldungen restlos vergangen.

    Während Antias das korrekte Ziehen des Gladius allmählich flüssiger von der Hand ging, linste er verstohlen auf seinen so übereifrigen wie unbeholfenen Kameraden hinüber, dessen Blick unsicher zwischen Schwert und Optio hin und her flackerte. Armer Kerl. Der einzig waffenähnliche Gegenstand, den Fimbria bis dato in der Hand gehabt hatte, war vermutlich der Schmiedehammer seines Vaters. Aber auch den hielt man üblicherweise andersrum, stellte Antias mit gutmütigem Grinsen fest. Der bärenstarke Bursche war nicht dumm, auch wenn er das selbst von sich dachte, sondern einfach nur nervös. Fimbria war einer, der immer alles richtig machen wollte und gerade deshalb oft über das Ziel hinausschoss. So langsam schien es ihm zu dämmern, dass er mit dem Gladius aus dieser Haltung heraus höchstens Getreidesäcke durchlöchern konnte. Verlegen und umständlich fummelte er die Klinge in die Scheide zurück. „Schon kapiert, Optio Iunius Avianus. Verzeihung ..“


    Mit großer Geste ließ Antias seine Hand zum Schwertgriff sinken, drehte sich leicht in Fimbria’s Richtung und zog den Gladius betont langsam aus der Scheide. Fimbria beobachtete alles fasziniert und versuchte es dann erneut. Das sah schon viel besser aus. Noch ein- oder zweitausend Wiederholungen und Fimbria würde mit seinem Gladius verwachsen wie ein Skythenarsch mit der Satteldecke.

    Den Gladius irgendwie aus der Scheide zu bekommen war nicht das Problem. Schon gar nicht, wenn man es so anstellte wie Fimbria. Noch während sich das restliche Contubernium konzentriert die Arme verdrehte, hielt Fimbria das gezogene Schwert stolz in die Höhe. Nur eben verkehrt rum mit dem Daumen am Knauf wie einen Wanderstab. Antias grinste, er kannte das. Der erste Reflex. Ihm war es nicht anders gegangen, als er sich damals den Gladius seines Vaters unerlaubterweise umgeschnallt hatte. Die darauf folgende Backpfeife hallte noch immer in seinen Ohren, ebenso wie die begleitende Mahnung: ‚Zieh ihn nur, wenn du bereit bist, ihn zu benutzen! Und vor allem, zieh in richtig!‘ Also zog er ihn richtig. Eine Drehung des Handgelenkes, den Ellbogen nach hinten, die Handflächen nach außen und den Daumen an den Griffschutz. So flüssig und natürlich wie beim Optio sah das allerdings noch bei weitem nicht aus, von der Geschwindigkeit ganz schweigen. Vielleicht hätte er doch schon im Vorfeld etwas üben sollen. So wie Hispo, dessen Klinge fast von alleine aus der Scheide zischte. Kunststück, der hatte auch seit der Waffenausgabe jeden Abend mit dem Schwert rumgespielt, obwohl ihnen schon Optio Mento eingeschärft hatte, genau das nicht zu tun. Egal. Also weiter. Raus mit dem Gladius, rein mit dem Gladius, raus, rein, raus, rein ...