Das Interesse an dem blutigen Zwischenfall hatte sich schnell wieder gelegt. Laut und träge wie zuvor schob sich der bunte Menschenstrom weiter, nur vereinzelt blieben Passanten kurz am Karren stehen, starrten teilnahmslos auf die Toten, und gingen kopfschüttelnd weiter. Da Antias bei den Leichen nicht mehr viel ausrichten konnte, quetsche er sich unsanft zum Stand des Händlers durch, um Scutum und Hasta wieder an sich zu nehmen. Der Warenvorrat des Syrers war inzwischen deutlich zusammengeschmolzen. Außer einigen Stoffballen, die der Händler in weiser Voraussicht schwer erreichbar unter den Tisch gestopft hatte, waren nur noch die blutbespritzen Kleidungsstücke übrig, und selbst die wurden von wenig wählerischen Interessenten Teil für Teil davon geschleppt. Eigentlich hätte er dem Treiben Einhalt gebieten sollen, aber wozu? Der Großteil der Ware war bereits verschwunden, zudem gab es keinen Eigentümer mehr, der seines Schutzes bedurft hätte. Es war ihm völlig klar, dass auch die Ballen binnen kürzester Zeit neue Besitzer finden würden, und seien es die eigenen Kameraden oder eine paar Vigiles. Natürlich hätte er sich auch selbst bedienen können, niemand hätte daran Anstoß genommen. Allerdings konnte er mit Stoffballen nicht das geringste anfangen und außerdem war ein Tiro in diesem Fall der letzte in der Verteilungskette.
Seufzend blickte er auf den sich leerenden Warenbestand. Wie Apolonia wohl dieses sanfte Grün stehen würde, träumte er vor sich hin, oder dieses dunkle Kupfer? Während er im Geiste Apolonias’ meergrüne Augen über den verschiedensten Stoffen leuchten sah, trat ihm jemand in die Wade und zerrte gleichzeitig an seinem Mantel. „Hee du Miles!“ erklang eine ungeduldige hohe Stimme hinter ihm. Antias drehte sich ungehalten um. Vor ihm stand eine Gruppe neugierig glotzender Knirpse, Schulkinder vermutlich, die ihrem Lehrer irgendwie abhanden gekommen waren. Einer der Jungen hatte die Hände herausfordernd in Seite gestemmt und grinste ihn unverfroren an. Da war wohl ein etwas strengerer Ton angebracht. Antias beugte sich mit glühenden Augen vor. „Tritt mich noch einmal, du kleiner Scheißer, und ich trete zurück! Was wollt ihr?“ Sichtlich unbeeindruckt ließ der Bengel zwei unvollständige Zahnreihen aufblitzen. „Ich weiß was, aber ich will was dafür.“ Antias fluchte. Für derlei Spielchen hatte er weder Zeit noch Nerven. „Das ist hier nichts für euch! Geht zu eurem Ludimagister zurück.“ Die Jungen brachen unisono in schrilles Gelächter aus. Erst auf den zweiten Blick erkannte Antias den leicht verwahrlosten Zustand der Kinder. Allesamt steckten sie in fleckigen teilweise zerrissenen Tunicae, hatten entweder gar keine Schuhe oder mehrfach geflickte Calcei an den Füßen und schienen schon seit geraumer Zeit keine Bekanntschaft mehr mit Kamm oder Strigilis gemacht zu haben, von der erzieherischen Hand eines Lehrers ganz zu schweigen. Was er da vor sich hatte war keine ausgebüxte Schulklasse, sondern eine halbverwilderte Bande diebischer Rotznasen, die eine Tracht Prügel nur so lange beeindruckte, bis der Hintern wieder abgeschwollen war. Entsprechend selbstbewusst trat der schwarzhaarige Wortführer noch einen Schritt näher. "Ich weiß, wo er hin ist, was krieg ich dafür?“ lispelte er durch die Zahnlücken. Antias lehnte sich gähnend auf sein Scutum. „Wo wer hin ist?“
„Der flinke Orientale mit der geklauten Wachstafel. Was gibst du mir dafür?“
Schau an, der Kleine hatte wohl wirklich etwas beobachtet, also stammten die Wachsplättchen an der Kleidung des Mörders tatsächlich von einer Tabula. Betont gleichgültig fragte Antias nach. „Dann hast du gesehen was passiert ist, oder?“
„Vielleicht. Was krieg ich?"
Bei den Titten der Fecunditas, war das Bürschchen hartnäckig! „Ich hab kein Geld dabei, tut mir leid.“
„Macht nix, dann nehm ich deinen Helm.“
„Meinen .... was willst du denn damit?“ lachte Antias schallend auf. „Drin baden?“
„Brauchst gar nicht so blöd zu lachen!“ maulte der Kleine beleidigt. „So schön isser auch nicht. Eigentlich will ich nen Centuriohelm.“ Antias konnte sich vor Lachen kaum mehr aufrecht halten. Er malte sich aus, wie das Kerlchen mit schaukelndem Cassis blind durch die Menge tappte, den Busch der Crista bis über die Ohren hängend und die Wangenklappen waagerecht auf den schmalen Schultern balancierend. Wütend blickte der verhöhnte Rotzlöffel auf seine Freunde, richtete sich zu seiner ganzen eher geringen Größe auf und entgegnete großspurig: „Nun gut, Urbaner, wie du wünschst. Dann teil ich mein Wissen eben mit einem deiner Kameraden.“
„Tu das.“ prustete Antias. „Aber ich fürchte, einen Helm wirst du trotzdem nicht kriegen.“
„Aber vielleicht einen der Ringe." triumphierte der kleine Bandenführer, gab den anderen Jungen Zeichen, ihm zu folgen und setzte sich in Bewegung. Das Lachen blieb Antias jäh im Hals stecken. „Wartet mal!“ Die Burschen dachten gar nicht daran, geschickt schlängelten sie sich durch die Menge und drohten, ihn ihr zu verschwinden. Antias pflügte mit vorgehaltenem Scutum hinterher und bekam das Früchtchen schließlich an der Tunica zu fassen. „Welche Ringe?“ fauchte er den Kleinen an. Der zappelte und spuckte, was freilich wenig half. Die anderen Jungen waren nun ebenfalls stehen geblieben und starrten ratlos auf ihren Anführer. Offenbar galt es hier, vor den Gefolgsleuten Haltung zu bewahren, denn der zappelnde Bursche wurde plötzlich ruhig und nahm einen Gesichtsausdruck an, den er wohl für würdevoll hielt. „Welche Ringe?“ wiederholte Antias nun auch etwas sanftmütiger.
„Na, die dein Kumpel da drüben dem dicken Händler abgenommen hat!“ Ein schmutziger kleiner Finger zeigte durch die Passanten zu einer Hauswand hinüber, an der kauend Cluvius Sulca lehnte. „Der ist sicher großzügiger als du! Und jetzt lass mich los!“ Antias ließ nicht los. Sulca. Natürlich. Der würde dem kleinen Gassenjungen seine Großzügigkeit zeigen, indem er ihn windelweich prügelte, so lange, bis der ihm bereitwillig alles erzählen würde, was er gesehen hatte. „Das wirst du schön bleiben lassen.“
Götter! Was sollte er mit den Kindern anfangen? Schön, sie hatten also gesehen, dass jemand eine Tabula entwendet hatte. Na und? Es würde sicher keine Nachforschungen geben. Nicht eines gemeuchelten Händlers wegen, eines Syrers zumal, dessen Mörder noch dazu bereits tot neben dem Opfer lag. Andererseits war das Ganze so bizarr, dass er selbst gern mehr darüber erfahren hätte, der Optio vielleicht auch. „Wie heißt du, Junge? Oder kostet die Information auch schon was?“ fragte Antias gutmütig. Der Kleine schien ernsthaft über einen entsprechenden Preis nachzudenken, besann sich dann wohl eines besseren und presste bockig „Mustela.“ hervor. „Also, hör zu Mustela. Das mit den Ringen des Händlers vergisst du sofort! Hast du mich verstanden?“ Zaghaftes Nicken. „Gut. Was den Mann mit der Tabula angeht .. ich mach dir einen Vorschlag: Du erzählst mir genau, was ihr gesehen habt, und ich versuche, eine Crista für dich zu organisieren .. irgendwie. In Ordnung?“ Scheinbar nicht. Der Kleine glaubte ihm offensichtlich kein Wort. Antias glaubte ja selbst kaum, was er da erzählte. „Ich geb’ dir mein Wort.“ redete er trotzdem weiter geduldig auf Mustela ein. „Von den anderen bekommst du höchstens einen Arschtritt, davon hättest du auch nix, oder?“ Nach einigen Augenblicken des Nachdenkens fragte Mustela halb ungläubig halb hoffnungsvoll: „Und wie willst du das machen mit dem Helm?“ Ausgesprochen gute Frage. Antias hatte einfach kein Talent für ersonnene Geschichten. „Ich hab’ noch keine Ahnung.“ gab er stöhnend zu. „Überleg’s dir.“ Mustela blickte wieder seine Freunde an und kaute auf der Unterlippe. „Na gut. Also, ich weiß wie er aussieht und wo er hin ist.“