Beiträge von Titus Germanicus Antias

    Ja, er hörte sie. Selbst als Apolonias Stimme längst hinter der geschlossenen Tür verhallt und er durch das dunkle Treppenhaus hinunter zu der Pforte gelangt war, hörte er sie. Er hörte sie auf seinem Weg hinaus in die Nacht, hörte sie deutlicher je weiter er sich von ihr entfernte. Er nahm sie mit sich fort. Ihre Stimme, ihren Duft, ihre meergrünen Blicke. „Und ich dich, Dorcas ..“ sagte er leise vor sich hin während er auf den Tiberis zu stapfte. „..du weißt nicht, wie sehr.“ Er musste sie jetzt in ein stilles warmes Zimmer in seinem Herzen ziehen lassen, um sich auf die Dinge zu konzentrieren, die vor ihm lagen. Und das war nicht nur der Rückweg durch die Stadt in die Castra. Er würde für sie da sein, aber das konnte er weder aus dem Carcer heraus noch als halbherziger Tiro. Wenn sein Weg wieder zu ihr führen sollte, durfte er ihn nicht aus den Augen verlieren.


    Kurz vor der Tiberisbrücke am nordöstlichen Rand des Trans Tiberim drückte er sich in einen dunklen Torbogen und wechselte erneut seine Kleidung. Die Ziviltunica verschwand im Sack und der Sack schließlich im Fluss. Dann überquerte er zügig die Brücke, wurde schneller und schneller und rannte schließlich als ginge es um sein Leben. Was so nicht ganz zutraf, denn es ging um ihrer beider Leben.

    Es fiel ihm noch schwerer als er ohnehin schon befürchtet hatte. Er wollte nicht gehen. Alles in ihm sträubte sich dagegen, Apolonia zurück zu lassen und sei es auch nur für ein paar endlos lange Tage. Voll von Trauer bergrub er das Gesicht in ihrem Haar und küsste sie sanft.
    „Dorcas, ich komme wieder. Ich werde immer zu dir zurückkommen und eines Tages werde ich bei dir bleiben, vorausgesetzt, du willst mich dann noch. Würde ich jetzt bleiben, müssten wir beide von hier fort.“ Und warum eines Tages? Warum nicht gleich? Was bei den Göttern wäre so verkehrt daran, mit ihr fort zu gehen? Sie waren jung, er würde irgendwo eine Anstellung finden, sie konnten heiraten und mindestens eine Handvoll wunderbarer Kinder heranwachsen sehen. Wer sollte ihn schon wirklich vermissen? Hispo und die Kameraden vielleicht, aber sonst? Niemand würde eines einzelnen desertierten Tiros wegen das Reich umkrempeln. Die Jahre würden alle Spuren verwischen und sie in Frieden und Freiheit altern lassen. Sein Herz krampfte sich zusammen in Sehnsucht nach diesem Bild. Frieden? Freiheit? Wie viel davon würde er er ihr wirklich bieten können ohne Sicherheit? Wäre er nur verliebt in sie gewesen, er hätte der Verlockung wohl nachgegeben und sich mit ihr ins Dunkel gestürzt. Aber er war nicht verliebt. Er liebte sie, und weil das so war durfte er sie nicht ins Dunkel reißen, sondern musste mit allen Mitteln versuchen, das Dunkel zu lichten. Wenn er wirklich eine Zukunft mit Apolonia errichten wollte – und wahrhaftig das wollte er, mehr als alles andere – dann musste er jetzt gehen.


    Sich von ihr zu lösen fühlte sich an als hätte man ihm den Arm ausgerissen. Der feuchte Schimmer auf ihren Augen schnürte ihm den Atem ab. Es brauchte all seinen Willen, sich von ihr abzuwenden und Babila heranzuwinken.
    „Bring mir meine Sachen .“


    Mit ihrem unerträglich traurigen Schweigen im Rücken schnürte er sich die Caligae und steckte sich den Pugio in den Gürtel. Babila kam mit Sack und Mantel herbei geschaukelt. Antias hatte begonnen, diesen zappeligen Kerl zu mögen. Nicht nur weil er irgendwie zu Apolonia gehörte. So schattenhaft er sein Dasein auch zu fristen schien, unter den zuckenden Nervenenden trug er eine stille Würde durch das Chaos. Er erledigte seine Aufgaben ehrenhaft, so ehrenhaft wie eine Lupa die ihren. Nur eine Frage ging Antias nicht aus dem Kopf: Warum hat Babila dem Nachbarn die Tür geöffnet? Wer wusste schon, was wirklich in dem Burschen vorging.
    „Pass auf sie auf Babila.“ Antias nahm dem Sklaven seine Last ab, stellte sie auf den Boden und setzte sich noch einmal zu Apolonia auf die Bettkante.
    „Du weißt doch, dass ich wiederkomme, hm?“ Seine Hand suchte die Haarsträhne, fand sie und strich sie ihr zärtlich aus der Stirn. „Wir werden alle Scherben bis auf den letzten Splitter zusammentragen.“ Dann küsste er sie noch einmal und erhob sich. Wenn er jetzt nicht ging, würde ihn die Kraft dazu verlassen. Hastig warf er sich den Mantel über, schwang sich den Leinensack auf den Rücken und stellte fest, dass er keinen Fuß vor den anderen zu setzten fähig war. Aber er musste. Wenn schon nicht seinetwegen dann ihretwegen. Beherrscht drehte er sich noch einmal zu ihr um.
    „Gib auf dich acht, Dorcas. Bis bald.“

    Wie zu erwarten war schwiegen die angetretenen Männer zur abschließenden Frage des Optio, und wie immer hatte Antias in der Tat noch ein halbes Dutzend Fragen, die keiner würde hören wollen, nicht mal er selbst. Er wusste, was der Optio für sie als wissenswert erachtete, und das würde vorerst genügen. Die Erleichterung darüber, tatsächlich einen Einsatzbefehl erhalten zu haben machte ohnedies für den Moment alle Fragen überflüssig.
    Er würde hier rauskommen! Ganz offiziell, und vielleicht .. die Erinnerung an seinen nächtlichen Ausflug jagte ihm warme Schauer über die Seele .. und dennoch .. Nein! Kein Gedanke daran! Fortuna musste sich vom Dienst an ihrem Schützling wohl erst einmal gründlich erholen. Jetzt war Schluss mit den Faxen. Für's erste zumindest. Apolonia wusste, wo sie ihn finden und dass sie auf ihn zählen konnte. So sehr sie ihm auch fehlte, er war Urbaner. Auch wenn er noch unendlich viel zu lernen hatte und in den Augen der Milites nur als tumber Tiro galt, er war Urbaner! Nein, keine Fragen.

    Antias sah noch einmal an dem wütenden Nachbarn hinab, dann an sich selbst. Nun ja, den aller sittsamsten Eindruck machte es vielleicht nicht gerade, hier nackt rumzustehen. Und was die Sache mit dem Radau betraf, war der aufgebrachte Bursche momentan zwar der einzige, der hier Lärm machte, aber wie Antias zugeben musste, nicht ganz ohne Grund. Dieses ständige Gefasel vom Lupanar würde er wohl besser ignorieren. Er kannte das, wenn irgend so ein passionierter Sittenwächter sich einmal in ein Vorurteil verbissen hatte, war ihm der Brocken nur brachial wieder zu entreißen, und dazu würde es heute nicht kommen, ein klein wenig erwachsener war er in den letzten Monaten immerhin geworden.
    „Du hast natürlich recht.“ begann Antias ruhig und höflich, „Es war äußerst unbedacht von mir, die schadhafte Truhe meiner Base zu dieser späten Stunde noch zu reparieren. Mea culpa, ich bitte um Verzeihung. Da ich morgen in aller Frühe wieder abreise, wollte ich das vor dem Schlafengehen noch erledigt wissen.“ Wirklich drollige Pantoffeln, nur das mit dem Zeigefinger sollte er besser nicht übertreiben. Sogar in seinem teilweise verständlichen Zorn würde sich der junge Kerl nach einigem Nachdenken eingestehen müssen, dass auch für die selbstgerechtesten Angriffe an der Wohnungstür Schluss war.
    „Wie du siehst, war ich gerade im Begriff, mich zur Ruhe zu begeben. Also kann ich dich nur bitten, die Entschuldigung anzunehmen und meine Base nicht zu wecken. Die Märkte öffnen früh und ich möchte am Abend wieder in Ostia sein.“
    Aus der Wohnung konnte er leises Rascheln hören. War Apolonia aufgewacht oder wuselte nur Babila ziellos umher? Vielleicht hatte er sich auch verhört, so langsam machte sich eine bleierne Müdigkeit in ihm breit und dämpfte ihm die Sinne. Wo war er stehen geblieben? Ach ja, Zeit für alle Beteiligten, sich formvollendet zurückzuziehen. Freundlich gähnte er den verstimmten Nachbarn an. „Nun, ich versichere dir, meine Abreise wird völlig lautlos vonstatten gehen. Möge Pax uns in friedlichen Schlaf wiegen. Gesegnete Nachtruhe Civis.“ Vorsichtig – um nicht etwa einen der aparten Pantoffeln einzuklemmen – schloss er die Tür.


    Als er sich wieder dem düsteren Raum zuwandte, wäre er beinahe über Babila gestolpert, der offensichtlich in der Zwischenzeit die verstreuten Kleidungsstücke zusammengesammelt hatte und ihm mit Tunica und Caligae entgegen gestolpert war. Antias nahm dem Sklaven die Kleidung dankbar ab und deutete mit einem fragenden Blick zum vom Halbdunkel verschatteten Lectus hinüber. Babila zuckte die Achseln. Keine Ahnung. Wie immer. Auf Zehenspitzen schlich er sich an Babila vorbei zum Bett.
    „Apolonia?“ Wieder antworteten ihm nur ihre sanften Atemstöße. Wenn sie bei dem Spektakel wirklich einschlafen konnte, war sie wahrlich von den Göttern gesegnet. Lächelnd zog sich Antias die Tunica über und beugte sich dann leise zu ihr hinab. „Dorcas, bist du wach? Es wird Zeit.“

    Antias fühlte sich mehr als flau im Magen. Hispo und er hatten laut Tagesbefehl mit einigen Milites aus anderen Contubernien anzutreten. Zunächst klang das ja nach einer willkommenen neuen Aufgabe, aber warum sie beide? Vor allem, warum nur sie beide? Bekamen sie nun die Quittung für ihren Temperamentsausbruch bei den Kampfübungen? Sie hatten die Scharte doch anschließend ausgewetzt. War Iuiuns Avianus so nachtragend? Hispos betretenes Schweigen und die fragenden Blicke der Kameraden waren auch nicht gerade dazu angetan, gesteigerten Optimismus in ihm aufkeimen zu lassen. Vielleicht sollten die erfahrenen Soldaten den beiden Rekruten mal so richtig das Fell gerben? Im Grunde hätte er damit leben können, nur erschien ihm das Verhältnis von fünf Miles gegen zwei Tirones doch etwas zu unsportlich gewählt, und derlei unnötige Spielchen passten auch so gar nicht zu dem Eindruck, den Antias bislang vom neuen Optio gewonnen hatte.


    Als sie gegürtet und gerüstet aus der Baracke eilten, wartete der Offizier bereits. Antias versuchte, die Mine des Optio zu deuten, von Schadenfreude konnte er darin nichts erkennen. Wie auch immer, sie würden gleich erfahren, was sie ausgefressen hatten.
    „Salve Optio Iunius Avianus! Tirones Germanicus und Peducaeus wie befohlen angetreten!“

    Zunächst hatte Antias das bärbeißige Auftreten des vierschrötigen Optio eher amüsiert als eingeschüchtert, aber während Mento mit geschwollener Aorta auf die Tirones einbellte, änderte sich das schlagartig. Am Ton lag es nicht, damit hatte er gerechnet, schließlich war er in dieser Geräuschkulisse aufgewachsen. Es war ihm völlig klar, dass Mentos Schmähungen nur ein leiser Vorgeschmack dessen waren, was an Beschimpfungen und Zurechtweisungen noch auf sie zukommen würde. Nicht Mentos Tirade, sondern ein fast schon wieder vergessener Satz des Medicus ließ Antias erstarren: '..Vielleicht bringst du es ja sogar eines Tages zum Optio.' Also war das, was da schreiend vor ihm stand letztlich nichts geringeres als das maximal erreichbare Ziel seiner kühnsten Träume. Wirklich? Wovon Mento wohl geträumt haben mochte, als er vor einer Unzahl von Jahren das erste mal zum Appell angetreten war? Davon? Wenn ja, sah man ihm das Glück nicht an, im Gegenteil. War es möglich, dass sich in dem rauen Kasernenton auch eine leise Spur von Furcht verbarg, Angst vor den Jahren, die bald folgen würden, wenn Mentos Dienstzeit zu ende ging? Während er die hervorquellenden Augen des Optios studierte, stieg plötzlich Respekt in ihm auf. Auch wenn sich da gewiss keine Freundschaft anbahnte, an Achtung dem alten Soldaten gegenüber würde er es nie fehlen lassen.
    Antias spannte sich an, wölbte den Brustkorb und brüllte voll Inbrunst: „SALVE OPTIO OVIDIUS MENTO! SALVE CENTURIO DUCCIUS FEROX!“

    Seufzend ließ Antias sich ins Kissen fallen. Auch das noch! Fortuna hatte offensichtlich ihre Tage. Ein hellhöriger Nachbar mit verletztem Sittlichkeitsempfinden. Diese scheinheiligen Vorstadtrömer und ihre Doppelmoral. Was glaubten die eigentlich? Dass es eine Lupa nur treiben durfte, wenn sie Geld dafür nahm? Ging ein Schuhmacher nach vollbrachtem Tagwerk etwa barfuß nachhause? Außerdem machte der Bursche da draußen mit seinem Gebrüll weit mehr Krach als es ein knarzendes Bettgestell je vermocht hätte.
    „Ein Freund von dir?“ füsterte er amüsiert zu Apolonia hinüber. Keine Antwort. Vielleicht wartete sie einfach, bis der Nachbar wieder ging. Oder war sie eingeschlafen? Bei dem Geschrei? Antias setzte sich vorsichtig auf und sah zur Tür. Babila schien mal wieder von der Situation völlig überfordert, denn die Tür wurde immer weiter aufgeschoben. Lass es, das geht dich nichts an! sagte er sich. Was stimmte. Allerdings hatte er für nächtliche Eindringlinge noch nie viel übrig gehabt. Egal wer der Schreihals da draußen auch war, er würde hier nicht mitten in der Nacht in ein Zimmer stürzen, das nicht seines war, und Apolonia aus ihrem eigenen Bett keifen. Genervt stand Antias auf und hielt nach seiner Tunica Ausschau? Wo hatte er den Fetzen nur hingeworfen? Da lag eine von Apolonias Sandalen, dort eine Caliga … dann eben nicht. Nackt wie er war ging er zu Babila an die Tür und schob das Nervenwrack behutsam zur Seite.
    „Lass gut sein, Baila.“
    Als er die Tür aufzog sah er sich wider Erwarten keinem alten schnaufenden Sack gegenüber, sondern einem jungen Burschen. Was bei allen Wettern machte ein Kerl wie der hier an Iuppiter Liber allein und blökend in einem dunklen Treppenhaus? Antias ließ seinen Blick schweifen. Der Knabe war nichtmal so unsympathisch, allerdings beschuht mit den albernsten Pantoffeln, die er je gesehen hatte. Sei's drum.
    „Salve Civis. Ich will ja nichts sagen, aber du machst einen ziemlichen Radau für die Tageszeit. Darf man den Grund erfahren?“

    Lädiert und mit schuldbewusst gesenkten Köpfen schlichen Antias und Hispo über den Exerzierplatz zu ihrer Ausgangsposition. Was war das denn gerade? fragte sich Antias irritiert. War da irgend etwas Unausgesprochenes zwischen ihnen oder hatten sie sich einfach nur hinreißen lassen, um den wachsenden Druck loszuwerden? Fragte sich nur, um welche Art von Druck es sich da handelte. Wie auch immer, Pluspunkte hatten sie bei Optio Iunius damit sicher nicht gesammelt. Hispo schlurfte wortlos neben ihm her und wischte sich missmutig das Blut von den Nasenlöchern. „Du hast deinen Schädel nur noch im Lupanar!“ grummelte er plötzlich. Das hatte ja kommen müssen, als ob er mit der Keilerei angefangen hätte. „Und du hast mal wieder den Schwanz zwischen den Ohren!“ maulte Antias zurück. Schweigend stapften sie vor sich hin und beobachteten dabei verstohlen die anderen Rekruten. Nach gehobener Kampfkunst sah das zwar auch nicht bei allen aus, aber offensichtlich hatten die begriffen, worum es ging.
    „Lassen wir das auf uns sitzen?“ fragte Hispo mit einem Anflug von Grinsen. „Im Leben nicht.“ Mit tiefen Atemzügen beugten sich beide nach vorn, konzentrierten sich und begannen sich lauernd zu umrunden.

    Die Tirones marschierten eher gespannt als beunruhigt in die Unterkunft zurück und brachten sich am Fußende ihrer Pritschen in Stellung. Was Stubenkontrollen betraf, hatten sie sich mit der Zeit ein gehöriges Maß an Fatalismus angeeignet. Die Kontrollen der Vergangenheit hatten gezeigt, dass der Verlauf einer Stubenkontrolle eher vom Zustand des Offiziers abhing als vom Zustand der Baracke. Optio Ovidius war zwar immerhin so gnädig gewesen, keine Kontrollen vor dem Morgenappell abzuhalten, hatte ihnen aber mit den Caligae meist mehr Dreck in die Bude geschleppt als sich dort im Verlauf eines halben Monats angesammelt hätte, wenn die Rekruten ihrem Kehr- und Putzdienst nicht nachgekommen wären.


    Sie hatten schließlich alle ihren Stolz und wollten schon von sich aus nicht hausen wie die Säue. Hier wurde gekocht, gegessen, geschlafen und gearbeitet und obwohl sie es sich zur Gewohnheit gemacht hatten, zwei mal täglich zu fegen und alle Gegenstände, ob Kleidung, Werkzeug oder Geschirr sofort wieder an ihrem Platz zu verstauen, wenn sie nicht mehr benötigt wurden, war ihnen dennoch völlig klar, das jeder Optio noch genügend Mängel und Versäumnisse finden konnte, wenn er es ums verrecken darauf anlegte.

    Die Tirones waren hocherfreut. Obwohl sie sich mittlerweile an das Gewicht der Ausrüstung gewöhnt hatten, war es ihnen deutlich lieber, Teile abzulegen als aufzunehmen. Gut gelaunt legten sie die Scuta ab und stellten die Hastae zusammen. Während Antias hastig damit beschäftigt war, Gladius und Pugio abzuschnallen um sie zusammen mit dem Helm ordentlich auf das gewendete Scutum zu legen, ging er im Geist bereits Vor- und Nachteile möglicher Gegner durch. Hispo? Einerseits schnell auf den Beinen, zäh und natürlich groß, verdammt groß. Andererseits etwas unkoordiniert in den Bewegungen und mental nicht immer auf Idealhöhe. Fimbria? Kleiner als er selbst und erheblich langsamer, dafür hochkonzentriert und stark wie ein Braunbär. Dann waren da noch die Zwillinge, aber die konnte er vergessen, wer die zu trennen versuchte, hatte unweigerlich beide am Hals. Macro? Nahezu austrainiert und gesegnet mit bewundernswerten Reflexen aber im Gegensatz zu Antias noch völlig unerfahren in den dreckigeren Variationen körperlicher Auseinandersetzung. Scato?


    Weiter kam er nicht mehr in seinen Überlegungen, denn kaum hatte er grübelnd das Kettenhemd zusammengelegt, wurde er seitlich angesprungen und von den Beinen gerissen. So viel zum Thema Aufmerksamkeit. Obwohl ihm der Aufschlag die Luft aus den Lungen gepresst hatte, versuchte er sich sofort auf die Seite zu rollen, aber der Angreifer hatte ihn bereits am rechten Arm gepackt und drehte diesen nun gnadenlos nach hinten. Antias spuckte Staub und blinzelte keuchend nach oben. „Hispo, du dumme Sau!“ Eine Antwort blieb aus, stattdessen wurde ihm zu allem Übel noch ein Knie zwischen die Schulterblätter gerammt. Das Gesicht in den Dreck gepresst, überdachte er seine Möglichkeiten, viele waren derer nicht. Würde Hispo ihm den Arm auskugeln? Wohl kaum, brauchte er auch gar nicht. Der konnte in aller Ruhe so auf ihm hocken bleiben, wenn's sein musste bis zum Abendappell. Oh Elend, war das alles peinlich! Fluchend klatschte er die linke Hand auf den Boden, der Griff löste sich sofort und Hispo erhob sich mit einem selbstgefälligen Grinsen.
    „Guten morgen Kleiner.“


    Brummend rappelte Antias sich hoch und warf einen finsteren Blick zum Optio hinüber, der sie reglos aber aufmerksam beobachtete. Glotz nicht so blöd, kann jedem mal passieren!
    „Und du ..“ wandte er sich wütend zu Hispo um, aber der stürmte schon wieder grinsend auf ihn zu. Antias blieb gerade noch genügend Zeit, den Kopf einzuziehen und den Oberkörper nach vorn zu nehmen, da schlug Hispo auch schon ein. Diesmal nicht, Freundchen! Keuchend drehte er sich aus der Hüfte nach hinten, packte Hispo an den Schultern, ließ dessen Schwung seitwärts ins Leere laufen und warf sich nun seinerseits von auf den vorbeistolpernden Riesen. An der Taille gepackt taumelte Hispo seitwärts, blieb an Antias' vorgestelltem Fuß hängen und schlug krachend zu Boden. Mit einem heiseren Triumphschrei auf den Lippen hechte sich Antias nach vorn und knallte schmerzhaft mit der Brust gegen Hispos nach hinten gezogenen Ellbogen. Wieder wich ihm die Luft aus der Lunge. Auf allen vieren krabbelte Antias japsend zur Seite, was Hispo genügend Zeit verschaffte, sich ebenfalls auf die Knie zu wuchten.


    In einer wirbelnden Wolke aus Staub warfen sie sich einander entgegen. Antias bekam ein Stück Tunica zu fassen, zerrte Hispo zu sich heran und knallte ihm den Kopf gegen die Stirn. Jaulend fuhr Hispo zurück, holte aus und hämmerte Antias die Faust auf die Schläfe. In einer flimmernden Wolke aus bunten Lichtern zwang Antias sich auf die Beine und fing sich einen schwungvollen Tritt in die Rippen. Von langen gierigen Armen nach vorn gerissen klatsche er benommen gegen Hispo, der nun versuchte, seine Beute auszuwringen wie einen nassen Lappen. Antias bekam den Arm frei und schlug Hispo zwischen die Augen, bekam einen Schlag in die Nieren und erwischte im Gegenzug Hispos Leber. Schädel an Schädel ineinander verkrallt wie läufige Katzen beackerten sie sich mit Fäusten, Ellbogen und Knien, bis ihnen Schweiß und Staub die Augen dermaßen verklebt hatten, dass sie sich erst einmal wieder orientieren mussten, in welchem Teil des Exerzierplatzes sie gelandet waren.

    Mich zu verlieren? stach es ihm ins Herz. Was redete sie denn da? Sie würde ihn nicht verlieren! Nicht wenn sie es nicht wollte. Ihre Zweifel würde sie verlieren, womöglich auch die Geduld und, wer weiß, eines fernen Tages vielleicht ein paar ihrer süßen kleinen Zähne, aber ihn nicht. Sicher, alles was geschehen war, war schnell geschehen, aber es hätte auch in einem Jahr passieren können, oder in zehn oder niemals. Wie oft muss man ins Feuer greifen, um festzustellen, dass es heiß ist? Sie mussten beide irgendwie in ihren Leben zurecht kommen, aber solange es da auch ein drittes Leben gab, das ihnen gehörte, würden sie sich nicht verlieren. Wirklich nicht? Und woher kam diese leise Traurigkeit, die ihn nie ganz verlassen wollte? Wusste er wirklich, was die Jahre mit ihnen anstellen würden? Konnte er wirklich alle Unwägbarkeiten der Zukunft erahnen? Natürlich nicht! riss er sich trotzig aus den trüben Gedanken. Sonst wären es ja schließlich keine Unwägbarkeiten. Dann würde er seiner Trauer eben entgegen treten müssen, und ihrer am besten gleich mit. Lächelnd drehte er sich zu ihr und strich liebevoll durch ihr Haar.


    „Jetzt hör mal .. mich verliert man nicht so einfach. Ich mach Krach, wenn man mich fallen lässt und leuchte im Dunkeln.“
    Sie schwieg. Das war gut. Alles war gut. Alles war still und friedlich um sie her. Bis zu dem Augenblick, als irgendein instinktloser nachtaktiver Störenfried gegen die Tür zu hämmern begann.
    „Haben wir Babila ausgesperrt? Dann wundert's mich allerdings, dass er sich schon meldet.“
    Aber nein, der Sklave kam hektisch aus einer dunklen Zimmerecke gehuscht. Hatte er die ganze Zeit … ? Kein Wunder, dass der Bursche so durch den Wind war. Umständlich fummelte Babila an der Tür. 'Ähm'? Verdammt richtig – Ähm? Das hätte Antias jetzt wirklich auch mal interessiert.

    Antias war wach und lebte, nichts geringeres. Das erste mal war er wirklich wach und am Leben. Mit geschlossenen Lidern lauschte er den leisen Atemzügen neben sich, ließ die Hand langsam über Apolonias noch schweißfeuchten Rücken streichen und lebte. Er hatte an etwas gerührt, das hinter allem war. Zuhören hatte er gewollt, sie fragen, ihr erzählen, einfach nur bei ihr sein. Aber der Fluss der verrinnenden Augenblicke hatte sie beide einfach fortgerissen in ein uferloses Meer aus unerfüllten Träumen auf dem Fragen und Antworten keine Rolle mehr spielten. Lachend hatten sie sich umbrandet wie aufgepeitschte Wellen, waren auf schäumenden Wogen in den sturmschwarzen Nachthimmel gehoben und von brodelnden Tälern wieder verschlungen worden. Das rauschenden Blut in ihren Adern hatte sie in einem Strudel aus blauem endlosen Nichts gezogen und wieder emporgetrieben in die flirrenden Strahlen des Spätsommermondes. Nun war der ewige Ozean unter ihnen dunkel und friedvoll geworden und wiegte sie sanft durch die Nacht. Lächelnd fühlte er ihren Blick auf sich ruhen und sah zu ihr auf.


    Leuchtend meergrün funkelte ihr Blick durch das Dunkel, weit und offen und endlos tief. Sie sah ihn schweigend an. Aber was sah sie? Sah sie was er sah? Sah sie auch etwas hinter allem? War sie auch so endgültig wach und so unumkehrbar am Leben wie er? Was wünschte sie sich? Wovon träumte sie? Was konnte er tun, um sie so glücklich zu machen, dass sie es bleiben würde? Sollte er ihr sagen, was er fühlte? Wusste sie das nicht bereits? Behutsam zog er sie an sich, küsste ihre Stirn und schlang seine Arme um sie. Den Blick haltlos in die Nacht gerichtet suchte er nach Worten. „Was auch immer aus uns werden wird .. du bist das Wasser auf meinen Wurzeln.“ Ein leichtes Schaudern lief über ihre Haut. Antias griff unter sich, bekam die zerwühlte Decke zu fassen und zog sie Apolonia vorsichtig über die Schultern.
    „Du frierst ja. Was kann so kalt sein, dass es dich an meiner Seite frieren lässt?“

    Das zappelige Bündel erwischte Antias völlig unvorbereitet. Tief in Gedanken versunken war er die Stufen hinauf getappt, als plötzlich eine nachtschwarze Gestalt von oben auf ihn zu wuselte. In Ermangelung eines Scutums riss er sich mit der linken Hand Sack und Mantel vor die Brust, die rechte zuckte instinktiv zum Dolch. Doch die Attacke blieb aus. Unkoordiniert mit den Armen schlenkernd trat der vermeintliche Angreifer einen Schritt zurück und stieß ein verlegenes 'Ähm' aus. 'Ähm'? Antias nahm die Finger vom Dolch und ließ erleichtert die Deckung sinken.
    „Heilige Wolfsmutter .. Babila?“ Eiliges Nicken. Schnaufend stütze sich Antias einen Moment lang auf seinen Knien ab. Der Bursche würde ihn noch ins Grab bringen.
    „Jag mir noch einmal einen solchen Schreck ein, und ich nehm deine Ohren mit!“ Erschrocken drückte sich Babila gegen die Wand. Ach ja, richtig, Babila muss ja behutsam behandelt werden, besteht er doch fast ausschließlich aus bloß liegenden Nerven. Und was ist mit meinen Nerven?
    Besänftigend tätschelte er die zitternde Wange des Sklaven.
    „Schon gut, Babila .. ich mach' nur Spaß. Was wären wir ohne dich.“ Entspannt bis in die Haarwurzeln vermutlich.
    „Und jetzt nimm den Sack und führ mich zu Apolonia.“


    Wortlos erklommen sie die ächzende Treppe und standen schließlich vor einer halb geöffneten Tür. Flackernd und verheißungsvoll schimmerte warmes Kerzenlicht auf den Flur, ein lichter Nebel verlockender Gerüche umwehte Antias. Er hielt inne und sog tief die Luft ein. Frische Blumen, Öle und dazwischen betörend leicht und gleichsam schwer der vertraute Duft von Sandelholz und Narde und der unendlich sanfte Hauch des ewigen Ozeans. Babila wies ungeduldig tänzelnd auf die Tür und Antias trat ein.


    Da stand sie. Inmitten einer rührend liebevoll arrangierten Welt tiefsten Friedens. Die Hände ineinandergelegt, mit klarem Blick und stillem Lächeln. Antias keuchte unhörbar, denn als er sie dort stehen sah, nahm ihm plötzlich eine übermächtige Traurigkeit den Atem. Wie eine weißglühende Klinge fuhr im ein Bild in die Brust von einer Frau, die ihren Gemahl erwartete zwischen den unüberwindbaren Mauern eines gemeinsamen Lebens. Aber es gab nichts, gar nichts, was er in diesem Moment hätte dafür tun können. Gestern war tot und Morgen noch nicht geboren. Schweigend ging er auf sie zu, blieb einen Augenblick ruhig vor ihr stehen, und umschlang endlich ihre schmalen Hüften, hob sie lächelnd hoch, drehte sich mit ihr langsam durch den Raum und küsste sie.

    Rom stand wieder an seinen Platz. Größtenteils. Die Schlange der Wartenden war zwar etwas länger, die Blicke etwas neugieriger geworden, und am Tor setzte wieder das quengelige Gemaule ein, aber ansonsten war die Welt wieder wie sie war, ein wunderbarer Ort. Antias streichelte noch einmal lächelnd ihre Wange.
    „Bis bald Apolonia. Besser ihr geht jetzt. “ Dann riss er sich los, nahm den Kopf aus der Sänfte und zog hastig den Vorhang zu.


    „Äähm .. bedaure, Bürgerin! Keine Haustiere! Tribun hin oder her!“ So beiläufig wie möglich machte er Babila Zeichen, seine Herrin rasch von hier fort zu bringen.
    „Bringt die .. ääh .. Gazelle wieder zurück! Die Vorschriften sind diesbezüglich .. öhm .. guten Heimweg!“ Die Sänfte drehte sich langsam, der Vorhang wogte leicht im Wind. Antias verbot sich, ihr nachzusehen und bohrte stattdessen seinen Blick in die nölenden Lastträger. Mit daunenweichen Knien und steinharter Mine marschierte er zum Tor zurück.
    „So, ihr vertrockneten Hasenhirne! HABEN WIR EIN PROBLEM?“
    Im gleichen Moment kam Fimbria mit einem verklärtem Lächeln durch's Tor geschwebt.
    „Na, immer sachte Antias. Du solltest mal auf die Latrine, das bringt die Welt zum leuchten.“
    Antias brach in schallendes Gelächter aus.
    „Witzig, oder?“ strahlte Fimbria.
    „Absolut zum totlachen.“

    Wie schön, eine Frau mit Verantwortungsgefühl, kein Wunder dass er sie liebte.
    Langsam glitt seine Hand von ihrer Stirn zu ihrem zarten Kinn, zog sie sacht zu sich heran und kostete vorsichtig ihre warmen Lippen als wären sie in feinen Nektar getaucht, dann kamen sie den seinen sanft zuckend entgegen und er trank ihren Nektar in langen tiefen Zügen. Von Süden tobten in brüllende Sandwolken gehüllt die Numidier übers Meer, von Osten preschten in trockenen Staubwirbeln die Parther über die Berge, von Norden fegten die eisigen Stürme der Germanen herab, von Westen zogen die vernichtenden Feuersäulen der Seeräuber über das Land. Das Imperium stürzte bebend in sich zusammen, der Wind verstummte, das Wasser versiegte, die Welt verödete, nur Apolonias Lippen hielten das Leben zurück und fingen es ein und sogen es auf. Aber das durfte nicht sein. Nicht jetzt. Nicht heute. Er musste Rom beschützen. Er musste sie beschützen.
    Behutsam löste er sich von ihr und forschte in ihren Augen.
    „Wenn es dir gut geht .. ist es wegen Iuppiter Liber? Hast du dich anders entschieden?“

    Als Antias die Insula schließlich erreicht hatte, musste er feststellen, dass sich seine Zivilkleidung in der Zwischenzeit was Zustand und Optik betraf wohl kaum mehr von den müffelnden dreckigen Militärklamotten unterscheiden ließ, die er in seinem Leinensack mit sich schleppte. Nicht gerade die passende Aufmachung für einen offiziellen Besuch. Allerdings war der Besuch nichts weniger als offiziell und er konnte schon froh sein, überhaupt noch einen zusammenhängenden Fetzen Stoff am Leib zu haben. Mit ausgelassenen Menschenmassen hatte er zwar gerechnet, sie sogar in seinen ach so genialen Plan einbezogen, die Dimension des Trubels allerdings, der ihn erwartet hatte als er tiefer in die Stadt gekommen war, ließ sich mit den Iuppiterfeiern, die er von Mogontiacum her kannte, kaum vergleichen.


    Ursprünglich hatte er geplant, gedeckt von der feiernde Menge unauffällig die Hauswände entlang zu schleichen, stur geradeaus blickend, die Kapuze des Mantels tief ins reglose Gesicht gezogen. Aber schon in der ersten überfüllten Gasse war ihm klar geworden, dass das so nicht hinhauen würde. In diesem tanzenden und drängenden Gewimmel war es einem einzelnen Mann schlichtweg unmöglich aufzufallen, es sei denn, er stünde lichterloh in Flammen oder schlich bemüht unauffällig die Hauswände entlang. So war er also mitten ins Getümmel getaucht, hatte sich einen Blumenkranz auf den Kopf drücken und sich mit Wein, Früchten und allerlei anderen klebrigen Substanzen besudeln lassen bis er schließlich ausgesehen hatte wie ein besoffener Schweinetreiber. Der alte Mantel seines Vaters war von Fackeln angekohlt und seine Tunica an der Schulter eingerissen, nur seine Caliqae sahen seltsamerweise noch immer aus wie neu.


    Verunsichert zog er die angelehnte Holztür auf und trat zögernd in das spärlich beleuchtete Stiegenhaus. Sein Blick wanderte abwechselnd die Stufen hinauf und an seinen Kleidern hinunter. Wollte er so vor Apolonia treten? Nein! Wollte er er nicht. Das heißt, doch, wollte er schon. Nur nicht so. Aber wie sonst? Seufzend ließ er sich auf den knarrenden Stufen nieder. Was will ich überhaupt? fragte er sich flau. Apolonia, natürlich, was sonst? Aber nicht so wie Hispo dachte, nicht so wie Apolonia vielleicht selbst dachte. Er war nicht gekommen, um sich wie ein dummgeiler Patrizierhammel auf sie zu stürzen, nicht so, nicht er. Nicht er auch noch. Ob sie das wusste? Ob sie wusste, dass er ihr niemals etwas nehmen würde, was sie ihm nicht offenen Herzens von sich aus zu geben bereit war? Ob sie wirklich wusste, was er empfand? Grübelnd begrub er den Kopf in den Händen, und bemerkte, dass er immer noch diesen bescheuerten Blumenkranz trug. Wütend auf sich selbst riss er den Kranz herunter, und warf ihn in eine dunkle Ecke.


    Haben wir's dann bald, Vollidiot? Sie ist da oben und du willst sie! Mehr als andere sie wollen und weit mehr als du andere gewollt hast. Du bist hier, sie ist hier. Also schwing deinen knackigen Rekrutenarsch endlich von dieser wurmstichigen Treppe und sieh gefälligst zu, dass du da hochkommst! Genau das war der Punkt. Er war ihretwegen hier, nicht seinetwegen. Kopfschüttelnd erhob er sich, nahm den Mantel ab und stapfte die Stufen hinauf. Hoffentlich würde er die richtige Tür erwischen, nach Nachbarschaftstratsch stand ihm nun wirklich nicht der Sinn.

    Draußen vor dem Osttor wurde der Wallgraben von einem mit morschen Holzdielen abgedeckten Erddamm unterbrochen, den die Fackeln auf der Mauer kaum zu beleuchten vermochten. Jenseits des Grabens führte ein schmaler Weg zwischen gemauerten Speichern und Scheuern nach Osten. Rechts des Weges, keine zwanzig Schritte vom Graben entfernt, gähnte dunkel und schwer ausdünstend die riesige Abfallgrube der Castra. Die steil abfallenden Böschungen waren von wilden Ginsterbüschen überwuchert und verbargen die Grube gnädig vor den Blicken von Passanten und Torwachen. Der Gestank allerdings verbarg sich in keinster Weise und die geschäftigen Rekruten waren dankbar dafür, dass im spärlichen Licht nicht zu erkennen war, was genau am Boden der Grube so vor sich hin moderte.
    Vorsichtig zerrten sie ihre Fässer durch die Büsche auf die Böschung zu. Antias zog seinen Dolch und hebelte den Deckel vom Fass. Zuerst quoll ein staubender Strohhaufen heraus, dann flog ein verschnürter Leinensack hinterher und endlich krabbelte Fimbria schnaubend aus dem Fass. Antias zog Fimbria neben sich ins Gebüsch und flüsterte zu Hispo hinüber. „In Ordnung.“ Sie ließen los. Die Fässer walzten die Böschung hinunter und schlugen dumpf am Grubenboden auf.
    „Jetzt?“ fragte Fimbria leise.
    „Nein, jetzt noch nicht.“ zischte Antias zurück. „Bleib unten und warte.“
    Dann streckte er die Hand nach Hispo aus und packte ihn an der Schulter.
    „Komm Großer, auf ein Neues.“


    Über den Erddamm durch das offene Seitentor in die Castra zurückgeeilt stellten sie zu ihrer Erleichterung fest, dass der übellaunige Miles inzwischen in ausreichendem Sicherheitsabstand auf den Stufen saß und sich halblaut mit seinem über die Mauer gebeugten Kameraden unterhielt. Nur kurz blickte er zu den schwitzenden Rekruten hinüber. „Geht das nicht schneller, verdammt?“


    Hispo und Antias packten wortlos das zweite Paar Fässer und beeilten sich, wieder hinaus zu kommen. Fimbria erwartete sie bereits unruhig auf und ab zappelnd im Gebüsch. „Wie läuft's?“ Die Fässer rollten donnernd in die Grube. Jetzt kam's drauf an. Antias griff nach dem Sack, zog sich die Tunica über den Kopf und kroch zu Fimbria hinüber.
    „Es klappt. Zwei raus, zwei rein. Wenn nötig, überlass Hispo das Reden.“
    „Sowieso.“ keuchte Fimbria und trat mit Hispo den Rückweg an.
    Antias kauerte angespannt im Gebüsch, sah die beiden Kameraden zum Tor hetzen und darin verschwinden. Mit angehaltenem Atem lauschte er zu den Mauern hinüber. Nur die Gesprächsfetzen der Wachposten waren zu hören, dann genagelte Stiefelsohlen auf dem Pflaster und schließlich das erlösende Rumpeln von Fässern, die durch das Seitentor gerollt wurden. Mit einem tonlosen Lachen nahm er einen Wasserschlauch aus dem Sack und goss den Inhalt über sich aus.


    Fimbria brach mit seinem Fass leise kichernd durch die Büsche.
    „Nix gemerkt. Er hat gar nix gemerkt!“ Antias musste ebenfalls kichern. Er schrubbte sich mit seiner Tunica so sauber es ein Schlauch voll Wasser eben erlaubte und fischte seine zerknitterte Zivilkleidung heraus. Hispo war nun ebenfalls angekommen und wieder schlugen Fässer berstend auf den Abfall. Antias zog sich an, starrte auf die dunklen Umrisse seiner Kameraden und wusste nicht, was er sagen sollte. Ergriffen schluckte er an seinen Worten.
    „Also .. ich ..“
    „Lass bleiben, für so was ist jetzt keine Zeit.“ schnitt ihm Hispo das Wort ab. „Wir müssen zurück.“
    „Bis morgen früh.“ wisperte Fimbria, und schon waren die beiden wieder draußen auf dem Weg und strebten strammen Schrittes den Castra zu. Antias sah ihnen blinzelnd nach. Über den Damm, durch das Tor und weg waren sie. Schritte entfernten sich, das Tor knallte zu. Was tat er hier nur?


    Benommen wälzte er sich auf den Rücken und starrte in den Himmel. Immerhin, er war draußen. Aber das war's auch schon fürs erste. Für Triumphgefühle fehlte sowohl die Zeit als auch der Anlass, denn der ganze Plan war so behämmert wie ein hastig improvisierter Plan nur sein konnte. Bis hierher war er zwar aufgegangen, aber Antias wusste nur allzu gut, dass der wirklich behämmerte Teil des Planes noch vor ihm lag. Geduckt erhob er sich, griff nach dem Sack und robbte vorsichtig durch die Ginsterbüsche aus der Grube. Jetzt noch ein Stück Richtung Osten, dann ab nach Süden zur Tiburtina und zwischen Viminal und Esquilin hindurch auf den Tiberis zu. Wenn er nicht die ganze Strecke rennen wollte, musste er jetzt schleunigst los.

    Der energischere der beiden Wachen war mittlerweile die ausgetretenen Holzstufen des Aufganges heruntergekommen und stand nun als bedrohlicher Schattenriss am Fuß der Treppe, den Mantelsaum schützend über die Nase hochgezogen. Als er die beiden Tirones kommen sah, ließ er den Mantel los und stieß ein blutrünstiges Knurren aus.
    „So, ihr Arschlöcher! Ende der Veranstaltung!“


    Mit angelegter Hasta stürmte der Miles auf sie zu, wurde aber vom Dunstkreis der Fässer jäh gestoppt und tappte einige Schritte zurück. Würgend zog er den Mantel wieder hoch.
    „Ihr räumt jetzt diesen stinkenden Mist hier weg! Auf der Stelle!“
    Ächzend ließen die Rekruten von ihrer Last ab. Hispo schob sich mit entschuldigender Geste vor Antias und ließ reumütig die Schultern hängen.
    „Würden wir gern machen, aber der Durchgang ist ja zu.“
    „Allerdings, und der bleibt auch zu! Zumindest für euch! ABFALL MORGEN FRÜH!“
    „Verstehen wir vollkommen, Miles. Nur .. wieder mitnehmen können wir die Fässer auf keinen Fall, die Kameraden fangen wegen dem Gestank schon an zu meutern.“
    „Ja, und wenn beim Morgenappell noch was davon rumsteht, dreht der Optio durch!“ ergänzte Antias mit dünner Stimme.


    Das verzweifelte Stöhnen des Wachsoldaten klang seltsam gedämpft unter dem vorgehaltenen Mantel. „Ach, verdammt .. was hätte das für eine gemütliche Nachtwache werden können.“
    Der zweite Posten hustete gequält von der Mauer und versuchte zu erspähen, was da unten vor sich ging. „Was ist jetzt?“ rief er flehend „Das halt ich keine ganze Wache lang aus!“


    Der Wind wisperte sanft um die Giebel. Gesänge klangen von Westen her. Zikaden zirpten einlullend in den Büschen jenseits der Mauer. Aus einem der unzähligen Vorstadtgärten stieg das vielstrophige Lied einer Nachtigall zum Firmament. Vom samtenen Dunkel am Osttor stanken die Fässer zum violetten Abendhimmel …
    „Kommt da noch mehr?“ fragte der Soldat schließlich mit aufkeimender Hoffnung in der Stimme.
    „Nein, sechs Fässer. Mehr nicht.“
    Wieder legte sich Schweigen über das Pflaster.
    „Na schön ..“ Schniefend stapfte der Miles auf eines der schmalen Seitentore zu, zog vorsichtig die schweren Riegel zurück und stieß den Torflügel auf. „Also los, Beeilung! Schafft das Zeug in die Grube, aber leise, wenn's geht!“


    Während Antias mit galoppierendem Herzschlag Fimbria auf das Seitentor zurollte, stellte Hispo sein Fass aufrecht und fummelte den Deckel auf. Die Wache wich entsetzt noch weiter zurück.
    „Was machst du da?“
    „Ich dachte, eine Stichprobe ...“
    „Mach das zu! Sofort!“
    Von Ekel geschüttelt taumelte der Posten zum Aufgang hinüber. Hispo knallte den Deckel zurück, legte das Fass um und rollte es Antias hinterher.
    „Na los, Tempo! Und gebt Laut, wenn ihr fertig seid!" Die Stimme des Miles klang bereits überraschend müde. Bemerkenswert, wo die Nachtwache doch kaum begonnen hatte.

    Antias Lächeln wurde sanft. Oh ja, das musste er. Er musste wissen, ob es ihr gut geht und er musste sie sehen. Aber vorsichtig. Nichts lag ihm ferner als Apolonia auf irgend eine Weise zu kompromittieren, und den Unmut der Wartenden hatte er zusätzlich im Auge zu behalten. Die Lastträger, die er am Tor hatte stehen lassen, begannen bereits unpassende Kommentare abzusondern. Denen würde er es anschließend so richtig geben, mit dem schnodderigen Umgangston den Wachen gegenüber musste ohnehin endlich mal Schluss sein. Antias fixierte die Stänkerer mit einem Blick, der eine Taube im Flug hätte braten können. Das würde zumindest ein paar Minuten lang für Ruhe sorgen. Außerdem befand sich Fimbria sicher bereits im Anmarsch.


    Mit betont umständlichem Räuspern wandte er sich wieder der Sänfte zu, ihrer Sänfte.
    „Das mag schon sein, Bürgerin!“ intonierte er lautstark. „Aber auch Angehörige höherer Dienstgrade müssen kontrolliert werden! Da sind die Vorschriften unmissverständlich!“


    Dann gestattete er sich endlich, den Vorhang zurückzuschieben und sich in die Sänfte zu beugen. Da saß sie. Mitten am Tag brach der Morgen noch einmal an, die Sonne erhob sich gleißend hinter dem gerafften Stoff und überflutete die Welt mit blumigen Strahlen aus Sandelholz und Narde. Seine Hand wanderte langsam zu ihrer Stirn und strich eine Haarsträhne beiseite.
    „Apolonia.“ strahlte er sie an. „Bei allen Speeren des Kaisers, wenn ich dich jetzt nicht küsse, reißt Fortuna mir den Schädel ab. Kannst du das verantworten?“

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    Vom Westen her gellte das Schreien und Lachen angetrunkener Bürger immer schriller über die Mauern. So langsam wurde es Zeit. Die Kameraden schnappten sich je eines der Fässer, legten sie keuchend um und rollten sie langsam an der langen Reihe der Barracken vorbei Richtung Osttor. Hinter den Ställen war der gestampfte Boden mit Stroh ausgelegt. Das machte das Rollen der schweren Fässer zwar mühsamer, dämpfte aber gleichzeitig das unregelmäßige Gepolter. Zwischen den Werkstätten und Magazinen wurde der Boden wieder härter und unmittelbar vor den Ostmauer kamen die schwitzenden Tirones schließlich auf grobes Pflaster. Auf den Wehrgängen beiderseits des Tores hatten die beiden Posten gerade erst Stellung bezogen und glotzen nun irritiert von der Mauer auf die heran rumpelnden Urbanerrekruten.


    „Heee, ihr da unten! Was soll das werden?“
    Die Tirones knallten die stinkenden Fässer in's Dunkel neben das geschlossene Tor und wischten sich keuchend den Schweiß von der Stirn. Hispo atmete ein paarmal tief durch, blickte prüfend zu Antias und trat dann in den schwachen Schein einer Wandfackel.
    „Order vom Optio! Der Abfall muss noch in die Grube!“
    „Abfall? Zu spät! Da geht heut kein Müll mehr raus!“
    „Verstanden!“ bestätigte Hispo, machte auf dem Absatz kehrt und zog Antias hinter sich her.
    „Hab ich dir doch gesagt! Wir hätten uns beeilen sollen, verfluchter Mist!“
    Antias blickte auf die Mauer zurück und entgegnete lautstark: „Wer ist denn auf der Latrine nicht fertig geworden? Ich vielleicht?“
    Und jetzt nichts wie zurück!


    Eilig huschten sie durch die immer schwärzer werdenden Lagergassen, an den Werkstätten vorbei hinter den Ställen entlang zurück zu den Unterkünften. Mit untergeschlagenen Armen wartete Fimbria bei den restlichen Fässern. „Und, wie läuft's?“ Antias zuckte schnaufend die Achseln und schnappte sich ein neues Fass, Hispo tat es ihm gleich und beide verschwanden wieder tief über ihre rollende Last gebeugt in der noch jungen Nacht.


    „Das artet ja in Arbeit aus.“ murrte Hispo halblaut.
    „Du kannst dich immer noch in die Barracke verziehn', ich nehm's dir garantiert nicht übel.“
    „Jetzt, wo's interessant wird? Vergiss es.“
    Schon von den Werkstätten aus hörten sie die Posten auf dem Wehrgang diskutieren und als sie mit ihrem fauligen Nachschub auf das Pflaster hinauskamen, über dem bereits stechende Schwaden übelsten Gestankes umher wallten, wurden sie von heiserem Gekeife empfangen.
    „Heeee ihr Seuchenvögel! Hört ihr schlecht? Hier kommen nur noch Kuriere raus! Kein Abfall! Kapiert?“
    Die Fässer wurden schwungvoll zu den anderen neben das Tor gewuchtet.
    „Jawohl! Kapiert!“ Schön die Nerven behalten! Betont lässig schlenderten die Tirones wieder der Lagergasse zu, um hinter der ersten Hausecke loszuhetzen wie von Furien gejagt; vor sich die düsteren Durchgänge, hinter sich das schwächer werdende Belfern des Postens.
    „Heee! Was ist mit dem Scheiß hier? Kommt zurück, verdammt!“


    Vor den Unterkünften war Fimbria inzwischen nervös dabei, Stroh in eines der beiden übrigen Fässer zu stopfen. „Und, wie läuft's?“ fragte er auf's neue die heran hastenden Rekruten. Außer Atem stützen sich Antias und Hispo auf das offene Fass und sogen gierig die frische Abendluft ein.
    „Läuft“ keuchte Antias und lächelte gequält.
    „Meinst du … er kommt uns nach?“ japste Hispo.
    „Den Posten verlassen? … sicher nicht.“
    „Und wenn er einen Offizier holt?“
    „Wegen so was? Da fängt er sich nur einen epischen Anschiss.“
    „Hoffen wir's.“
    Antias ließ seinen Blick noch einmal in langem Bogen über die ihm heimisch gewordenen Unterkünfte schweifen. Wenn das hier schief ging, war er vermutlich geliefert. So oder so. Dann bedachte er Fimbria mit einem aufmunternden Grinsen.
    „Fertig?“
    „Fertig.“
    „Also gut.“


    Unter einer Wolke jenseitigen Gestanks ging es diesmal zu dritt wieder an den Barracken vorbei, hinter den Ställen entlang zu den Werkstätten. Im Durchgang zum Hof der Waffenschmiede machten sie halt. Antias richtete sein Fass auf und nahm den Deckel ab. „Bist du sicher Fimbria?“ Fimbria stieß brummend die Luft aus. Ursprünglich hatte der Plan eine andere Rollenverteilung vorgesehen, aber Fimbiras Nerven hatten bereits am Morgen zu flattern begonnen und das Theater mit den Wachen wäre eindeutig zu viel für ihn geworden. Also war der Plan geringfügig modifiziert worden. Dafür hatte Fimbria sein Fass immerhin persönlich aussuchen und polstern dürfen. Hispo wurde langsam ungeduldig und schnappte Fimbria unter der Achsel. „Na los jetzt.“
    Mit vereinten Kräften hievten sie den stämmigen Tiro hoch, versenkten ihn im Fass und pressten den Deckel wieder fest. Als er gerade im Begriff war, das Fass wieder zu kippen, fiel Antias noch etwas ein.
    „Psssst .. Fimbria .. wo sind meine Sachen?“
    „Schon drin, ich sitz drauf.“ kam es dumpf aus dem Fass.
    Also weiter. Fässer in die Waagerechte und vorwärts zum Osttor.