Misstrauisch schnüffelte Antias an den dünnen Dampfwolken, die aus dem kleinen Kupferkessel aufstiegen. Roch säuerlich und etwas bitter. Wie erwartet, das absehbare Ergebnis, wenn man ein Säckchen voll Kräuter in Wein aufkochte. Ferox hatte ihm zwar zu einer anderen Zubereitungsform geraten, jedoch waren Hispo und Fimbria für heißes Wasser ebenso wenig zu begeistern gewesen wie für heiße Milch. Marullus, dem der Aufwand in erster Linie galt, war sowieso alles einerlei. Also hatte Antias eben einen halben Schlauch Rotwein genommen. Eine milde Gabe aus Fimbrias’ wachsendem Naturalienkonto für handwerkliche Nebentätigkeiten. Dass der edle Spender sich dafür einen großen Becher des dunklen Gebräus erwartete, verstand sich von selbst, wenngleich Fimbria nun wirklich der einzige Miles in der ganzen Centurie sein durfte, dem Phänomene wie innere Angespanntheit und Schlaflosigkeit völlig unbekannt waren. Hispo hatte mit dem Schlaf an sich auch keine größeren Probleme, bei ihm galt es eher gewissen Erregungszuständen entgegenzuwirken, die Antias – wenn auch indirekt – ebenfalls zusehends um die Nachtruhe brachten. Einzig Marullus hatte die kräftigende Wirkung einer entspannten Nacht in Somnus’ Schoß bitterlich nötig. So war der Zwilling denn auch der erste, dem Antias den Becher füllte.
Vorsichtig, um nichts vom heißen Sud zu verschütten tappte er nach hinten zu Tutors Pritsche. Marullus lag da wie gewohnt, mit aufgerissenen Augen und verschlossenem Blick. Wie immer. Wie tot. Für ihn gab es nur noch bewusstlose Pflichterfüllung und ohnmächtiges Dahindämmern, nichts dazwischen. Keine Gespräche, kein noch so kleiner privater Moment unter Kameraden, kein Gang in die Thermen, nichts dergleichen. Nach Ende des Dienstes fiel er auf das Lager seines toten Gefährten, manchmal ohne sich auch nur die Caligae auszuziehen. Antias reinigte, schliff und pflegte seine Waffen, Hispo rieb ihm den Schmutz aus der inzwischen unangenehm speckig riechenden Tunika und säuberte Mantel und Lederteile, Fimbria kümmerte sich um Lorica, Cassis und Orcae. Das alles war umständlich und mühsam aber durchaus machbar, eine Lösung war es nicht.
„Trink das, Marullus .. ist von meinem Bruder.“ Marullus sah nicht auf, starrte weiter in’s Nirgendwo. „Trink Tadius!“ befahl Antias barsch, und Marullus trank, soff, drückte sich den heißen Kräuterwein in langen verbissenen Schlucken den Schlund hinab. Ein ersticktes Gurgeln entrang sich seiner Kehle, von seine Mundwinkeln rannen dunkelrote Bäche, feine hellrote Schlieren überzogen seine ohnehin schon verschleierten Augen. Antias kannte das bereits, trotzdem schockierte es ihn jedes mal auf’s Neue. Morgen würde er etwas unternehmen müssen. Eine Nacht noch sollte Marullus die Möglichkeit haben, sich im Kreis der Kameraden zu erholen, vielleicht würde Ferox’ Kräutermischung ihm ja dabei helfen, aber einen weiteren Tag konnten sie ihn nicht mehr hier behalten, nicht in diesem Zustand. „Versuch, zu schlafen.“ sprach Antias in ein leeres Gesicht, nahm Marullus den tropfenden Becher aus der Hand und ging wieder nach vorn an die Craticula, wo Hispo und Fimbria schweigend in den Kupferkessel stierten.
Drei Becher tauchten in den Kessel, drei Nasen schnupperten, ein Bass begann zu brummen. „Nimm’s mir nicht übel .. aber irgendwie ist mir der Durst vergangen.“ Seufzend stellte Fimbria den Becher ab und warf sich auf seine Pritsche. „Wenn ich Marullus so angucke, wird mir erst klar, wie gut ’s mir geht. Ich brauch keine Medizin.“ Auch Hispo betrachtete das Getränk nun eher mit Argwohn. Als Fimbria jedoch eine seiner wehmütigen Weisen anstimmte, schüttete sich der Rotschopf den Becher in einem Zug hinunter. „Da sauf ich mich doch lieber besinnungslos als mir das Gejaule schon wieder anzutun! Gib mir seinen Becher!“ Antias kostete selbst. Bitter. Sogar extrem bitter. Hustend nahm er Fimbrias’ Becher und schüttete den Inhalt in den Kessel zurück. „Einer muss reichen, Hispo. Ich bin zwar kein Kräuterkundiger, aber das Zeug scheint mir schon stark genug zu sein. Wir müssen morgen alle früh raus.“ Mürrisch kratzte sich Hispo am Gemächt. „Also, wenn das entspannend sein soll .. ich merk noch nix. Da geh ich lieber nochmal auf die Latrine .. sicherheitshalber.“ Antias trank aus und zuckte die Achseln. „Wie du meinst. Viel Erfolg.“ Hispo verschwand, Antias spülte noch die Becher aus und ließ sich dann seufzend auf sein Lager fallen. Verantwortung, flüsterte ihm eine tonlose Stimme immer und immer wieder zu, Verantwortung. Fimbrias’ tiefer Gesang tat schroffe Brüche in ihm auf, in die das Flüstern hineinsickerte wie Regenwasser in den Karst.
Er war eine dunkle Insel unter blauschwarzem Firmament, eine gewaltige Landmasse, von Schluchten zerfurcht, von Seen durchlöchert, bedeckt mit endlosen Wäldern voll von wispernden Wesen. An allen Ufern leckte die gierige Brandung seiner Atemstöße, überspülte langsam seine Küsten, weichte ihn auf, nagte an ihm, riss ganze Landschaften aus seinem schweren Körper, trug sie auf das offene Meer hinaus. Er begann, unterzugehen. Der lichtlose Himmel war erfüllt vom Flattern tausender Flügel und gesprenkelt von gelben kleine Augen voller Hohn. Irgendwo weit draußen an den fernen Gestaden seines Bewusstseins hörte er die Barackentür, registrierte unbeteiligt Hispos Rückkehr und sank immer noch tiefer in das wirbelnde Meergrün hinab. Die Nachtvögel tauchten mit ihm unter, umkreisten ihn in dichten Schwärmen, fraßen die Wälder von seinem Leib, zerbissen den Fels und verschlangen die Erde. Antias wollte sich wehren, die schwimmenden Vögel packen, sie töten, vernichten, aber er war nur noch ein nackter Klumpen Ton, der sich zersetzte und von einer übermächtigen Flutwelle die Flüsse hinauf geschwemmt wurde. Das Dröhnen seines Atems wurde allmählich leiser und verlor sich in unzähligen Wasserstimmen, von denen er einige sogar kannte. Das dumpfe Gluckern des Tiberis unter dem Pons Cestius, das träge Murmeln des Padus bei Placentia, wo die Claudia Augusta auf die Aemilia traf, das helle Glucksen namenloser Gebirgsbäche und schließlich das sanfte Knistern der Wolken, die sich an den Steilhängen stauten. Gänzlich entkörpert schwebte er über verschneiten Felsen, sah im Süden die kultivierte Welt seines Vaters zwischen den Meeren liegen, lieblich, fruchtbar und strahlend wie Apolonia, und erblickte gleichzeitig im Norden die raue Welt seiner Mutter unter den Baumkronen, düster, schattig und geheimnisvoll wie Aanet. Unter ihm entfernten sich die Gipfel, über ihm kreisten die Nachtvögel, und er erkannte plötzlich, wohin sie ihn bringen würden.