Irgendwann zur fünften Stunde, als die Frühlingssonne ihren höchsten Punkt noch nicht erreicht hatte, kehrte Arvid zurück. Vom Ufer her wurde das raue Knirschen des auflaufenden Nachens vernehmbar, das gedämpfte Murmeln der Fischer und schließlich das jähe Aufheulen von Aanets jüngeren Schwestern. Osrun schloss die Augen. Dann richtete sie sich ruhig auf, strich die Kleidung zurecht und verließ mit unsicheren Schritten die Hütte. Antias hatte das Gefühl, unter dem Gewicht von Stein und Fell keine Luft mehr zu bekommen. Nicht, dass es ihm viel ausgemacht hätte, zu ersticken, aber noch irrlichterte ihm ein winziges Flämmlein Hoffnung durch die Brust, wider jede Vernunft, entgegen dessen, was er mit eigenen Augen gesehen hatte. Hustend wühlte er sich unter dem Fell hervor, zwang sich mühsam auf die Beine und wankte Osrun hinterher.
In völlig durchnässter Tunika, bedeckt mit Schlamm und Blättern und ohne jeden Ausdruck im kantigen Gesicht stapfte Arvid die aufgeweichte Uferböschung herauf. Aanet lag still in seinen Armen. Die Lider halb geöffnet, die fahlen Lippen in kindlichem Trotz zusammengepresst, das ehedem goldene Haar in dünnen grauen Strähnen über der glatten Stirn. Osrun hatte ihre beiden verbliebenen Töchter an sich gedrückt, blickte stumm auf ihren Mann und alterte noch immer. Arvid sah nirgendwohin, nicht auf seine Frau, nicht auf seine Töchter, nicht auf Antias, der nackt und erstarrt an Worten würgte, die es nicht gab. Schweigend trug der Fischer Aanet an den Hütten vorbei zum Wohnhaus hinauf. Die anderen Männer folgen ihm in einigem Abstand. Auch sie sahen Antias nicht an, keiner von ihnen. Der auf Grund gesetzte Nachen löste sich in der Strömung, trudelte ein paar mal im Kreis, blieb noch einmal kurz an der Brüstung des überspülten Bootssteges hängen und trieb dann schaukelnd davon, flussabwärts, der Stadt entgegen. „Geh jetzt, Junge. Geh nachhause. Hier ist kein Platz für dich.“ hörte er plötzlich Osruns’ brüchige Stimme. Er fuhr herum. Auch sie sah ihn nicht an, nicht mehr. Nur die beiden Mädchen starrten wimmernd zu ihm auf. Osrun strich ihnen sanft über die kleinen blonden Köpfe und schob sie dann behutsam vor sich her in Richtung Wohnhaus. „Hol dir das Fell aus der Hütte ..“ hörte er sie müde sagen. „.. du kannst es behalten. Und dann geh endlich, Römer.“
Antias wollte das Fell nicht, ihm war heiß, nicht kalt. Sengend heiß. Er hatte das Gefühl, in Flammen zu stehen. Der Rhenus strömte kühl und verheißungsvoll unter ihm dahin. Geheimnisvoll schillernd in der hellen Mittagssonne, geschmückt mit farbigen Lichtbögen, murmelnd, glucksend, flüsternd. Antias torkelte ergeben die Böschung hinunter. Die Hitze begann ihn zu verzehren. Ein weicher Westwind fachte die Glut in seinen Eingeweiden zusätzlich an. Keuchend zog er sich am nassen Gebälk der Stegbrüstung hoch, sog noch ein letztes mal die würzige Frühlingsluft in sich auf und ließ sich dann lächelnd nach vorn kippen. Aber Rhenus Pater stieß ihn erneut zurück, er wollte ihn nicht bei sich haben, noch nicht. Der alte Stier war schon gesättigt. Breite kräftige Hände packten Antias an den heißen Schultern, zerrten ihn vom Wasser weg. „Komm hoch!“ brüllte eine tiefe dröhnende Stimme auf ihn ein. „Komm zu dir, verdammt nochmal!“ Antias wartete auf die Nachtvögel, die ihn heimbringen würden. Er wurde durchgeschüttelt, angeschrien, aber die Vögel ließen sich nicht blicken. Stattdessen wurde es finstere Nacht, mitten am Tage. Er war unendlich müde und musste nun schlafen. Somnus aber wies ihn ebenso brüsk zurück wie zuvor der Flussgott, packte Antias wütend an den Haaren, schlug ihm zweimal schallend ins Gesicht und übergoss ihn schließlich mit einer kalten nach Spülwasser stinkenden Brühe.
Spuckend riss Antias die Augen auf. Über ihm flackerte Fimbrias bärtiges Gesicht im Feuerschein der Kochstelle. „Na endlich! Mach dass du auf die Beine kommst! Hast du das Wecksignal nicht gehört?“ Wecksignal? Nein, hatte er nicht. Mit einem dumpfen Hämmern im Schädel stemmte Antias sich benommen hoch. Einige der Kameraden waren bereits dabei, sich die Loricae anzulegen. So spät schon? Kein Ientaculum? „Ist noch was von dem Käse da?“ räusperte sich Antias kraftlos. „Guck selber nach!“ maulte Fimbria entnervt. „Ich hab hier noch ne Leiche zu erwecken!“ Gähnend schwang Antias die Beine von der Pritsche. Nebenan hing Hispo kopfüber von seinem Lager, schnarchend wie ein vollgefressenes Wildschwein. Fimbria trampelte fluchend zum Wasserfass und füllte den nunmehr leeren Spülbottich wieder auf. Das würde jetzt heftig werden. Immer noch etwas unsicher auf den Beinen, brachte sich Antias schleunigst aus der Gefahrenzone.
Verdammt, verdammt, entweder hatte er sich in der Dosierung des Kräuterweinsudes meilenweit vertan oder Ferox waren doch noch ein paar andere Pflänzlein als nur Baldrian, Melisse und Hopfen in sein Säckchen geraten. Wie das Gebräu wohl bei dem Patienten gewirkt haben mochte, für den es eigentlich gedacht gewesen war? Auf alles gefasst tapste Antias nach hinten und fand sowohl Marullus’ als auch Tutors Pritsche leer. Ein rostiger Geschmack legte sich auf seine Zunge. Marullus war weg, verschwunden! Antias war der Stubenälteste, er hatte die Verantwortung! „Wo ist Marullus?“ schrie er alarmiert durch die Baracke. Fimbria, gerade im Begriff, Hispo den Wassereimer überzustülpen, hielt grinsend inne. „Der ist kurz rüber zu den Thermen.“ Antias verstand so etwas wie, er sei kurz rüber zu den Thermen. „Er ist was?“ „Sich waschen.“ strahlte Fimbria. „Hat er zumindest gesagt.“ Damit machte man keine Späße! Schlagartig wach und ziemlich wütend verlangte Antias Aufklärung. „Gesagt? Marullus soll was gesagt haben? Ich will jetzt augenblicklich wissen, was hier passiert ..“ Der Rest seiner Frage jedoch ging unter im infernalischen Gekreische des übergossenen Hispo. „WAAAAHHH! Ich bring dich um, du Mistzwerg! Ich bring euch alle um!“