Mit einem leichten Schauer im Rücken ging Plautus nach vorne. Er wurde die Vorstellung nicht los, die Augen des Kaisers auf seinem Hinterkopf zu spüren. Aber irgendwie musste das Dings ja laufen: Erst mal die Anrede rausplautzen, der Rest der Rede würde dann schon hinterher trippeln. Sagte er sich.
"Werte Quiriten, hochverehrte Iudices,
das ist doch alles Theater! Großes Theater sogar, wo man solche Geschichten lustvoll genießt, sich an den Verstrickungen der Charaktere weidet und das unabwendbare Schicksal der schuldlos schuldig Werdenden mit dezent gesträubten Nackenhaaren verfolgt. Na und? Gleich nach der Vorstellung wird dann das ganze Drama bei einigen delikaten Häppchen und einem Becher Wein gleich wieder restlos abgeschüttelt. Alles Theater?
Nein, ruft lauthals der Ankläger: Diesmal ist es ein Kapitalverbrechen. Vatermord! Inzest! Der Fall gehört vor Gericht. In der Tat, die Sache schreit nach Gerechtigkeit, werte Bürger Roms. Das ist garnicht so unterhaltsam, aber es führt kein Weg dran vorbei."
Na, das war doch schon mal ein Anfang. Er ordnete, um seine Restnervosität zu bekämpfen, seine Tabulae zu einem perfekten Stapel.
"Werfen wir also einen Blick auf die bedauernswerten Opfer dieses Verbrechens: Da ist erstens der Vater des Ödipus, Laios. Geplagt von einer kinderlosen Ehe, sucht er die Ursache dafür nicht bei sich selbst, sondern wendet sich an das Orakel von Delphi. Man mag über dieses Orakel denken was man will, aber meistens höre ich höhnisches Gelächter bei den Haruspices, wenn es erwähnt wird. Dort erfährt er nun aus dem Gebrabbel der amtierenden, notorisch bekifften Pythia, dass ihm zwar ein Sohn ins Haus stehe, der ihn aber töten und seine Gemahlin schänden werde. Entnervt verstümmelt er deshalb diesen Sohn später auf grausamste Weise und lässt ihn aussetzen, um seinem eigenen Tod zu entgehen. Welch ein Vater! Welch eine Dummheit!
Dummheit ist unschuldig, weil sie unfähig ist, sich selbst zu erkennen, aber das gehört nicht zu unserem Fall. In seiner Dummheit ist Laios jedoch auch grenzenlos feige. Abgesehen davon, dass er die beabsichtigte Kindestötung nicht selber vollzieht, bringt er andererseits auch nicht den Mut auf, seinen Sohn wie ein liebevoller Vater aufzuziehen, was vielleicht den Teufelskreis der Verstrickungen hätte sprengen können.
Dann haben wir als zweites bemitleidenswertes Opfer Laios' Ehefrau Iokaste, die eiligst jedwedes mütterliche Gefühl beiseite schiebend, der Kindestötung zustimmt und sich damit zur willigen Komplizin macht. Auf sie werde ich später noch mal zurückkommen."
Er nahm drei Tabulae von seinem Stapel und legte sie rechts davon ab.
"Nehmen wir also jetzt den Angeklagten in unseren Blick. Ihn und seine Taten müssen wir streng mit den Augen des römischen Rechts betrachten. Ich setze voraus, dass Ihr, liebe Landsleute, wisst, dass das römische Recht das beste der Welt ist, weil es erstens Rom groß gemacht hat und weil es zweitens den Richtern die Handhabe gibt, bei ihren Urteilen immer auf dem Boden der Gerechtigkeit zu bleiben.
Kreons Anklageschrift wirft dem Ödipus einen Vatermord vor, den er bei der Begegnung mit einem Verkehrsrowdy namens Polyphontes begangen haben soll.
Auf Vatermord steht, wie wir alle wissen, die Todesstrafe. Der Ankläger sagt aber selbst, Ödipus habe im Zorn gehandelt. Wenn aber jemand in einer begreiflichen heftigen Gemütsbewegung einen anderen tötet, kann er nach unserem Recht nicht mit dem Tod bestraft werden. Nicht genug damit, setzt unser Recht auch voraus, dass nur vorsätzliches Handeln bestraft werden kann, aber wo wird man denn da einen Vorsatz finden können, wenn der Beklagte nicht wusste, dass er seinen Vater vor sich hatte? Ich könnte jetzt auch noch auf Notwehr plädieren, aber ich bin sicher, dass schon die ersten beiden Gesichtspunkte für die verehrten Iudices hinreichend sein dürften.
Das heißt: IN DUBIO MITIUS, im Zweifel für das Mildere! Für die Todesstrafe reicht es jedenfalls nicht."
Den letzten Satz hatte er mit einer weit ausholenden Handbewegung unterstrichen, die damit endete, dass er, für jeden sichtbar, zwei weitere Tabulae auf die rechte Seite legte.
"Ferner beschuldigt Kreon den Angeklagten des Inzests mit Iokaste, seiner Mutter. Man hatte nämlich dem Ödipus die sicherlich attraktive Enddreißigerin zusammen mit dem Königsamt als Eheweib angeboten, nachdem er das Rätsel der Sphinx gelöst hatte. Jene Sphinx war übrigens eine uneheliche Tochter von Laios, dem liederlichen Vater des Ödipus. Aber das gehört nicht zu unserem Fall.
Zu diesem Zeitpunkt wusste Ödipus mit Sicherheit nicht, dass diese Enddreißigerin seine Mutter war. Auch hier sind wir gezwungen, entweder Abstriche an Kreons Vorwurf des Inzests zu machen oder ihn ganz und gar zu verwerfen. Denn die Lex Iulia verlangt, dass ein Inzest mit Arglist erschlichen sein muss, um strafbar zu sein. Wo, frage ich, ist da denn bei dem ahnungslosen Ödipus eine Arglist zu erkennen? Auch hier: IN DUBIO MITIUS!
Arglist finden wir da eher bei Iokaste, die wohl just die Beute ihrer eigenen Torschlusspanik geworden war. Denn es ist absolut unglaubhaft, dass Iokaste auch nach Jahren die ehedem geplante Kindestötung vergessen haben könnte, zumal ja vor allem die sichtbaren Narben an den Fersen des Ödipus genug Beweis für seine Herkunft waren."
Wieder wanderten zwei Tabulae von links nach rechts.
"Ich komme zum Schluss: Leider legt uns Kreon auch noch eine ganz lausige Beweisführung vor, denn er stützt sich nur auf einen einzigen Zeugen, nämlich auf einen blinden Spökenkieker namens Teiresias, der selber Dreck am Stecken hat.
Aber mal ganz abgesehen von den persönlichen Qualitäten dieses Teiresias: Wie, bei allen Göttern, sollen denn die hochverehrten Iudices ein gerechtes Urteil fällen, wenn ihnen die Möglichkeit abgeht, die Aussagen dieses Zeugen mit anderen Aussagen abzugleichen? Damit fällt Kreons Beweisführung doch in ein winziges Quantum warmer Luft zusammen. Alles und Jedes ist jetzt zweifelhaft! Nun gilt: IN DUBIO PRO REO! Ich bitte deshalb das hohe Gericht, die Klage abzuweisen."
Die letzten Tabulae nahmen ihren Weg auf den rechten Stapel, den Plautus nun einsteckte.