Dagny konnte Hadamar den inneren Kampf ansehen, vermeinte die Worte zu vernehmen, um die er rang – nur um dann dem Thema zumindest vorerst ein Ende zu setzen. Möglicherweise lag es an diesem Ort, der nicht der richtige war, um über diese Dinge zu reden, daran, dass ihre Mutter jederzeit hereinkommen könnte und sie beide wussten, dass es dann zwangsläufig zum Themenwechsel kommen würde. Neutral betrachtet suggerierten seine Worte eine spätere Wiederaufnahme des Gesprächs, das Versprechen, das nachzuholen, was sie all die Jahre nicht hatten haben können. Ein kleiner Teil von Dagny hörte aus den eigentlich wohlmeinenden Worten jedoch auch etwas heraus, das sie noch aus ihrer Kindheit kannte: Das Verschieben eines Gesprächs auf einen undefinierten späteren Zeitpunkt, der dann letztendlich nicht immer eintrat. Immer dann, wenn man gefunden hatte, dass sie bestimmte Dinge nichts angingen, sie für zu jung erachtete oder ihre Fragen aus welchen anderen Gründen auch immer nicht beantworten konnte oder wollte.
Sie nickte ihrem Bruder mit einem leichten Lächeln schließlich zu, da sie nicht wusste, was sie erwidern sollte. Sie wusste schlicht nicht, ob er das Gespräch später fortsetzen wollte oder was er eigentlich nachholen wollte. Oder ob es nur ein Wegschieben des Themas war. Sie wusste auch nicht, ob sie solche Gespräche einfordern oder verlangen konnte von einem Bruder, der lange fort gewesen war und von dem sie viele Jahre trennte. Sie konnten nicht einfach dort einhaken, wo sie auseinandergegangen waren, weil … sie sich beide verändert hatten. Ihre vormalige Beziehung war die zwischen einem Bruder und seiner kindlichen Schwester gewesen. In dieser hatte sie ihm bedingungslos vertraut, zu ihm aufgeblickt und ihm bedenkenlos alles erzählt, was ihr gerade durch den Kopf ging, weil man als Kind seine Worte eben nicht abwägt. Aber jetzt war sie kein Kind mehr – und konnte mit ihm auch nicht mehr so reden, wie sie es als Kind getan hatte. Das war eigentlich logisch, fühlte sich für sie jedoch seltsam an. Für ihn vermutlich auch.
Insofern war sie ganz froh, dass ihre Mutter wieder hereinkam und es um Essen und andere Dinge ging. Endlich erzählte Hadamar nun auch von Cappadocia und wie es dort gewesen war. Darüber vergaß Dagny ihre Gedanken tatsächlich und ihre Augen begannen zu leuchten, als sie sich all die Dinge vorstellte, die er dort gesehen und erlebt hatte. Es war eine andere Welt und wie immer, wenn sie so etwas hörte, wurde sie ein bisschen wehmütig. Sie liebte ihre Heimat und ihr war klar, dass sie sie wahrscheinlich nicht verlassen würde. Sie wollte auch eigentlich nicht, aber ein Teil von ihr wünschte sich durchaus, zu reisen und all die Dinge zu sehen, die sie nur aus Erzählungen kannte.
Nach dem Essen verabschiedeten sie sich von ihrer Mutter. Dagny ging zuerst nach draußen. Einmal, um schnell wegzukommen, ehe ihre Mutter auf die Idee kam, ihr Essen mitzugeben und natürlich, um ihr und Hadamar ein bisschen Zeit zu gönnen. Sie holte die Pferde, die sie untergestellt hatten und irgendwann waren sie schließlich unterwegs zum See. Den Weg kannte Dagny fast im Schlaf, so oft hatte sie ihn schon zurückgelegt. Gerade im Sommer war sie oft dort gewesen, es war eine Art Fluchtpunkt, wenn man mal seine Ruhe haben wollte. Im letzten Jahr hatte sich das allerdings geändert. Einmal, weil es so viele andere Dinge gegeben hatte, die das Leben der Familie in Aufruhr versetzt hatte, aber auch, weil Gerüchte über Unruhen bei den freien Stämmen die Runde gemacht hatten – und sie dann nicht allein der Gegend herumlaufen sollte. So betrachtete sie also die kahlen Bäume am Wegesrand, den leeren stillen Winterwald und fragte sich, ob dies wirklich die Ruhe vor dem Sturm war. Am Horizont wurde bereits die graue Oberfläche des Sees sichtbar. Nachdem sie den Großteil des – zugegebenermaßen kurzen – Rittes schweigend zurückgelegt hatten, jeder in seine eigenen Gedanken versunken, ergriff Dagny wieder das Wort. „Es ist doch eigentlich ganz gut gelaufen nachdem die erste Überraschung überwunden war. Ich denke, sie freut sich, dich nun öfter zu sehen.“ Und dann: „Wieso wolltest du eigentlich zum See?“