Beiträge von Plinia Chrysogona

    Chrysogona errötete, blickte zu Boden und schwieg. Sie merkte, dass sie den Anatom verärgert hatte. Nach einer Weile jedoch hob sie den Blick wieder um seinen Ausführungen und der Demonstration weiter zu folgen. Es war doch eine so sensationelle Gelegenheit. Die durfte sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.

    Mit einer Mischung aus Faszination und deutlichem Unbehagen sah Chrysogona zu, wie der Anatom den Bohrer ansetzte. Doch Herophilos beherrschte sein Handwerk. Mit dem notwendigen Augenmaß und gebührender Vorsicht ließ er das Trepan durch den Schädelknochen gleiten. Wieder und wieder gekühlt kam er schließlich zu dem Punkt wo der Rest mit manuellem Geschick erfolgen musste. Die Medica aus Kos hätte zu gerne selbst gespürt wie es sich anfühlte, wenn sich der letzte Knochenrest löste und man ihn mit der Pinzette abheben konnte.


    Ein Raunen ging durch das Auditorium als die Hirnhäute sichtbar wurden. Dura mater, Pia mater und Arachnoidea rekapitulierte Chrysogona das Gelernte. Nun konnte sie diese empfindlichen Umhüllungen des Gehirns zum ersten Mal sehen. Sie ging leicht auf die Zehenspitzen und beugte sich vor, um noch besseren Einblick in das Trepanationsloch zu bekommen. Dabei lauschte sie den Ausführungen des Mannes aus Samothrake. Eine Stelle jedoch ließ sie stutzen.
    "Du verwendest Bronze? Mein Vater sprach von Argentum - also Silber - und verwendete laut seiner Schilderung eine Münze, wenn ich mich nicht irre. Er schrieb diesem Metall besondere heilungsfördernde Wirkung zu."

    Schon früh war Chrysogona zur Anatomiestunde erschienen. Sie lauschte den Ausführungen. So richtig hellhörig aber wurde sie erst als der Anatom sich dem Kopf des Affen zuwandte. Nun griff er nach einem Mäppchen und holte ein Trepan hervor. Chrysogonas Augen leuchteten auf, als Herophilos von Samothrake erklärte, eine Trepanation durchführen zu wollen. Er zitierte Hippokrates. Die Medica aus Kos kannte die Zeilen aus dem Werk des Altmeisters. Doch bislang hatte sie noch keiner Trepanation beigewohnt.
    Der Anatom öffnete die Haut über der Schädelkalotte. Die folgende Frage beantwortete sie prompt.
    "Nun, da unser Affe ja keine Verletzung vorweist, können wir nicht an dieser Stelle öffnen. Hippokrates empfiehlt jedoch im Bereich der Verletzung die Stelle zu wählen an der der Knochen am dicksten ist. Man findet die Stelle, indem man den Knochen hin und herbewegt."

    Chrysogona sah auf das Blut, das aus dem angeschnittenen Blutgefäß tropfte. Es war doch interessant zu sehen, dass dieses tote Wesen noch immer blutete. Die Medica wusste natürlich, dass den Körper bis in die Peripherie unzählige größere und kleinere Blutgefäße durchzogen, die untereinander korrespondierten. Für den Aderlass verwendete Chrysogona in der Regel eine Vene am Ellbogen und nicht an der Hand. Aus diesem Grund sah sie genau hin, wo dieses Gefäß lag und ob es sich nicht auch für einen Aderlasse eignen könnte.
    "Wir nehmen ja in der Regel ein Blutgefäß an der Ellbeuge oder am Unterschenkel für den Aderlass. Verbietet die Nähe des ellenseitigen Nerven den Aderlass am Handgelenk? Wäre die Gefahr zu groß, diesen zu verletzen oder warum nehmen wir nicht einfach diese Stelle um die schlechten Säfte abzuleiten?"
    Die Längsfalten auf ihrer Nasenwurzel deuteten an, dass Chrysogona intensiv grübelte und nach einer Lösung für ein Problem suchte.

    Beherzt griff Chrysogona nach einer der Sonden. Sie schob das Metallende unter die freipräparierte Sehne des Palmaris longus und schob sie dann bis zum Handgelenk des Affen vor. Mit einer Pinzette hielt sie sich schließlich die Sehne beiseite und beugte sich weit vor, um einen Blick auf die Logen zu werfen, in denen Muskeln, Sehnen, Nerven und Gefäße durch die Engstelle unter dem quer verlaufenden Band ihren Platz fanden.
    "Faszinierend!", staunte die Medica. "Ein Wunderwerk, der menschliche Körper. Beeindruckend!"


    Sie zog die Sonde wieder hervor und tippte von außen auf den noch unversehrten Teil des Handgelenks an der Kleinfingerseite. "Und hier befindet sich die Loge, in der der Ellennerv verläuft?"
    Fragend sah sie den Lehrer an. Ihre vielen Fragen würden ihm sicher bald lästig sein, doch Chrysogona wollte unbedingt die Gelegenheit nutzen, wenn sie schon einen direkten Blick unter die Haut haben konnte.
    Verstohlen sah sie auf den Kopf des Affen. Ob sie wohl auch noch den Schädel öffnen würden? Sie hatte noch nie gesehen, wie eine Trepanation vorgenommen wurde. Gelesen hatte sie davon und Geschichten gehört. Aber dieser diffizile Eingriff am Kopf erschien ihr ebenso erschreckend wie faszinierend.

    Chrysogona war beeindruckt, als Herophilus das Tuch wegzog und ein noch sehr frisch wirkender Affe zum Vorschein kam, der als Objekt zur Sektion dienen sollte. Das war genau das, was sie sich erhofft hatte. Das Begutachten und Üben am mehr oder weniger lebenden Objekt, zumindest an einem echten Körper. Ein Affe war sicherlich ein gutes Studienobjekt.


    Gebannt verfolgte die Medica wie der Anatomielehrer die Haut öffnete und vorsichtig den ersten Muskel unter dem Unterhautfettgewebe freipräparierte. M. palmaris longus. Sie sah die Ligamente und die Sehnen, welche die Flexion und Extension der Finger steuerten. Faszinierend! Chrysogona folgte seinem Vortrag, sah die Bewegung, die auf den Druck auf das Sehnenköpfchen folgte und begutachtete die Querbänder um die Gelenke. Die Erklärungen über die Lage und Funktion der Handmuskeln machten nun besonderen Sinn, wo man den Ursprung und den Ansatz direkt sehen und damit die Funktion verstehen konnte. Sie erkannte die Palmaraponeurose und die Muskellogen in den Fächern des Carpaltunnels.


    Ein wenig scheu noch, doch getrieben von Neugier fragte sie.
    "Sag, darf ich dieses komplexe Gebilde einmal mit der Sonde berühren? Ich würde gerne sehen, wo die drei Nerven des Nervus Radialis, Nervus Medianus und Nervus Ulnaris durch den Carpaltunnes laufen. Kannst du das noch deutlicher zeigen?"

    Die Medica hatte nicht vor die in Augenscheinnahme und Prüfung der Quelle und der Lage des zukünftigen Aesculapius-Heiligtums einem Beauftragten zu überlassen. Sie wollte dabei sein. Deshalb nickte sie dem Pontifex zu. Die dritte Stunde ist sicherlich adäquat.


    Nach der Arbeit kam nun das Vergnügen. Chrysogona freute sich über die aufgetragenen Speisen und griff hungrig zu. Nur vom Garum nahm sie eher wenig. Ihrer griechischen Zunge wollte der vergorene Fischsud nicht munden. Als sich Flavius Gracchus nach ihrer Herkunft erkundigte und die unvermeidliche Frage kam, welchem Kaiser ihr Vater gedient hatte, verschluckte sie sich beinahe. Sie hasste diese Frage, traf sie doch einen wunden Punkt. Schließlich gab es noch immer einige Menschen in Rom, die glaubten, dass ihr Vater als Leibmedicus des Kaisers in dessen Tod verstrickt war oder ihn zumindest hätte verhindern müssen.
    "Mein Vater diente Kaiser Aelianus Valerianus als Leibmedicus. Nun aber ist er ein alter Mann und hat sich nach Alexandria zurückgezogen, wo er noch immer am Museion Studenten unterrichtet. Er kann es einfach nicht lassen. Für ihn war die Medizin nie nur ein Beruf sondern auch eine Berufung."


    Sie musterte den Pontifex. Er war vermutlich nicht viel jünger als ihr Vater - vielleicht fünf Jahre. Mit einem freundlichen Lächeln sagte sie.
    "Du erfreust dich augenscheinlich sehr guter Gesundheit, Pontifex. Die Götter sind dir gewogen. Aber das ist ja kein Wunder, du hast ja den direkten Draht zum Olymp, nicht wahr?"

    Der Junge, der erst spät zu ihrem philosophischen Zirkel gestoßen war, meldete sich zu Wort. Chrysogona musste zweimal hinhören, um zu verstehen was er sagte. Bei Sophia, der göttlichen Weisheit, was hatte der pausbäckige junge Mann für eine eigentümliche Ausdrucksweise. Die Medica hob überrascht die Augenbrauen. Sie hasste es, wenn sich jemand so altklug darstellte, doch was er sagte, war klug. Sie wollte nicht erneut widersprechen, denn ihre Vorstellung der von den Göttern beherrschten Welt würde die Annahme der Richtigkeit der Sinneseindrück und der menschlichen Vernunft nicht ändern. Sie wartete deshalb neugierig auf die Antwort des Lehrers.


    Sim-Off:

    Test? Wegen mir gerne ;)

    Unter dem Tuch befand sich ein menschliches Skelett. Chrysogona kannte dieses Skelett. Ihr Vater hatte es bereits früher zur Ausbildung seiner Schüler vorgezeigt. Chrysogona war noch ein junges Mädchen gewesen, fast ein Kind. Sie hatte sich vor dem Knochenmann gefürchtet, hatte Angst vor der Rache der Lemuren gehabt. Nun war sie erwachsen und eine erfahrene Praktikerin. Sie schätzte jetzt den Wert eines solchen Demonstrationsobjekt höher ein.


    Die Ausführungen des Lehrers boten ihr keine wirklichen Neuigkeiten, doch tat es gut, die Anatomie mal wieder so aus der Nähe betrachten und auch anfassen zu können. Als sie die Schädeldecke aus der Hand eines der anderen Studenten bekam, strich sie sanft fühlend über die Unebenheiten. Sie tastete die Suturen, die Vertiefung für die Falx cerebri und das Tentorium cerebelli. Ganz genau betrachtete sie die Rinnen, in denen die Gefäße der Hirnhäute ihre Bahnen zogen.

    Es war soweit. Chrysogona fieberte der ersten Lektion in angewandter Anatomie entgegen. Sie würde einer Sektion bewohnen können, um besser zu verstehen, wie das Innere des Körpers aufgebaut war, wo die Säfte flossen und wie das Pneuma im Körper wirkte. Die Medica war sehr neugierig.
    Selbstredend kannte sie berteits die Stellen, an denen man einen Menschen zur Ader lassen konnte und auch die wichtigsten von außen sicht- und palpierbaren anatomischen Strukturen, aber der Blick ins Innere war dann doch noch einmal etwas ganz anderes.


    Chrysogona sah zu, dass sie einen guten Platz in erster Reihe bekam. Sie hing an den Lippen des Lehrers und verfolgte jede seiner Bewegungen.

    Zitat

    Original Praetonius Chairedemos "Nun, wirst du leugnen wollen, dass auf der anderen Seite ein Großteil der Kranken nie aus dem Inkubationsschlaf erwacht? Dass viele, die große Opfer darbringen, am Ende doch nicht geheilt werden, sondern kläglich sterben? Und überhaupt, warum sollten sich die Götter an Opfern und Gebeten freuen? Warum sollten sie Krankheit schicken und wozu Heilung? Welchen Nutzen sollten sie als unsterbliche, perfekte Wesen haben, eine Welt zu erschaffen? Mir fällt es schwer zu glauben, dass es unsterbliche Götter gibt, die seit Äonen leben, deren vermeintliches Handeln aber eher an die Launen eines Kleinkindes erinnern, der willkürlich hier Schaden anrichtet, dafür dort etwas Gutes tut."


    Entrüstet stützte die Medica die Hände in die Flanken. Was sollte heißen, sie wolle wohl nicht leugnen, dass einige Kranke nicht aus dem Inkubationsschlaf erwachten?
    "Für das Erwachen aus dem Inkubationsschlaf gilt dasselbe wie für das Erwachen aus dem Schlaf allgemein. Hypnos und Thanatos sind Zwillingsbrüder. Die Grenze zwischen Schlaf und Tod nur eine marginale. In meinen Augen wissen die Götter Opfergaben und Gebete durchaus zu schätzen, wenn du auch recht hast, dass nicht jeder der um Heilung fleht von den Göttern gehört wird. Doch weiß ich, was diese Menschen womöglich schon für verwerfliche Dinge gesagt und getan haben, so dass die Götter ihnen den Beistand verweigern?"


    Was Chairedemos weiter zu den Göttern sagte, grenzte an Blasphemie. Sie hütete sich weiter darauf einzugehen, denn sie wollte nicht wiederholen, was er verwerfliches von sich gab. Das Wirken der Götter mit den Launen eines Kleinkindes zu vergleichen - unerhört! Welche Hybris zu glauben, der Mensch sei in allen Entscheidungen Herr seines Schicksals! Ein göttliches Wesen war weit entfernt davon es als Last zu empfinden, wenn Sorgen und Nöte an es herangetragen wurden, es konnte sich mit Leichtigkeit um eigene Angelegenheiten kümmern und nebenbei die weltlichen Kleinigkeiten erledigen.


    Zitat

    "Ist es göttliche Vorsehung, wer unsere Eltern sind, wo wir studieren und wofür wir uns in jeder Situation entscheiden? Um diese Frage zu beantworten, muss ich mir zuerst eine andere stellen: Woran sollte ich das erkennen?
    Natürlich könnte ich auch meinen Sinnen misstrauen, wie es die Skeptiker tun. Die Illusion rationalen Entscheidens könnte ein Trugspiel der Götter sein. Aber welche Anhaltspunkte habe ich dafür? Oder welche Anhaltspunkte dafür könnte es überhaupt geben, wenn ich nicht einmal meinen Sinnen trauen darf? Im Grunde wäre unter diesen Umständen alles Spekulation, sodass das vernünftige Nachdenken überflüssig wäre.
    Dasselbe gilt meines Erachtens aber auch für die von dir genannte Vorsehung: Denn welche Schlüsse ziehe ich aus der Annahme, es gäbe diese Vorsehung, wenn ich nicht vernünftigerweise erkennen kann, wofür ich vorgesehen bin?
    Wenn aber die Möglichkeit besteht, seine Bestimmung zu verlassen, kann dies nur dann für mein Handeln relevant werden, wenn ich die sichere Erkenntnis gewinnen kann, was meine Bestimmung ist. Also frage ich dich: Woran erkenne ich sicher, was mein Schicksal ist?"


    Chrysogona misstraute durchaus dem Wahrheitsgehalt der Sinne. Schon oft hatte sie Patienten gesehen, die nicht mehr Herr ihrer Sinne waren, deren Sinne getrübt oder deren geistige Funktionen so verändert waren, dass sie in einer gänzlich anderen Wirklichkeit lebten. Wer konnte sagen, dass das was wir sehen oder denken auch die Wahrheit ist?
    "Mit Verlaub, werter Praetonius Chairedemos, die Sinne sind tatsächlich trügerisch und unser Geist auch. Nicht in jedem Fall sind die Sinne verlässliche Garanten für das Verständnis dessen, was wir als Realität oder Wirklichkeit - gar Wahrheit - bezeichnen. Ich habe oft erlebt, dass Menschen in einer gänzlich anderen Realität lebten. Wer will sagen, welche richtig ist und welche nicht? Wer ist die entscheidende Instanz für die Wahrnehmung und Wertung dessen was man wahrnimmt? Selbst unter uns gibt es womöglich welche, die deine Tunika für grün anstatt rot halten würden und Stein und Bein darauf schwören, dass es so ist. Woher nimmt Epikur die Gewissheit, dass ihm seine Sinne und sein Geist das Richtige und Wahrhaftige zeigen? Ist nicht auch er gefangen in seinem Körper und somit ist auch sein Denken ein Produkt dessen, was seine Sinne ihm suggerieren. Ist es nicht eher so, dass göttliche Wesen, die keinen Körper besitzen, eben nicht getäuscht werden können von ihren Sinnen und somit nur sie im Besitz der Wahrheit sein können?"


    Die Griechin liebte solche intellektuellen Streitgespräche. Wenn sie auch nie Epikureerin werden würde, so war die Philosophie doch eine ihrer liebsten Beschäftigungen. Das diskutieren über das, was die Welt im Innersten zusammenhält, war doch der Urgrund dessen, was den Menschen ausmachte. Deshalb setzte sie noch einen drauf.
    "Und was das Schicksal angeht: muss ich bei jeder Entscheidung wissen, was mein Schicksal ist? Muss ich es vorher erkennen? Wer sagt denn, dass mein Wissen um die Vorsehung für mein Leben relevant ist? Wenn es doch die Götter schon so gewirkt haben? Dann muss ich mich nur um ein moralisch einwandfreies Leben bemühen, um den Göttern zu gefallen, nicht aber um das, was die Götter in ihrer Weisheit mit mir vorhaben."

    Die Medica aus Rom lächelte. Die Ankündigung, dass sie bei einer Sektion teilnehmen durfte, ließ sie zufrieden aussehen. Wenn wohl auch nur ein Tier seziert werden sollte, erwartete sich Chrysogona doch interessante Erkenntnisse.
    "Da ich bislang wenig Gelegenheiten hatte, an Sektionen oder Operationen teilzunehmen, da ich die verganenen 8 Jahre am Askleieion von Kos tätig war, wo man keine Operationen durchführt. Zuvor während der Ausbildung am Museion befand man mich für zu jung dazu. Allerdings bin ich an allem interessiert, was mir die Chirurgie näher bringen kann. In meiner jetzigen Tätigkeit könnte das immerhin doch einmal nötig sein."

    Mit ihrem Aufbegehren erhielt die Medica nun endlich eine durchaus ansprechende Begründung für die Negierung der Götter durch die Epikureer. Sie konnte durchaus einige Argumente nachvollziehen und für sich annehmen, aber längst nicht alle. Für Chrysogona war der menschliche Körper und sein wundersames Funktionieren ein eindeutig göttliches Zeichen. Nur die Götter konnten in der Lage sein, so etwas zu erschaffen. Und das traf nicht nur auf den Menschen zu, sondern auch auf Tiere, Pflanzen und ebenso die unbelebte Natur - somit alles was man als "die Welt" bezeichnete. Wer, wenn nicht die Götter, konnten so einen Schöpfungsakt vollbringen. Chrysogona begann ihre Sichtweise zum Besten zu geben.
    "Neben der Schöpfung der Welt und der Lebewesen, die in meinen Augen ein göttliches Werks sind - sein müssen (!) - ist das Wirken der Götter nicht nur im Schöpfungsakt ersichtlich, sondern eben auch im täglichen Leben. Ich muss die Götter nicht fürchten sondern nur akzeptieren, dass es eine Macht gibt, die jenseits dessen liegt, was wir Menschen mit der Vernunft erfassen können. Wie sonst sind Krankheit und unerwartete Heilung zu erklären? Es gibt eben Dinge zwischen Himmel und Erde, zwischen Olymp und Tartaros, die sich nicht durch menschliches Wirken oder die Kräfte der Physik erklären lassen. Dass die Götter nicht alles bestrafen oder neben jede Lust den Schmerz stellen, ist selbstverständlich. Man opfert ja auch nicht für alles und jedes, was man sich wünscht oder was man fürchtet im Tempel. Nicht selten jedoch erlebte ich auf Kos wundersame Heilungen nach den Opfern im Tempel und den inbrünstigen Gebeten der Kranken. Genauso wie Heilungen nach eine Nacht im Inkubationsschlaf, wo Asklepios den Heilungssuchenden im Traum erschien. Wie erklärst du dir das? Ist darin nicht mehr als deutlich das Wirken der Götter zu erkennen?"


    Sie legte wieder ihren Kopf ein wenig schief und sah den Lehrer mit durchdringendem Blick aus dunklen Augen an. Doch Chrysogona war noch nicht fertig.
    "Was das Schicksal angeht, sehe ich auch den Wunsch und das Wirken der Götter. Ich bin fest überzeugt, dass es mein Schicksal ist, zu heilen. Und wer sagt dir, dass du deine Profession aus eigenem Willen und Wunsch gewählt zu haben? Was ist denn das - der freie Wille? Wie frei kann der Wille sein? Sind wir nicht alle determiniert durch Eltern, Abstammung, Herkunft und Ausbildung? Wie frei war deine Entscheidung Philosoph zu werden? Haben nicht die Götter dich zum Kind deiner Eltern gemacht, die eben einen Sohn zum Studium schicken konnten, anstatt als Färber mit den Füßen im Urinbottich zu treten? Wärst du Philosoph geworden, wenn deine Eltern Sklaven gewesen wären? Wie frei ist der Mensch? Sind es nicht doch eher die göttliche Vorsehung die unser Schicksal bestimmt?"

    Die Medica hörte den Ausführungen des Pontifex zu. Er musste schließlich entscheiden welche religiösen Belange von Wichtigkeit waren. Als er die Karte erneut konsultiert hatte und keine Hindernisse sah, schien dem Vorhaben nichts weiter im Wege zu stehen.
    "Dann sollten wir einen Termin vereinbaren, an dem wir zu einer "Vor-Ort-Besichtigung" aufbrechen können. Wann wäre es euch denn möglich?"


    Chrysogona blickte die beiden Männer nacheinander an.

    Chrysogona lauschte der Vorlesung. Die Erklärung der diagnostischen Kriterien und die daraus erfolgende Prognose kannte die Medica zur Genüge. Es war tägliche gelebte Praxis. Dann äußerte sich Herophilos von Samothrake über die Therapie. Chrysogona nickte. Auch für sie waren Diätetik und Medikation mittels Heilpflanzen die üblichen Therapieformen um den Körper wieder ins Gleichgewicht der Säfte zurückzuführen. Dazu selbstverständlich die Maßnahmen wie Schröpfen, Aderlass, Purgieren durch ausleitende Medikamente, Schweiß und Niesen. Dann aber kam die Methode weswegen die Medica den weiten Weg aus Rom gekommen war: die Chirurgie.


    Natürlich hatte sie am Museion chirurgische Maßnahmen kennengelernt und auch auf Kos wurde der ein oder andere kleine Eingriff vorgenommen. Vor allem an Abszessen oder schwärenden Wunden. Doch Chrysogona hatte sich nicht darin geübt und auch keine tieferen Kenntnisse der Chirurgie, die im Bereich der Augen oder des Gehirns vorgenommen wurde. Von den inneren Organen ganz zu schweigen. Trepanationen hatte sie gesehen, doch nie selbst durchgeführt. Diese Eingriffe nötigten ihr großen Respekt ab. Bewundernd sah sie den Lehrer an. Vorsichtig hob sie die Hand um eine Frage anzukündigen.
    "Verzeih, werter Philologos Medicus, verfügst du über eigene Erfahrungen in der Chirurgie des Schädels und der Augen? Diese Operationen interessieren mich brennend. Ich bin extra aus Rom angereist, um mehr darüber zu erfahren. Meinst du, du könntest einige der Eingriffe demonstrieren?"

    Zitat

    Original von Lucius Praetonius Chairedemos: "Die Götter, natürlich!"
    Er strich sich nachdenklich über das glatt rasierte Kinn.
    "Sie sind der Grund, warum mein Kurs mit der Physik und der Theologie begann, und nicht mit der Ethik! Denn wenn wir Götter postulieren, die nichts besseres zu tun haben, als den Menschen Leid zuzufügen, indem sie uns immer in dem Maße, in dem wir Lust empfinden, mit Unlust zu strafen, dann können wir die Philosophie samt der Vernunft schlicht beenden."
    Ob er diese Einsicht bei den Stoikern sah, ließ er offen. Statt der Polemik wollte er nämlich noch einen Versuch unternehmen, seine Schüler ein wenig voranzubringen.
    "Epikur lehrt uns nicht, das chronische Leiden zu suchen - im Gegenteil! Alles, was uns der 14. Lehrsatz sagen will, ist, dass wir keineswegs verzweifeln müssen, wenn wir an einer solchen Krankheit erkranken, denn auch in ihr lässt sich Lust gewinnen."


    Nun schnaubte die Medica empört auf. Dieser Philosophie-Lehrer erdreistete sich die Götter zu negieren? Es bedurfte einem Höchstmaß an Selbstbeherrschung für Chrysogona nicht aus der Haut zu fahren. Für nicht weniger als das in Frage stellen der Götter hatte Sokrates den Schierlingsbecher trinken müssen. Weder Platon noch Aristoteles negierten das Wirken der Götter! Wie konnte er behaupten, dass Philosophie und Vernunft nur ohne das Bestehen einer göttlichen Ordung denkbar seien! Unerhört! Die Plinia atmete dreimal tief durch, dann antwortete sie.
    "Mit Verlaub, Praetonius Chairedemos, was du eben formuliert hast, ist nicht richtig. Weder haben die Götter nichts Besseres zu tun als uns in demselben Maße, in dem wir Lust empfinden, mit Unlust zu bestrafen, noch ist eine Philosophie ohne die göttliche Ordnung undenkbar. Ganz im Gegenteil. Die meisten philosophischen Strömungen schließen das Wirken der Götter als Grundlage des Seins ein. Die Vorsokratiker, ebenso wie zumindest Sokrates Schüler Platon, wenn nicht gar Sokrates selbst, denn so eindeutig ist seine Haltung zu den Göttern nicht. Dann auch die Stoiker und Aristoteles und nicht zuletzt sogar die Pythagoreer - alle sehen das göttliche Wirken als Ursprung der Welt und des menschlichen Handelns und somit als Grundlage ihrer Philosophie."


    Chrysogona holte erneut tief Luft. "Und dass uns die Götter nicht jede Lust mit Unlust vergelten, sollten wir alle positiv beantworten können. Nicht wahr?" Sie sah den Iunier fragend an. Wenngleich ihn der Tod seiner Tochter schwer getroffen hatte, war Fortuna doch alles in allem nicht ungerecht zu ihm gewesen und hatte ihn bis in den Senat befördert und ihm ein Weib und Kinder geschenkt. Würde er ihr beipflichten? Sie selbst sah sich als gutes Beispiel für das postitive Wirken der Götter, wenn man seinen Dienst in die Erhaltung der göttlichen Schöpfung "Mensch" investierte. Wobei auch sie ganz in Epikurs Sinne ihre eigene Lust dabei nicht aus dem Auge verlor.

    Zitat

    Original von Lucius Praetonius Cheiredemos: "Das, was du maßvoll und lustvoll nennst, ist das, was Epikur im 5. Lehrsatz subsummiert, sehr richtig.
    Doch was stört dich am 4. Lehrsatz des Epikur? Kannst du als Ärztin nicht bestätigen, dass der, der ein langwieriges Leiden hat, auch stets Momente der Linderung hat? Dass ihn kleine Freuden des Alltags nicht immer wieder seinen Schmerz vergessen lassen?
    Wenn wir uns von der Vorstellung verabschieden, einen Anspruch auf Gesundheit und Wohlbefinden zu haben - denn wer könnte uns diesen gewähren? - dann werden wir empfänglich für die kleinen Lüste des Alltags, die nicht nur der gesunde Mensch, sondern ebenso der Kranke erleben darf."


    Chrysogona überlegte kurz. "Du hast natürlich recht, werter Praetorius Cheiredemos. Jeder ernsthaft und chronisch Kranke freut sich über kleine Verbesserungen seines Zustandes und sicherlich erfreut er sich ab und an seines Lebens, doch dass langandauernde Krankheiten mehr Lust im Fleisch erzeugen als Schmerz, dem kann ich so nicht zustimmen. Selbst wenn wir keinen Anspruch auf Gesundheit haben - und natürlich haben wir den nicht - so ist es doch meine Aufgabe, dasjenige dafür zu tun, dass man den Schmerz lindert und dem Leidenden dazu verhilft möglichst oft Lust und Freude zu empfinden. Ich kann einem chronischen Leiden nicht viel Positives abgewinnen, außer vielleicht, dass sich ein Schwerkranker umso mehr über Augenblicke der Schmerzfreiheit freuen kann, als ein Gesunder."


    Iulius Dives schien es ähnlich zu sehen und er spielte in seiner Antwort auch auf ihre ärztliche Kunst an. "Ich pflichte Iulius Dives bei. Es wird nie Lust ohne Unlust oder Schmerz geben. In meiner Profession genauso wie in jeder anderen und im Privatleben mit Sicherheit auch. Das Schicksal haben uns die Götter so auferlegt. Ein Rückzug ist weder die Lösung noch ein Aufbegehren gegen dieses Los. Ich halte es da eher mit dem stoischen Prinzip. Man muss das, was die Götter einem geben, mit Gleichmut ertragen und Kraft und Weiterentwicklung der eigenen Persönlichkeit daraus zu entwickeln."

    Chrysogona legte den Kopf schief. Einen mühsamen Weg scheute sie nicht, doch ahnte sie wohl kaum, dass Flavius Gracchus dabei an einen Ritt dachte. Sie hörte weiterhin genau zu. Der Gedanke, dass man ein Grundstück in einiger Entfernung zu den Grabmälern am Straßenrand brauchte, leuchtete ein. Sie beugte sich über die Karte, die der Pontifex ausbreitete. Auch für sie kam eine Zwangsenteignung nicht in Frage. Man wollte eine gute Nachbarschaft. Der Platz hinter der Rennbahn sah gut aus. Doch wenn das Gewässer dort ein Seitenarm oder Kanal war, dann war es vermutlich um die Qualität des Wassers nicht gut bestellt. Die Fließgeschwindigkeit war essentiell. Stehende oder beinahe stehende Gewässer waren gänzlich ungeeignet. Das hatte sie schließlich vorgelesen.


    "Nun, werter Pontifex, eine Insel wäre natürlich hervorragend, erst recht, wenn die Brücke im Etat berücksichtigt wurde." Die Medica grinste zurück. "Wir müssen nur unbedingt die Qualität des Wassers prüfen. Es darf kein stehendes Gewässer sein. Das Wasser muss klar und kühl sein, frisch in der Qualität und nicht mückenverseucht. Bei einem Seitenarm oder Altwasser habe ich da meine Bedenken. Ich denke, es bleibt nichts, wir werden es uns ansehen müssen!"

    Chrysogona hörte zu. Sie wollte antworten, als die Sprache auf ihre Lust am Heilen kam, doch der Iulier kam ihr zuvor. Dann wiederum antwortete der Philosoph. Die Diskrepanz zwischen dem Wunsch der Epikuräer Lust zu empfinden, wie sie selbst es bei der Ausübung ihres Berufes tat und der Berufspolitiker ebenfalls, und der Vorstellung dass ein Schmerz Lust bewirken sollte, wollte ihr nochimmer nicht logisch erscheinen. Sie stemmte also erneut die Hände in die Seiten und zog auf ihrer Stirn ernsthafte senkrechte Falten.
    "Ich sehe sehr wohl die Sinnhaftigkeit darin, die uns verbleibende Lebenszeit lust- und sinnvoll zu nutzen ohne unerfüllbare Begierden oder Verlangen heraufzubeschwören. Das bestätigt sich in der Medizin auch wieder und wieder. Wer maßvoll lebt - und damit meine ich nicht im Überfluss, sondern maßvoll und lustvoll zugleich - der wird auch am Ende seines Lebens, dauere es kurz oder lang, mit ruhigem Herzen zurückblicken. Doch der 4. Lehrsatz wird meine Zustimmung nicht finden. Wir haben längst über ihn diskutiert, ich bin mir der Lehrmeinung durchaus bewusst, doch teile ich sie keinesfalls."


    Die Medica war gespannt, ob der Lehrer ihre festgefahrene Meinung noch einmal ins Wanken bringen konnte.