Silana konnte an feinen Mikroausdrücken, jenen kleinen Nuancen im Angesicht erkennen, dass Flavius Graccus Minor nachdachte, ein wenig in sich ging, um seine Gedanken zu suchen. Es gefiel ihr. Nicht, weil er besonders schön war oder besonders auffällig, sondern weil er sichtbar nachdachte. Eine seltene Eigenschaft, die durch diese Seltenheit umso wertvoller wurde. Lag nicht auch etwas Sanftheit und Gutmütigkeit in seinem Gesicht? Ihm fehlte jene Boshaftigkeit, jener Machthunger und der Hang zur eigenen Größe, den sie bei anderen Männern seines Standes beobachtet hatte. Er schien von zarter Welt zu sein, die nicht ganz zu ihm passen wollte. Vielleicht reizte die junge Frau gerade das, weil er anders war.
Sassia sprach von Vergänglichkeit. Und ja in der Vergänglichkeit lag eine besondere Offenbarung. Etwas, was das Leben auszeichnete. Menschen hatten keine Ewigkeit, sondern nur den Moment. Ihre gesamte Welt war schrecklich fragil und hatte kaum eine Erlösung zu bieten. Alles, was war und sein würde, würde enden. Doch war diese Zerbrechlichkeit doch von Wichtigkeit. Ohne Ende hätte der einzelne Moment in der Ewigkeit keine Bedeutung. Jeder Moment war, weil er verstrich, wertvoll. Jedes Lächeln, jedes Wort und auch jeder Atemzug war voller Leben. Einzigartigkeit lag in jedem Mensch und jedem Geschöpf. Silana reizte die theoretische Betrachtung der Vergänglichkeit. Sie war unausweichlich. Vielleicht mochte Silana deshalb das Chaos und die Unvernunft? Die junge Frau lebte im Rahmen ihrer Möglichkeiten freier als andere. Wenn auch mit ihrer eigenen Vernunft. Schönheit lag für sie in allen Dingen, selbst im Tod. Für Silana war selbst im Ende ein Schatz verborgen. Natürlich schätzte sie, wie viele junge Römerinnen, wertvolle Tücher, Schmuck und besondere Pasten und Schönheitshelfer aber doch war dort mehr in ihr als ein bloßer Moment. Silana verstand Ewigkeit; eine der Seelen, die Präsenz hatten und nicht im Moment verschwanden. Auch sie gingen irgendwann und verschwanden aber für ihre Mitmenschen waren sie sichtbar. Silana wurde gesehen und sah andere. In ihrer Gänze. Manchmal durchschaute sie sogar ihre Mitmenschen, da sie diese Gabe der Empathie hatte. "Ja, Vergänglichkeit," antwortete sie ihrer Schwester mit vorsichtiger Zunge, die sich dezent im Mund bei beiden Worten bewegte und dann verspielt an die Schneidezähne stieß, wo sie kurz verharrte und für Minor sichtbar wurde, als sie breit lächelnd zwischen Sassia und Minor mit dem Blick wanderte, um beide im Jetzt ihrer Betrachtung zu verbinden.
Er sagte etwas, was sie ebenfalls sagen konnte und grinste nun mit geschloßenen Lippen, weniger aufreizend und weniger auffallend als davor. Es war ein feines Lächeln für eine feine Seele, wie Minor eine war. Silana begann ihn zu mögen. "Brauchen wir denn eine Aufgabe und sind wir nicht einfach, weil wir sind, Flavius?" - fragte sie dann mit traurig-schönen Augen. "Wenn die Götter oder das Schicksal uns erlaubt haben, mit der Fähigkeit zur Fehlbarkeit, zur Trägheit und auch zum unfähigen Vergehen, warum ist das Leben dann eine Aufgabe," hinterfragte sie nun doch, trotzdessen, dass auch sie das Danach fürchtete; nicht im Sinne einer abstrusen Dramatik aber auch Silana wusste nicht, welcher Maßstab für eine Nachwelt galt. Mitunter gab es Götter oder übernatürliche Richter, die ein Urteil fällten oder die Ahnen, welche einem Geleit boten. "Ich stimme dir zu, dass in jeglicher Betrachtung, Leben nicht einfach ist," meinte sie dann, fuhr sich nachdenklich über die Stirn, um ihre Haare zu finden. Mit ihrer Linken umgriff sie einen Strang, zog diesen zur Seite und verweilte mit ihrer Hand dann für einen Atemzug in dieser Pose, bis die Hand wieder auf ihren Schoß sank.
Der Flavius riss sie aus der Stille ihrer Gedanken als die Partikel seiner Handbewegung, welche in die Tüte griff, den Moment durchbrachen. Gleichsam setzte ein Applaus ein, als der Kaiser sein Urteil gefasst hatte. Silana war etwas aus der Zeit gefallen, blickte sich unsicher um und wollte nun auch in den Beutel greifen, als ihre Hand, den Unterarm des Flavius Gracchus Minor berührte, fast zärtlich vorbei strich und sie war überrascht, wie weich und arbeitsfremd seine Haut war. "Verzeihung," sagte sie sehr leise und blickte beschämt tuend herab. Er kaute bereits und hatte die Berührung wohl übersehen. Silana atmete erleichtert aus, da eine solche Geste auch missverstanden werden konnte. Ihr Herz hatte einen Sprung aus Schreck gemacht und konnte nun erleichtert zurückfallen. In weiser Voraussicht hatte Cara bereits einen Sklaven mit Leckereien (Wein und Nüsse) zum Platz von Silana und Sassia geschickt. Insofern war Patroklos Aufgabe verspätet in Mission gegeben. Der Sklave stellte den Wein, mitsamt Tablett, und Nüssen auf die Lehne zwischen den Sitzreihen, so dass man geübt zugreifen konnte. "Ich denke, dass unsere Sklaven deutlich schneller waren," scherzte sie mit einem frechen Biss auf ihre Unterlippe, um auch sich selbst wieder in den Moment zu schicken. Sein verbindliches Lächeln erfreute sie. Sie nickte ihm höflich zu.